Lehrer und Politik

„Können Sie uns ihre politische Meinung verraten – ihre echte?“

Ihr wollt wissen, was ich wähle? Ich bin Vegetarier, finde Vielfalt erfreulich. Das Weltklima liegt mir am Herzen. Ich ärgere mich über Bordsteinrotzer, gehe manchmal in die Kirche, finde Tradition wichtig. Ich bin für Menschenrechte, Datenschutz, Toleranz. Großkonzernen sollte man auf die Finger schauen, Solidarität ist wichtig, Privatisierung kein Allheilmittel. Erratet meine Partei!

Allerdings wisst ihr damit noch nicht viel. Meine politische Meinung stammt aus dem Urgrund aller echten Überzeugungen: Sie ist anerzogen, angelesen, abgeschaut, überdacht und angeeignet. Ich erhebe nicht den Anspruch, in jedem Punkt recht zu haben. Es gibt jedoch Fragen, die sich jeder stellen sollte, der sich mit einer Meinung schmückt. Ist wirklich wahr, was man mir weismacht? Was wäre, wenn ich mich irre? Warum glaube ich, was ich glaube?

Als Beamter diene ich, so will es das Beamtenstatusgesetz, „dem ganzen Volk, nicht einer Partei“. Ob ich meine Aufgaben „unparteiisch und gerecht“ erfülle, können meine Schüler besser beurteilen. Das Grundgesetz ist mir jedenfalls lieb und teuer. „Mäßigung und Zurückhaltung“ fallen mir vor allem beim Korrigieren schwer. Heute steht niemand mit einer Fahnenstange hinter mir, um mir das Programm einer Partei einzubläuen. Abweichende Meinungen werden geduldet, manchmal begrüßt. Wie ihr wisst, war das nicht immer so. Auch im Führerstaat und in der DDR gab es Abweichler unter den Lehrern – sie wurden rasch auf Linie gebracht oder ins Lager.

Anders als damals darf es in einem Lehrerkollegium politische Gegensätze geben: Kuschelgrüne Kunstpädagogen liegen im Dauerclinch mit leistungsliberalen Lateinern, sozialdemokratische Deutsch-Kumpel streiten mit wertkonservativen Geodreieck-Caballeros. In einem lebendigen Lehrerzimmer herrscht Streit – lebendiger, produktiver Streit: Rechtsaußen gegen linke Flügel, Traumtänzer gegen Erbsenzähler, Geizhälse gegen Gierschlünde. Kleingeister und Großmäuler gibt es überall, und sie haben ihre Berechtigung. Was der eine aus Solidarität begrüßt, kann der andere aus Nächstenliebe gut und billig finden. Im Großen und Ganzen aber macht man aber seine Arbeit.

Dass Politiker in diese Arbeit eingreifen, lässt sich nicht verhindern. Baut sich nicht jeder gerne die Schule, die er gerne hätte? Musealer Bildungstempel oder Qualifikationsfabrik, Kaserne oder Kino; die Baupläne sind vielfältig. Meistens grummelt man und führt aus, was der hochmögende Architekt im Kultusministerium ersinnt. Dass wir aber selbst Politiker sind, allesamt, das vergessen wir beim Fluchen auf die Obrigkeit. Hatten wir nicht die Wahl? Und: Welches bedenkliche Beispiel geben wir euch mit unserem Fatalismus?

Immer wieder hört man, Schülern werde eine bestimmte Ideologie eingeimpft. Im Grunde ist das Bild der Impfung kein ganz so verkehrtes Bild dafür, wie Schule Politik machen sollte. Wir setzen euch einem didaktisch abgeschwächten Erreger aus – und wecken eure Widerstandskräfte. Reagieren müsst ihr selbst. Zwar gibt bis jetzt kaum Hoffnung, dass die Keime von Hass, Homophobie und Heuchelei aussterben wie die die Pocken – bei Militarismus und Kadavergehorsam ist man aber schon weit.

Dürfen Lehrer ihre Meinung sagen? Einerseits: Ja, dürfen sie. Sie müssen sogar! Im Schulgesetz Baden-Württembergs wird gefordert, dass wir unsere Schüler „auf die Wahrnehmung ihrer verfassungsmäßigen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten vorzubereiten und die dazu notwendige Urteils- und Entscheidungsfähigkeit zu vermitteln.“ Das steht in Artikel 1, Absatz 2.

Andererseits: Sollten Lehrer sich politisch offenbaren? Eine Reihe umständlich formulierter Paragraphen später steht im Unterholz der Behördenprosa der paradox anmutende Paragraph 38: „Lehrkräfte dürfen in der Schule keine politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnliche äußeren Bekundungen abgeben, die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülern und Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden zu gefährden oder zu stören.“ Wie soll das gehen – seine Meinung sagen, aber nicht zu sehr?

