Eine unglückliche Liebe: Wilhelm Waiblinger und Philippine Heim

Dichtergenie (fast 17) verliebt sich in die Tochter des Winnender Diakons (19) - und sie erwidert seine Gefühle. Briefe, Gedichte, Küsse, heimliches Händchenhalten. Dann: Ein falscher Freund verrät das Paar. Dennoch setzen sie die Beziehung fort. Dann wird der Druck zu groß. Der Rest ist Literaturgeschichte.

Der Autor

Friedrich Wilhelm Waiblinger ist heute nur dem Fachpublikum bekannt - trotz des umfassend kommentierten Werks, trotz seiner Bekanntschaft mit den Stuttgarter Vertretern der Schwäbischen Dichterschule, trotz seiner intensiv geführten Tagebücher, trotz seines frühen Tods in Rom.

Waiblinger – in der Familie heißt er Fritz – kommt am 21.11.1804 in Heilbronn zur Welt. Der Vater Johann Christian Waiblinger ist Kammersekretär in Heilbronn, die Mutter Christiane Luise Kohler seine zweite Ehefrau. In Stuttgart besucht er das Gymnasium, besucht das Hoftheater, liest mit rauschhafter Begeisterung. Früh beginnt Waiblinger zu schreiben, zu zeichnen, zu deklamieren. Als der Vater 1817 nach Reutlingen versetzt wird, zieht die Familie mit. 1819 wird er Inzipient am Oberamtsgericht Urach und lernt Friedrich Eser kennen, mit dem er zeitlebens befreundet ist.

1820 besucht Waiblinger die 9. Klasse des Oberen Gymnasiums Stuttgart und wohnt bei seinem Vetter Christoph Friedrich Waiblinger. Dort verliebt er sich unglücklich in Philippine Heim und verarbeitet sein Leid in dem Trauerspiel Liebe und Haß. 1823 ist Waiblinger Student am Tübinger Stift. Trotz des Zuspruchs bedeutender Zeitgenossen – etwa Gustav Schwabs – bleibt der Durchbruch aus.

Waiblinger zieht 1826 nach Italien, wo er im Kreis der Deutschrömer verkehrt. In den folgenden Jahren bereist er das südliche Italien, ehe er heftige Fieberanfälle und einen Blutssturz erleidet. Waiblinger stirbt bettlägerig am 17.1. in Rom. Beigesetzt wird er in der Nähe der Cestius-Pyramide auf dem evangelischen Friedhof.

Bild: Wilhelm Waiblinger: Selbstbildnis. Federzeichnung aus der Tübinger Zeit, 19,3x18,6cm, Marbach, SNM

Fritz und Philippine: Eine Liebesgeschichte

Der Beginn einer Liebesgeschichte

Philippine Heim war 1801 in Hochdorf als Tochter des Pfarrers Georg Michael Heim (1752-1831) zur Welt gekommen. Sie war siebzehn, als Ihr Vater nach Winnenden zog, wo sein Sohn Friedrich Jakob Wilhelm Heim (1789-1850) Diakon war. Die ältere Schwester Christiane Regine hatte am 18.8.1818 Wilhelm Waiblingers Vetter Christoph Friedrich Waiblinger geheiratet – bei dieser Gelegenheit dürften sich Wilhelm Waiblinger und Philippine Heim erstmals begegnet sein. Philippine, die seit 1821 zur Unterstützung ihrer Schwester nach Stuttgart kam, traf dort – im Kleinen Graben 378, der heutigen Eberhardstr. 11, auf Wilhelm Waiblinger. Diesen hatte sein Vetter dort untergebracht – Stuttgart bietet Waiblinger, wie er seinem Vater nach Reutlingen schreibt, „wohlfeil Logis“ (Waiblinger, 5, I, S. 22). Mitte Mai schreibt er seinem älteren Freund Eser in Hürbel, er habe ein Mädchen kennengelernt, „ein Mädchen, im Grunde wenig den Regeln der Kunst entsprechend, aber voll Anmut, Offenheit, Liebe, Wehmut, vielleicht Schwermut, eine Seele, wie keine, und Züge aus dem Himmel schweben um Aug‘ und Mund“ (Waiblinger, 5, I, S. 62). Die beiden verbringen viel Zeit miteinander, oft in Gesellschaft mit anderen, manchmal allein. Philippine ist 19, Fritz keine 17. Mit Philippine reist er zu seinen Eltern nach Reutlingen, wo ihn sein Vater wegen des lockeren Umgangs mit Philippine zurechtweist. Auch in Stuttgart findet er leicht Zugang zu dem Mädchen.

