Schule und soziale Herkunft

„Wo ist hier der Pool?“ Fassungslos steht mein Sechstklässler auf dem Burghof. Unter Schullandheim hatte er sich offenkundig etwas anderes vorgestellt als altes Gemäuer und Matschepampe zum Mittagessen. Was war er gewohnt? Malediven? Vormittags Tennis, Fünf-Gänge-Menu, nachmittags Golf, dann Bad im Indischen Ozean? Doch die Verhältnisse, die sind nicht so. Im Vergleich zu den Schweizer Traumpalästen der Elite ist eine staatliche Schule ein solides, aber weitgehend glanzloses Unterfangen. Geradezu skandalös egalitär. Ein Bollwerk gegen die Erosion unseres sozialen Friedens. Die Tochter des Geschäftsführers sitzt neben dem Sohn der Supermarktfrau, dreißig Millionen Haben neben viertausend Euro Soll. Alle haben die gleichen Chancen. Zumindest theoretisch.

Praktisch kann sich A.s Familie nicht einmal Malle leisten, während B.s Familie dreimal im Jahr nach Südafrika fliegt. Praktisch wohnen die einen auf 60 Quadratmetern im innerstädtischen Altbau an der Durchgangsstraße, während die anderen über den Kauf eines Ferienhauses in Florida nachdenken. B. spielt Querflöte, macht Aikido und forscht im Science Lab. Theoretisch sind auch A.s Eltern sehr dafür, dass A. etwas aus sich macht. Praktisch ist aber niemand da, wenn A. nach Hause kommt. B. ist bilingual aufgewachsen und lernt zum Spaß Chinesisch. Theoretisch spricht auch in A.s Familie jeder eine Fremdsprache. Praktisch ist das allerdings Deutsch. Beiden Kindern geht es gut. Ihre Lebensverhältnisse unterscheiden sich jedoch beträchtlich. Für diese Feststellung muss man weder Kommunist sein noch Soziologe.

Kaum irgendwo sonst in Europa ist die Ungleichheit so groß und so schmerzlich wie in Deutschland. Das reichste Zehntel verfügt über 60% des bundesdeutschen Vermögens, das ärmste Zehntel hat weniger als nichts. Über eine Million Kinder lebt in relativer Armut. Das wirkt sich auch auf die Schule aus. Als Lehrer möchte man wohlhabende Sozialromantiker manchmal fragen: Wisst ihr eigentlich, was es heißt, seine Kinder mit zwei Jobs kaum über die Runden zu bekommen? Wisst ihr, was es bedeutet, wenn Kinder alleingelassen werden, weil Eltern schichten, damit am Monatsende die Miete bezahlt ist? Wisst ihr, wie sich soziale Wohltaten für die anfühlen, die darauf angewiesen sind? Schärfer formuliert: Ist es ein Zeichen sozialer Einfühlung, wenn ihr Freunde eurer Kinder im Porsche zum Fußballtraining fahrt? Sind 100-Euro-Präsente zum Kindergeburtstag wirklich cool? Müssen eure Kinder tatsächlich zum Golfkurs auf die Seychellen? Wäre es nicht angebracht, dass sie lernen, was Privilegien sind? Wozu Eigentum verpflichtet?

Auch ohne gönnerhafte Gunstbeweise und indiskret vorgeführten Luxus ist Armut schon schwer genug. Armut wird öfter krank und schneller alt. Armut ist oft alleinerziehend und chronisch krank. Armut zahlt höhere Mieten. Armut hat Migrationshintergrund. Armut hat Angst vor dem Monatsende. Armut wird häufiger depressiv. Armut ist jedenfalls nicht, was Sozialpornos uns dafür weismachen wollen. Und die Ursachen für Armut sind vielfältiger als die Ursachen des Wohlstands. Trennungen, psychische Erkrankungen, Arbeitsplatzverlust – arm ist man rasch. Unsichtbar schleicht sich Armut ins Leben, lähmt, beschämt, behindert. Sie zwingt uns ins Aus, isoliert uns, macht uns unsichtbar. Dennoch gibt es genug Experten für Armut, die genau wissen, wie Armut aussieht – in Ecuador oder in Malaysia. Von der Armut in deutschen Banlieues und Problemvierteln in Göttingen oder Duisburg wissen sie nichts. Wer selber reich ist, verweist gerne darauf, wie gut es den Armen hierzulande doch gehe.

