Warum ich Lehrer geworden bin

Wie sind Sie eigentlich Lehrer geworden? Das ist eine sehr persönliche Frage – und eine Frage, die schon deshalb nicht besonders leicht zu beantworten ist, weil sie auf die Frage hinausführt, warum ich immer noch Lehrer bin. Es wäre natürlich schön, wenn ich sagen könnte: Ich wollte immer schon Lehrer werden. Ich habe einfach gerne Recht. Meine Eltern waren Lehrer. Ich war jung, ich brauchte das Geld. So einfach ist es leider nicht. Wenn ich heute lese, Deutschland wähle die Falschen aus fürs Lehramt, dann denke ich bei mir: Stimmt! Mich haben sie auch genommen.

Ich kann also weder Heldengeschichten erzählen, noch ist mein Werdegang in irgendeiner Form beispielhaft. Dennoch: Ein fürstliches Gehalt, Promi-Faktor beim Abischerz, vierzehn Wochen Ferien – dafür wird man nicht Lehrer. Dass Lehrer mittags frei hätten, ist ohnehin ein Mythos. Ich kann nicht einmal sagen, ich hätte gerne recht. Irrtümer haben mich oft mehr fasziniert als Kenntnisse. Es befriedigt mich nicht, mehr zu wissen als meine Schüler. Macht ist langweilig. Für mich wird es interessant, wo die Schüler mir etwas beibringen, schonungslos mein Halbwissen offenlegen. Lerndrang ist sicher nicht das schlechteste Motiv dafür, Lehrer zu werden. So wie akute Geldnot. Dass ich die Welt verändern wollte – oder meine Schüler, das kann ich nicht von mir sagen.

Wer Gymnasiallehrer werden will, studiert an der Regel zwei oder drei Fächer. Fachdidaktik, Psychologie und Pädagogik kommen dazu. An das erste Staatsexamen schließt ein Referendariat an, dass seinerseits mit einem Staatsexamen endet. Auf dem Weg dahin besteht man einige Lehrproben und Prüfungen, der Schulleiter hat auch mitzureden. Wer Glück und eine gute Leistungsziffer hat, wird einer Schule zugewiesen. Wer Beamter wird, ist es zunächst auf Widerruf – und dann auf Lebenszeit: Studienrat, Oberstudienrat, Studiendirektor, Oberstudiendirektor. Danach kann man im Grunde nur noch Kultusminister werden. Oder aussteigen.

Aussteigen will ich nicht. Aber manchmal kommt mir mein Lehrerdasein nach fast zwanzig Jahren immer noch vor wie Hochstapelei. Als sei mir ein Privileg gewährt worden, ein ungerechtfertigter Zufall, im Grunde sollte ich jetzt Bademeister sein oder Schreiner oder Werkzeugmacher. Eine Lehrerdynastie setze ich jedenfalls nicht fort. Ich bin der erste Akademiker meiner Herkunftsfamilie. Ich bin nicht stolz darauf, habe meine Herkunft aber auch nicht als Nachteil empfunden. Im Gegenteil: Ich hatte die Freiheit, es niemandem nachtun zu müssen. Ich musste auch kein Erbe ausschlagen, um Lehrer werden zu dürfen. 

Ich möchte nicht zu viel verraten, fühle mich aber zum Dank verpflichtet. Meinen Großeltern, meinen Eltern, meinen Onkeln und Tanten. Im Haus meines Onkels Brecht, Kraus und Lichtenberg kennenzulernen; lesen zu dürfen, was immer mir in die Hände fiel, Reader’s Digest oder Superman, am Rand einer Ringermatte oder auf den gewärmten Fliesen des Hallenbads; das Glück, als Person anerkannt zu sein, trotz meines Versagens in all dem, was im Reich des Sports und des Handwerks von Bedeutung war. Ich wurde mit freundschaftlicher Skepsis geerdet. In der Welt meiner Kindheit waren Lehrer Respektpersonen, die man zwar mit innigem Behagen übertölpeln durfte, die aber doch Studierte blieben, ferne, exotische Geschöpfe.

Als Schüler erschien es mir befremdlich, geradezu widersinnig, Lehrer zu werden. Ich hätte mir alles Mögliche vorstellen können: In Khaki den Regenwald durchstreifen, umflattert von Schmetterlingen; als Künstler die Bewegung des Windes in gleitende Linien bannen; Vorlesungen halten, bewundert von jungen Akademikern. So ist es nicht gekommen. Es ist gut so. Ich wollte mich nicht verbiegen, nicht spezialisieren, nicht abhärmen.

Vielleicht sollte ich meinen ehemaligen Lehrern Abbitte leisten für meinen Hochmut; mein Blickwinkel war begrenzt. Ich wusste nichts und alles besser; von dem, was ein Lehrer so alles tut und erleidet, hatte ich höchstens eine blasse Ahnung. Als Jugendlicher interessiert man sich nicht für die Nöte und Freuden von Vierzigjährigen. Curricula und Konferenzen sind bloßer Schall, Lehrer bleiben Problem und Projektionsfläche.