Krise und Offenbarung

Am Rande des Volksfests hat sich Waiblinger am 28.9.1821 mit Philippine verabredet und wundert sich nicht wenig über den Umstand, als sie nur ein „höchst gleichgültiges Wort“ für ihn findet (Waiblinger I, S. 231). Ein älterer Konkurrent tritt auf den Plan, ein „gewisser Dietrich […], ein abgeschmackter, läppischer Junge“, der auf die Vierzig zugeht. Philippine amüsiert sich offenbar köstlich, Fritz flieht ins Theater. Das Abendessen ist frostig. Am folgenden Tag ist Fritz mit Philippine allein, deklamiert Gedichte, spielt mit einem Messer – und versetzt sich einen Stich. In einem unbeobachteten Augenblick gesteht er Philippine seine Liebe. Inzwischen ist der Wundarzt gerufen worden und verordnet dem Verwundeten Bettruhe, die ihm Philippine mit geheimen Küssen versüßt. Mit Dietrich, der hartnäckig um Philippine wirbt, überwirft sich Waiblinger. Am 3.10. kehrt die Geliebte unvermittelt zu ihren Eltern nach Winnenden zurück: „Sie schaute noch einmal herauf und nickte freundlich und die Kutsche rollte fort“ (Waiblinger, 1, Z. 243).

Verraten und verloren

Waiblinger besucht nun die Eltern in Reutlingen, schläft in jenem Bett, in dem auch Philippine übernachtet hat, träumt von ihr. Am 14.10. jedoch kommt ein ominöses Paket aus Stuttgart an, Absender ist der Vetter. Während der Vater sich mit einem Bündel Rechnungen befasst, bemerkt Waiblinger einen Brief an den Vater und nimmt ihn an sich. Die Eltern sind bestürzt, es wird klar, dass Waiblinger ausziehen muss. Es stellt sich heraus: Philippine war zu ihren Eltern geschickt worden, um sie von Waiblinger zu trennen. Am 16.10. übergibt Fritz seinem „Oncle“, dem er sich anvertraut hat, einen Brief an Philippine mit. Am 19.10. steht er endlich selbst vor dem Haus des Stuttgarter Vetters, sein Herz pocht. Der Empfang ist äußerst unterkühlt. Der Vetter fordert Waiblinger brüsk auf, am kommenden Tag auszuziehen. Es stellt sich heraus, dass Dietrich, der Konkurrent, und ein ungenannter Freund Waiblinger das Verhältnis offengelegt haben. Am 27.10. zieht Waiblinger aus. Es wird ein tränenreicher Abschied. Am 2.11. hört Waiblinger, Dietrich wolle sein ehemaliges Zimmer beziehen. Philippine droht ihrerseits mit dem Auszug, Dietrichs Einzug unterbleibt. Unter schwierigen Umständen sehen sich Fritz und Philippine, tauschen geheime Briefe aus, auch Waiblingers Zimmerwirtin Amalie möchte vermitteln. Am 22.12. trifft ein Brief von Philippine ein. Aus Reutlingen hat der Vater geschrieben und alle Schuld Philippine zugeschoben. Die junge Frau hat keine Wahl: „Werfen Sie alles, jeden Buchstaben von mir ins Meer der Vergessenheit, verbrennen sie auch diese letzten Zeilen“. Am 15.1.1822 sendet Philippine den Ring zurück – nennt sich, ganz förmlich, Waiblingers „Freundin“ und kehrt zum Sie zurück.

Besteht Hoffnung?

