Parabeln: Zur Übersicht

Zur Begrüßung: Eine Parabel

Blinde Schiffer sind wir, auf einem nächtlichen Ozean mit gewaltigen Strömungen, uferlos. Zuweilen scheint es, als glitte in der Ferne ein anderes Boot vorbei. Wir rufen den fernen Schiffern unsere Namen in den Wind, hören ein undeutliches Rufen, wähnen, es sei ein Gegengruß. Es ist aber ein Ruf in den Nebel, wie unsrer. Ob wir steuern oder nicht, was machte es aus? Wir halten unsere blinden Augen in den Wind, blähen die Nüstern, ob da ein Duft ist von Hafen und Heide, lauschen nach dem Klatschen von Ankern, aber die Strömung treibt uns weiter, in morschem Nachen, auf scharfzahnige Riffe zu.

Zum Begriff der Parabel

  • Den Begriff der Parabel gab es außerdem in der antiken Astronomie (als Bezeichnung für die Sternkonjunktion), in der Geometrie ist der Begriff bis heute üblich (für den Kegelschnitt). Das griechische parabállein bedeutet so viel wie nebeneinanderstellen, vergleichen (para = neben, ballein = werfen).
  • Angewandt wurde er in der Septuaginta, der griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel, auf den Begriff maschal, der in sehr allgemeiner Form sprachliche Vergleiche aller Art, insbesondere aber die Gleichnisse Jesu.

Merkmale von Parabeln

Woran erkenne ich eine Parabel?

  • Die Parabel verweist direkt oder indirekt auf eine zweite Bedeutungsebene.
  • Im Gegensatz zur Fabel wird die Lehre nicht in eine von Sprechrollen dominierte Szene eingekleidet.
  • Die Handlung der Parabel irritiert den Leser. Ein Moment des Befremdens im Text weckt die Aufmerksamkeit des Lesers für Signale, die eine zweite Deutungsebene nahelegen.
  • Der Erzähler tritt meist hinter dem Geschehen zurück, kann seiner Funktion nach aber als umfassend eingeweihter Lehrer verstanden werden. Gelegentlich wird eine zweite Erzählerfigur (ein Rabbi, ein Weiser, ein Narr) eingeführt, die aus bestimmtem Anlass die Parabel erzählt.
  • Dadurch wird der Hörer (oder Leser) zum Schüler, den es nach Einsicht verlangt.
  • Es handelt sich um als erfunden ausgewiesene Geschichte.
  • Der Text ist kurz, die Handlung formelhaft verknappt und wenig detailreich. Im Vordergrund steht die Argumentation, die Unterweisung des Lesers.
  • Erzählt wird eine beispielhafte Begebenheit, die auf einen Sachverhalt von allgemeiner Bedeutung verweist.
  • Die Unterweisung durch Parabeln zielt nicht auf eine Lehre, die übernommen und angewendet werden muss, sondern auf das Einnehmen einer bestimmten Haltung zur Welt.
  • Die moderne Parabel formuliert keine eindeutige Lehre, sondern wirft Fragen auf oder weckt Zweifel und führt zum Nachdenken. Sie liefert nicht die Lösung eines Problems, sondern ist Anstoß zum Selbstdenken und fordert zu einer eigenständigen Lösung auf.
  • Parabeln stellen das Psychologische zurück und verzichten auf die ausführliche Darstellung der inneren Handlung.
  • Die Handlungsträger („ein Mann“), die Handlungszeit („einst“) und der Schauplatz („ein Dorf“) bleiben häufig unbestimmt.
  • Das Tempus der Parabel ist meist das Präteritum, oft begleitet durch ein zeitloses, generalisierendes Präsens, das Hinweise zur Deutung identifiziert.
  • Traditionelle Parabeln sind meist in sich geschlossen, das Ende bietet abschließende Hinweise zur empfohlenen Auslegungsrichtung.
  • Die Parabel soll zu einer Erkenntnis anleiten und vermeidet eine direkte Konfrontation mit dem zu Belehrenden, indem sie ihm zu einer eigenständigen Deutung verhilft.