Im Beutelsbacher Konsens hat man 1976 versucht, dieses Problem zu lösen. Wir dürfen euch nicht einschüchtern und überlisten (Überwältigungsverbot), euch nicht einseitig informieren (Kontroversitätsgebot) und euch vor allem das Recht zu eigenen Folgerungen lassen (Schülerorientierung). Eigentlich ist klar: Lehrer dürfen auch politisch allerhand.

Die Schere im Kopf schnappt dennoch immer wieder zu: Stört es den Schulfrieden, wenn ich darauf hinweise, dass 98% aller Klimaforscher dem Programm der Schlumpfenpartei widersprechen? Was sagen die Fundi-Eltern, wenn ich die Siebtklässler eine Liebesgeschichte mit zwei männlichen Protagonisten schreiben lasse? Bin ich weltanschaulich neutral, wenn ich im Unterricht Meldungen auf Politically Incorrect oder Sputnik TV zerlegen lasse? Wie soll ich neutral bleiben, wenn eine Partei zur Beobachtung der Lehrkräfte aufruft – und letztlich dazu, mich anzuschwärzen? Wie oft vergisst man, sich zuzurufen: Ich diene dem Staat, ich bin nicht erpressbar!

Sicher, es ist schön, wenn eure Lehrer Netflix schauen oder wissen, welches Hemd man wie in welche Hose stopft. Aber unwesentlich ist es doch. Wenn eure Lehrer euch beibringen, mit dem Strom zu schwimmen, werdet ihr gemeinsam irgendwann im Netz zappeln. Lehrer sollten euch bereit machen zu staatsbürgerlichem Mut – zum Mut, Widerstand zu leisten, zum Mut, das Richtige zu tun, wenn das Falsche nur allzu bequem ist. Lehrer sollten euch Abstand und Übersicht lehren – das Heraustreten aus der Selbstverständlichkeit.

Es ist nur allzu bequem, sich hinter Fachgrenzen wegzuducken, wenn ringsum die Weltpolitik brodelt – die Gemeinschaftskundler werden es schon richten. Politik ist aber keine Sache des Politikunterrichts allein. Die Frage, ob ein bestimmter Bahnhof gebaut wird oder nicht, berührt alle Fächer. Was sagt der Künstler zu jenem Gebäude, das man dazu abreißt? Was gewinnt der Historiker, wenn Ruine und Baugrube neue Erinnerungen schaffen? Was sind dem Biologen Käfer wert oder Eidechsen, wenn Bagger ihre Habitate ausheben? Wie berechnet der Mathematiker die aufflutenden oder verebbenden Ströme der Reisenden? Was sagt der Geograph zum Verhältnis von Mineralwasser und Anhydritgestein? Erinnert eure Lehrer daran, dass Sie nicht nur Fachvertreter sind, sondern immer auch Staatsbürger!

Als Lehrer freut es mich, wenn ihr euch streitet – politisch streitet: über Antisemitismus, Frauenquoten oder Feinstaub. Im Widerspruch lebt die Demokratie. Wo Gleichsinn herrscht, herrscht bald Gleichmut. Gleichgültigkeit! Und Gleichgültigkeit können wir uns nicht leisten. Deswegen sollten wir euch an eure Wirksamkeit erinnern. Wir sollten endlich beginnen, die Wahl zum Klassensprecher ernst zu nehmen – und ihr solltet die SMV nicht als Partyverein begreifen. Es ist nicht egal, wenn eure Mitschüler gegen Juden und Schwule hetzen. Es ist nicht egal, ob Lehrer auf Flüchtlinge schimpfen oder den Holocaust relativieren. Es ist nicht egal, wenn Schulleiter gegen das Grundgesetz verstoßen.

Danken wir deshalb, dass es sie gibt: Schülerinnen und Schüler, die sich nicht entmutigen lassen von Dumpfheit und Desinteresse – die Populisten auslachen und Sexisten in ihre Schranken weisen. Die das tun, was manchem gestandenen Politiker so schwerfällt. Danken wir Fünftklässlern, die Bäume pflanzen oder faire Schokolade verkaufen. Danken wir Zehntklässlern, die Flüchtlingskindern Respekt schenken oder bissige Briefe verschicken gegen Hunger, Ignoranz und Waffenhandel. Danken wir allen, die für ihre Rechte einstehen, die Rechte anderer schützen und ihre Pflicht tun.

Die Demokratie, die alte Griechin, Mutter Europas, hat ihre Fehler und Gebrechen. Sie ist langsam, etwas verschwätzt und oft ziemlich saumselig. Seien wir geduldig! Fallen wir nicht herein auf die schneidigen Rattenfänger, Richtkanoniere und Gefängniswärter. „Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen“, hat Churchill einmal gesagt. Vergessen wir nicht seinen Zusatz: „ausgenommen alle anderen.“

Zum Weiterlesen