Erst im Februar tauscht das einstige Liebespaar wieder Briefe aus. Waiblinger bietet sogar an, sie aus Winnenden abzuholen. Am 26.3. jedoch erreicht ihn ein Brief aus Winnenden. Ihr Bruder, schreibt Philippine, habe ihr den Briefwechsel untersagt. Sie verstehe die Beweggründe beider Familien: „Lebe wohl und glücklich. Tausendmal grüßt Dich / Deine aufrichtige Freundin / Philippine.“ Am 15. Mai 1822 empfängt der Onkel den beunruhigten Fritz mit längeren Vorreden, ehe er nachts um zehn einen Brief Philippines überreicht. Die Geliebte verspricht, sie werde „W. welchen ich zu grüßen bitte […] freundlich gesinnt bleiben“ (Waiblinger, 1, S. 595). Was das heißt, ist dem Adressaten klar – und der Brief lodert im Kaminfeuer. Waiblinger ist tief getroffen. Dennoch kann er sich nicht lösen, er leidet, träumt von Philippine, bittet zuletzt ihre Schwester Nanette um ein Treffen. Diese gewährt ihm ihre Hilfe. Am 29.5. schreibt sie: „Wollen Sie Philippine treffen, so kommen Sie noch heute oder morgen. Bis Freitag geht sie wieder nach Winnenden.“ Am 30.5. ist Waiblinger bei Nanette und wartet, bis Philippine das Zimmer betritt. Zunächst scheint sie finster und abweisend. Fritz küsst sie – und erfährt, dass sie gezwungen wurde, den Kontakt abzubrechen. Beide küssen einander erneut: „Ein langer, krampfhaft-heißer Kuß. Noch einmal, fragte sie, mich zart und liebreich anblickend: ‚willst du mein Freund bleiben?‘ – ‚Ja‘ war meine Antwort. Viermal waren wir einander, und viermal glühten wieder unsere Lippen zusammen. Ich sag keine Träne in ihrem Auge“ (Waiblinger, I, S. 616). Schon am kommenden Tag sieht Fritz Philippine noch einmal und überreicht ihr ein Gipsporträt, das Anklang findet. Im Treppenhaus bewundert Waiblinger Philippines Schönheit, vergleicht sie mit Athene und Minerva, findet aber „durchaus nichts Venusartiges in ihrem Gesicht“ (Waiblinger, I, S. 617). Fritz bleibt verbissen beim Du, Philippine siezt ihn weiterhin. Am 14.6. schreibt Waiblinger: „Ich ginge gewiß nach Winnenden, und sollt‘ ich sie auch nicht einmal sehen!“.

Das Ende

Einen Monat darauf trifft er sie erneut. Noch immer will er sie, noch immer siezt sie ihn. Waiblinger küsst Philippine und läuft davon, nachdem er Philippine gebeten hat, sich von seinem Freund Wagner zeichnen zu lassen. Sie sitzt Wagner Modell, bis dieser die beiden wie besprochen alleinlässt. Waiblinger wird drängender und macht ihr Vorhaltungen, was ihren Gehorsam gegenüber ihren Verwandten abgeht: „Wie sollte das Mädchen sich aufgeschwungen fühlen, die ein Jüngling liebt, der so strebt wie ich, der Beruf zum Dichter fühlt, wie sollte ihr Herz dem Augenblick entgegenschlagen, wo sein erstes Trauerspiel aufgeführt wird!“. Derweil gerät Philippine immer mehr unter Druck. Waiblinger bedrängt sie, das Mädchen möchte ihre Verwandten nicht hintergehen. Einen Brief von Waiblinger nimmt sie deshalb nicht an, Waiblinger zerreißt ihn demonstrativ, es kommt erneut zu Küssen. Am 20.7. erhält Waiblinger einen Brief von Nanette, in dem Philippine um Schonung bittet und auf „fast für ihre Ehre nachteilige Gerüchte“ (Waiblinger, I, S. 691) hinweist. Sie sei krank und könne Waiblinger nicht sehen. Als Wagner am Abend erzählt, er habe gehört, Philippine sei „dumm“, kommt es zum Zerwürfnis. Inzwischen sind Fritz Zweifel gekommen. Philippine sei nicht entschieden genug, könne seinem „Dichterschwung nicht folgen“ (Waiblinger, I, S. 695). Aber auch Philippine hat genug: „So eben kommt die Magd und bringt ein Billet, worin Nanette mir anzeigt, daß die Schwester nicht mehr sitzen könne, denn sie habe erstens keine Lust mehr dazu und dann werde sie morgen wahrscheinlich abreisen. Es sei alles Sorge für ihren guten Ruf. Glück auf die Reise!“. Am 22.7. ist es aus, endgültig. Waiblinger schreibt: „Ich habe nun ganz auf sie resigniert“ (Waiblinger, I, S. 694). Fritz geht nach Tübingen, kündigt Philippine seinen Aufbruch nach Italien an. Sie bedankt sich, höflich, mit Verzögerung. Nach einem Treffen im Juli 1823 weiß Waiblinger, dass er sie nicht mehr liebt. Über Philippines weiteres Schicksal ist wenig bekannt. 1830 heiratet sie, fast dreißig, den Pfarrer Christian Gottlieb Römer, Diakon von Hermaringen, mit dem sie noch vier Kinder hat. Zu Beginn dieses Jahres, am 17. Januar, war Wilhelm Waiblinger in Rom verstorben.

