Hab dich nicht so!

Die Schüler arbeiten, Papier raschelt, dann und wann schaut einer aus dem Fenster. Vom obersten Stockwerk sieht man hinüber. Dahin, wo im Frühjahr Blutbuche und Trauerweide im kühlen Wind stehen, wo winters die Krähen aufsteigen. Manchmal, morgens, wenn ich durch den Schlosspark gehe, hallen Schreie herüber aus der Geschlossenen, kehlig, heiser, verzweifelt, wie aus einer anderen Welt. Aus der Welt Calibans und Lenaus. Ich gehe rasch vorüber, der Zaun ist aus Stahl.

Die Psychiatrie, sage ich manchmal, war die beste Vorbereitung auf die Schule. Ich sage das dann scherzhaft. Die Schule, das Irrenhaus. Meistens lacht jemand. Aber mir ist dann nicht zum Lachen. Ich habe die Trinker erlebt, die Verfallenden, die Gespaltenen, die Geschlagenen, die Verwahrlosten. Ich habe die sauber gewischten Gänge gesehen und erinnere mich an den Geruch von übervollen Aschenbechern. Ich habe gesehen, wie einer fixiert wurde. Das sehnige Ankämpfen, die Nervosität der Pfleger.

Denen, die euch sagen: Habt euch nicht so! kann ich nicht viel entgegnen. Vielleicht wäre das anders, wenn ich selbst Rezepte hätte. Süße Medizin für bittere Tage. Die Bedrückten kann man für Sekunden erleichtern, aber: für Sekunden. Vielleicht rettet ein Lächeln ja Leben? Vielleicht schützt euch die Gewissheit, dass ihr nicht allein seid? Es kann jeden treffen. Und jeden Dritten trifft es tatsächlich. Eure Jugend schützt nicht.

Ich kann und will euch nicht davon überzeugen, dass die Depression schön sei. Nichts an ihr ist schön. Die Depression ist keine dunkle Schönheit, die euch lächelnd in den Schatten winkt. Man muss sie bekämpfen, sich stellen. Aber ihr seid nicht weniger wert, weil ihr manchmal trauriger seid als tieftraurig. Ja, Depression tötet. Aber Melancholie macht schöpferisch, wenn man mit ihr ringt. Dass ihr seid, wer ihr seid, hat einen Wert. Der klare Blick für das Bedeutende. Mitgefühl. Die Melancholie, das ist: der verschwimmende Goldrand der Sonne auf einem grundlosen See. Lasst euch nicht runterziehen. Ihr müsst nicht springen. Ihr könnt am Ufer sitzen. Ihr könnt den Wind spüren, der über die höchsten und dunkelsten Hügelkämme streicht und Veränderung bringt. Irgendwo ist Liebe, irgendwo ist Hoffnung. Aber sicher nicht in der schlammigen Tiefe.

Und die Angst. Schulangst, Prüfungsangst, Leistungsangst. Nicht jene freundliche Angst, die euch Schauer über den Rücken jagt, kein nervöser Kitzel. Ich meine die namenlose Angst, die euch mit starrem Blick ins Genick schaut, die euch mit kalten Klauen ans Herz fasst, um es aus dem Tritt zu bringen. Die Angst, die euch die Beine wegschlägt, bis ihr, kauernd, das Gesicht in der Wölbung eurer Arme festhaltet. Die Angst, die bei Vorträgen zwischen den unruhiger werdenden Freunden sitzt, feist, grinsend, seelenruhig. Die sich wie ein Eisberg über euch auftürmt, wenn ihr Mathe schreibt oder Englisch oder Latein, die eure Brust so einengt, dass euch die Luft wegbleibt. Aber ihr könnt euch eurer Angst stellen. Sie ansprechen. Ihr Stück für Stück euer Leben wieder aus den Klauen reißen. Langsam! Dieser Kampf ist zu gewinnen, er kostet aber Kraft.

Und noch einmal: Ihr seid nicht allein. Es mag sie geben, jene, die psychische Krankheiten mit Haltungsschäden verwechseln. Hört ihnen nicht zu. Schluss mit Scham, mit Schuldgefühl! Ihr habt ein Recht auf Hilfe – auch, wenn eure Eltern erkranken. Öffnet euch. Sprecht mit jemandem, der Sachverstand hat. Geht zum Arzt. Zum Jugendpsychologen. Die Angst vor Diagnosen ist begründet, zu leicht man es sich oft, wenn man weiß, wie man’s nennt. Andererseits kann euch die Diagnose Freiraum verschaffen, euch mit euch selbst auseinanderzusetzen. In der Atemlosigkeit des Alltags werdet ihr vielleicht nicht dazu kommen. Ihr könnt lernen, mit euch umzugehen. Die Depression zu lichten und die Angst zu bändigen. Therapie ist möglich. Manchmal braucht es Medikamente.

Eure größte Schwäche ist vielleicht eure größte Stärke, euer großer Beitrag. Daher: Seid schwach! Vielleicht versäumt ihr etwas, wenn ihr immerzu stark sein wollt. Ihr wollt euch nichts anmerken lassen? Vielleicht sind es eure Tränen, die einen anderen zu Vernunft bringen. Vielleicht ist es euer Mut, der andere ermutigt, ihre Ängste zu bezwingen. Vielleicht ist es die Tatsache, dass ihr euch Hilfe holt, die anderen Menschen das Leben rettet. Vielleicht müsst ihr erklären, dass niemand an eurem Zustand schuld ist – auch ihr selbst nicht.

Ich habe wirklich etwas für die Schule gelernt, als Zivildienstleistender in der Psychiatrie. Ich habe gelernt, dass die Wände zwischen Wahnsinn und Normalität dünn sind. Ich habe gelernt, dass wir nicht zynisch werden dürfen. Ich habe gelernt, was Mitgefühl und Nähe bewirken können. Ich habe gelernt, vor mir selbst zurückzutreten. Ich habe Vertrauen gelernt. Unter euren Lehrern gibt es viele, denen ihr vertrauen könnt. Viele von ihnen haben Ähnliches durchgemacht.

Burn-out, Ritzen, Magersucht, Alkoholismus – auch Lehrer werden krank. Kaum jeder zehnte Lehrer unterrichtet, bis er 65 ist. Viele Lehrer geben ihren Beruf schon Jahre vorher auf – mindestens ein Drittel davon sind psychisch krank. Viele, die nicht ausscheiden, sind klammheimlich depressiv, lassen sich nichts anmerken, wollen nicht nicht fürsorglich in Watte gepackt werden bis zum Ersticken. Man muss belastbar sein. Der Schulalltag kann bedrücken, belasten bis zum Zusammenbruch - Zeitnot, emotionale Überforderung, das Gefühl, nie fertig zu werden, nie zu genügen. Weißt du denn, wie es deinem Lehrer, deiner Lehrerin gerade geht? Interessiert es dich? Hast du nachgefragt? Auch Lehrer hören: Hab dich nicht so! Stell dich nicht so an! 

Wer sich öffnet, bekommt Unterstützung. Wer sich verschließt, schließt sich ein. Deshalb – fangt rechtzeitig an. Ich bin kein Psychiater, aber: liebe Schüler, liebe Lehrer! Bekümmert euch nicht, sondern kümmert euch. Kümmert euch um einander, aber kümmert euch auch um euch selbst. Lasst euch Zeit zur Erholung. Schlaft viel. Schaltet das Handy aus. Legt euch in die Sonne. Und: Eine herzliche Umarmung am Tag ist niemals eine zu viel.

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