In der Schule verbirgt sich die Armut. Sichtbar wird sie manchmal an deinen Schuhen, an deinem Namen, an deinen Zähnen, selten am Haar. Man sieht dir nicht an, ob deine Mutter für Mindestlohn putzt oder dein Vater Hartz IV bezieht. Wie du wohnst, wissen nur die, die ähnlich wohnen. Armut spielt weder Geige noch Klavier, und ganz sicher hat Armut auch keine Reitbeteiligung. Armut spielt weder Tennis noch Golf, im Bioladen kauft Armut auch dann nicht ein, wenn sie es sich ausnahmsweise leisten könnte. Armut braucht kein Auto und geht gerne zu Fuß. Und wenn du abends nicht ausgehst, in den Club, kann das natürlich auch andere Gründe haben. Dass Armut trotzdem mit auf Klassenfahrt darf, ist kein herrschaftlicher Gnadenakt und keine barmherzige Tat. Soziale Leistungen für Kinder und Jugendliche sind die beschämte Verbeugung eines nachlässigen Staats vor dem Versprechen der Menschenwürde. Die Europäische Menschenrechtskonvention schließt die Diskriminierung von weniger Vermögenden aus.

Wer aufsteigen will, kann sich vieles abschauen, den Habitus der Wohlhabenden kopieren. Wie zerlegt man Fisch? Was trägt man zum Sakko? Wie delegiert man? Was sagt man so über Bach? Es kostet jedoch Zeit und Mühe, Distinktionskriterien zu durchschauen und zu unterlaufen. Was bleibt, sind eine dauernde Erschöpfung und das leise Gefühl, unmerkliche Fehler zu machen, versehentlich die Schuld seiner Herkunft zu offenbaren. Was auch bleibt, ist eine gewisse Härte im Einstecken – und manchmal Zielstrebigkeit. Es ist falsch, ins verlogene Mantra der Habenden einzustimmen: Ich habe, weil ich bin! Oft stimmt das Gegenteil: Du bist, weil du hast! Vermögen ist nur ausnahmsweise die Folge harter Arbeit, und Armut hat nur selten mit Unvermögen zu tun.

Sozialneid kann durchaus ein produktives Gefühl sein, zumindest für den, der wenig hat. Die Diffamierung der Neidischen ist oft genug nur verkappte Abwehr berechtigter Ansprüche – sie ermöglicht erst die selbstgefällige Großzügigkeit der Almosengeber und individualisiert ein soziales Problem. Neid ist keine Sünde, sondern ein Problem. Solange er sich auf die Symbole des Wohlstands richtet, nicht auf seine Ursachen, lähmt und behindert er euch, verstrickt euch in die unselige Spirale von Wollen und Haben. Konsum macht es nicht besser. Er bereichert die Reichen und hält euch arm. Es bleibt das Gefühl, dass ihr an eurem Ungenügen schuld seid. Ihr seid aber nicht schuld daran, dass ihr arm seid. Schämt euch nicht! Neid ist ein Stachel in eurem Herzen, der euch daran erinnert, dass die Verhältnisse nicht so sind, wie sie sein könnten. Und jetzt?

Jugendliche in Armut brauchen kein fürsorgliches Mitleid. Sie brauchen Chancen. Das Wesentliche ist dabei: Chancen erkennen. Stipendien. Förderprogramme. Jobs. Gelegenheiten. Wenn Eltern keine Studienfreunde haben und die Großeltern kein Unternehmen führen, sind wir Lehrer gefragt. Wir sind aufgefordert, betroffenen Jugendlichen neben dem unerschütterlichen Glauben an ihre Selbstwirksamkeit auch soziales Kapital zu vermitteln – Wissen über das Wie des sozialen Aufstiegs. Bildung! Sprache! Respekt!

Wir Lehrer können die Verhältnisse nicht ändern – aber unsere Sichtweise. Armut ist kein Stigma, sondern eine Aufforderung zum Handeln. Kinder aus armen Verhältnissen brauchen weder Trost noch Mitleid. Sie brauchen unseren Rat und unseren Respekt – und die Ermutigung, ihre Träume nicht voreilig aufzugeben. 

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