Text

[An Philippine Heim]
 
Hier, nimm geliebtes Mädchen,
Hier nimm die kleine Gabe,
Nimm meiner Züge Bild.
Wohl sind sie abgerissen
Von kunstbeflißner Hand,
Mit Sorgfalt, Fleiß und Treue,
Gefällig, hübsch und reinlich
Dem wahren, wohlbekannten Original entnommen.
 
Doch Eines muß ich tadeln,
Der Künstler konntle leider
Das nicht im Bild bezeichnen,
Worin ich einzig lebe,
Die zarte, treue Liebe,
Zu Dir, du holder Engel.
Zum Schlusse meine Wünsche!
 
O mög’ es dir gelingen,
Wohin Du gehst und wandelst.
Drück es zum Mund, Geliebte,
Bedeck’s mit tausend Küssen,
Welch’ Glück, o welche Wonne!
Von Dir geküßt zu werden.
Steck es in Deinen Busen,
Darf ich ja selbst so wenig,
So wenig an ihm ruhen.

Bild: Wilhelm Waiblinger: Selbstbild mit Philippine Heim. Bleistiftzeichnung, Tagebuch, 13.-14.12.1822, Marbach, SNM

Kontext und Kommentar

Nach dem durch Philippines Bruder erzwungenen Ende der Beziehung tauschen Waiblinger und Philippine weiterhin Briefe aus, Waiblinger beteuert seine Liebe, schickt Gedichte nach Winnenden. Eines dieser Gedichte ist An Philippine, verfasst zwischen dem 7. und dem 11. Februar 1822 in Reutlingen, Urach oder Stuttgart; es schließt Waiblingers Antwortschreiben ab, mit dem Waiblinger einen Brief Philippines erwidert und vielfach seine unverbrüchliche Liebe beteuert.

Alle drei Strophen bestehen mit der Ausnahme des überlangen achten Verses aus jambischen Dreihebern und sind ungereimt. Zwei Oktette fassen ein Sextett ein: Im ersten Oktett (Z. 1-8) kommentiert das lyrische Ich das beigelegte Porträt und betont dabei den Indexcharakter des Bildes. Es ist dem „wahren, wohlbekannten Original entnommen“, der Sprecher ist damit in seinen Spuren selbst anwesend (Z. 8). Das Sextett (Z. 9-14) verrät die Grenzen des Künstlers: Die Gefühle Waiblingers, seine „zarte, treue Liebe“ (Z. 13), kann er nicht darstellen. Das abschließende Oktett formuliert die Wünsche des Sprechers: Die Leserin soll das erwähnte Bildnis „mit tausend Küssen“ bedecken, wo immer sie auch hingeht.

Das Gedicht ist eines der letzten, das Waiblinger an Philippine richtet. Im Grunde besteht kaum mehr Hoffnung, dass die Beziehung wiederaufleben kann. Es steht stellvertretend für die über hundert Gedichte, die Waiblinger im Lauf der Beziehung für die Pfarrerstochter aus Winnenden schreibt.

Bibliographie

  • Waiblinger, Wilhelm: Werke und Briefe. Textkritische und kommentierte Ausgabe in fünf Bänden, hrsg. v. Hans Königert. Bd. 5.1: Sämtliche Briefe. Text. Stuttgart: Cotta, Veröffentlichungen der Deutschen Schillergesellschaft, Bd. 38, S. 132
  • Frey, Karl: Wilhelm Waiblinger: Sein Leben und seine Werke. Zürich, 1903
  • Behne, Hermann: Wilhelm Waiblinger: Ein Lebensbild. Weimar: Böhlau, 1948
  • Waiblinger, Wilhelm: Mein flüchtiges Glück: Tagebücher, Briefe, Prosa. Berlin: Aufbau-Taschenbuch-Verl., 1991
  • Härtling, Peter: Waiblingers Augen: Roman. Darmstadt: Luchterhand, 1987