Immer wieder lese ich, das Vorbild eines geliebten Lehrers habe Schüler dazu bewegt, ebenfalls Lehrer zu werden. Bei mir war das nicht so. Meine eigenen Lehrer sind zwar nicht völlig spurlos an mir vorübergegangen, meinem alten Deutschlehrer verdanke ich beispielsweise die Unart, meine Schüler manchmal „Meister“ zu nennen, besonders prägend waren diese Erfahrungen jedoch nicht. Das liegt vermutlich weniger an meinen Lehrern als an meinen Vorbehalten, meinem Mangel an Einfühlung und einem gewissen Freiheitsgeist. Natürlich bin ich dankbar für manche Schonung und manche Anregung, natürlich hätte ich auf manche Kränkung gern verzichtet - ich kann aber nicht behaupten, dass meine Lehrer meine Berufswahl bestimmt haben, und auch nicht, dass sie mich abgeschreckt hätten. Keiner war mir so nah, dass er mich erreicht hätte.

An der Universität war ich eingeschrieben für Germanistik, Anglistik und Kunstgeschichte. Das erschien mir folgerichtig, ich wusste auch nicht, was ich sonst hätte tun sollen. Die Klassiker hatte ich früh kennengelernt und gerne gelesen, englische Gedichte übersetzt; als Künstler war mir das Handwerkliche zuwider, dagegen hatte ich im Rahmen eines Schulprojekts Senioren in Kunstgeschichte unterrichtet. Examensfragen erschienen mir dagegen müßig. Unter einem Magisterabschluss konnte ich mir kaum etwas vorstellen, das Staatsexamen war mir genauso fremd. Den Mangel an sozialem Kapital ergänzte mein völliges Desinteresse an Selbstorganisation.

Ich weiß heute nicht mehr, warum ich mir überlegt hatte, zusätzlich zum Magister Artium einen Doppelabschluss zu machen, das Lehramt hinzuzunehmen. Ich vermute, es war das Gefühl, Sicherheit erwerben zu müssen, ohne, dass ich gewusst hätte, wofür. Kein Wunder, im Schwabenländle erstrebt man bleibende Werte. Allerdings hatte man inzwischen die Prüfungsordnung geändert, ich musste ein sechswöchiges Schulpraktikum absolvieren. Mein ehemaliges Gymnasium war unbegreiflicherweise bereit, mich aufzunehmen. Meine gehässigen Artikel in der Schülerzeitung waren offenbar längst vergessen. Es war sonderbar, zum ersten Mal die Schwelle zum Lehrerzimmer zu überschreiten.

Ich könnte nicht sagen, dass ich in irgendeiner Form geeignet war, die hoffnungsvolle Jugend durch Raues zu den Sternen zu tragen. Im Grunde hätte man mir abraten müssen. Weder war ich leutselig genug, noch kam ich mir durchsetzungsfähig und zielstrebig vor. Ich konnte weder singen noch Gitarre spielen (was mir damals unverzichtbar schien) und drückte mich viel zu kompliziert aus. Ich habe niemals Nachhilfe gegeben, war niemals Jungscharleiter oder gar Jugendtrainer. Meine Wirklichkeit war näher an der Florentiner Renaissance als an einem Winnender Klassenzimmer. Aber – man lernt dazu.

Endlich hatte ich das unbestimmte Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun – einen gesellschaftlich bedeutsamen Beitrag zu leisten, gefordert zu sein. Ich muss lächeln, wenn ich das heute niederschreibe. Wie oft und wie sehr muss man sich als Lehrer gegen Sinnfragen wehren? Aber so war es damals – im Gegensatz zum Unibetrieb waren die Fragen in der Schule echt und drängend. Kein stummes Publikum, sondern Gesichter und Namen! Schüler! Ahnungslose, abwesende, kluge, freche, charmante, faule, fleißige. Ich war nichts Besonderes – niemand kannte mich, niemand wollte mich fördern, den Schülern war zunächst sowieso egal, was ich tat, ich, austauschbare Figur im Lehrerkarussell. Gerade deshalb hat es mich gereizt. Einen Doppelabschluss brauchte ich nicht mehr.

Ob ich wirklich etwas bewegt habe im Leben meiner ehemaligen Schüler – ich weiß es nicht. Aber eines ist sicher: Wer nicht einmal den Anspruch hat, Herzen und Hirne zu bewegen, der sollte nicht Lehrer werden. Andererseits sollte man nie der falschen Magie filmischer Lehrerbilder erliegen. Wir mögen noch so auratisch sein und witzig und kreativ, letztlich bleibt es doch Schule. Die Spielräume sind zwar weiter, als man annimmt, aber eng genug, um Größenwahn und Genie gleichermaßen zu verhindern. Dasselbe gilt für die Sehnsucht nach Nähe und Anerkennung, die manche ins Lehramt treibt. Schulterklopfen ist selten, schulische Bindungen sind oft genug recht flach, und wo sie stark sind, wird’s gefährlich.

Wenn ich heute zurückblicke auf mein langsames Hinüberdriften ins Lehramt, dann scheint mir die Entwicklung richtig. Natürlich hadere ich manchmal mit meinem Schicksal, Oberstufenklausuren und Unterstufenstreit können durchaus unerfreulich sein. Aber wer bin ich, mich zu beschweren? Im Gegenteil, ich bin dankbar, dass ich lernen darf, dass mir nie langweilig ist. Meine Arbeit ist nicht vergebens. Ich darf das Leben in seiner Fülle erleben. Ich weiß, wir blühen nur einen Tag, ehe der Eishauch der Ewigkeit uns anhaucht, im kosmischen Gefüge sind wir unwesentlich – aber dennoch erscheint mir wichtig, dass ich wurde, was ich bin: Lehrer.