Die Protagonisten der Parabel

  • Oft folgt die Benennung der Figuren ihrer hervorstechenden Eigenschaft: In Pestalozzis Der Zyklopenschutz ist es ein „Schwächling“, in Eine Parabel von Matthias Claudius ein „Edler“.
  • Häufig werden auch bestimmte Haltungen oder Einstellungen personifiziert, etwa in Lessings Die eherne Bildsäule, wo der personifizierte „Neid“ auftritt.
  • Am häufigsten verweist die Parabel in ihren Protagonisten auf ihre allgemeine Bedeutung und beschränkt sich auf Angaben wie „ein Mensch“ oder „ein Mann“. Auch Brechts „Keuner“ ist eine auf das Menschliche zurückgeführte Figur: Er ist ein „Keiner“, ein Niemand, der stellvertretend für alle handelt.
  • Auch dort, wo „Kaiser“ auftreten oder „Alexander“, zielt die Parabel ins Allgemeine: Herrscherfiguren werden nicht als historische Einzelpersönlichkeit behandelt, sondern als Repräsentanten der Menschheit.
  • Ein anderer Fall liegt vor, wenn „Weise“ auftreten, wenn von „Zarathustra“, „Kung-Tsee“ oder „dem Baalschem“ die Rede ist. Sie verweisen auf die rhetorische Gesamtanlage der Parabel als Lehrtext.

Zum  Umgang mit Parabeln

  • Es ist nicht ganz leicht, Parabeln von Kurzgeschichten zu unterscheiden. Kurzgeschichten betonen jedoch im Vergleich zur Parabel die innere Entwicklung und Perspektive des Protagonisten, weniger die Vorgänge selbst. Der Erzähler ist in der Kurzgeschichte oft personal und gibt im Gegensatz zur Parabel keine Hinweise auf eine mögliche Deutung des Texts. Während die Welt der Kurzgeschichte greifbar, sinnlich erfahrbar, wirklich, dagegen wirkt sie in der Parabel oft traumhaft, schematisch und unwahrscheinlich. Während Kurzgeschichten den Leser auf der Gefühlsebene ansprechen und in ihre Welt verwickeln („So ist es hier")“, bleibt er in der Parabel auf Distanz - die Welt, die er wahrnimmt, ist hypothetisch („Stell dir vor, so wäre es an einem solchen Ort“). Die Welt der Kurzgeschichte ist dazu da, dass der Protagonist in ihr wirkt und Reaktionen erfährt; die Welt der Parabel ist dazu da, etwas zu beweisen.
  • Achte auf die Entstehungszeit! Parabeln, die nach der Jahrhundertwende (ab 1900) entstehen, lassen im Vergleich zur traditionellen Parabel meist offen, welche Deutung angemessen ist. Das ist jedoch nicht immer der Fall - Brechts Parabeln beispielsweise sind oft ironische Lehrparabeln mit klarer, für den Leser bestimmbarer Deutung.
  • Parabeln können im Titel durchaus die Bezeichnung „Fabel“ enthalten (Kafkas Kleine Fabel, Kleists Fabel ohne Moral). Die Behandlung von Fabeln ist im Abitur aber nahezu ausgeschlossen, die Gattung der Fabel erfordert in der Regel kaum Deutungsarbeit, zumal die Lehre oft explizit dargelegt wird.

Zur Geschichte der Parabel

494 v. u. Z.

Angeblich beendet Agrippa Menenius Lanatus als römischer Konsul einen Plebejer-Aufstand, indem er den Plebejern die Parabel vom Magen und den Gliedern vorträgt.

60 u. Z.

Im Lukasevangelium wird das Gleichnis vom verlorenen Schaf (Lk 15,4–7)c entworfen, außerdem das Gleichnis vom verlorenen Groschen (Lk 15,8–10) und das Gleichnis vom verlorenen Sohn.

1605

In The Advancement of Learning betont Francis Bacon den Vorrang der parabolischen vor der erzählenden und dramatischen Dichtung.

1650

In der Vorrede zu seiner Parabelsammlung Nathan und Jotham unterstreicht Philipp Harsdörffer, die Parabel handle vom Möglichen und sei von der Fabel zu unterscheiden, die auch Unmögliches zum Gegenstand mache. Die barocke Theorie (Harsdörffer, Neumark, Morhof) und die Theoretiker der Aufklärung (Gottsched, Breitinger) vertreten die Ansicht, der zentrale Unterschied zur Tierfabel sei, dass die Parabel sich auf das Mögliche oder Wahrscheinliche beschränke.

1721

Charles de Secondat, Baron de Montesquieu, zeigt in seiner Parabel von den Troglodyten aus den Lettres Persanes, wohin grenzenloser Egoismus ein Staatswesen führt.

1759

In der Abhandlung über die Fabel sieht Gotthold Ephraim Lessing die Tierfabel als überlegene poetische Form und betont ihre Bildhaftigkeit. Zur Parabelliteratur trägt er die Ringparabel bei, eine traditionellen Lehrparabel, die Nathan dazu dient, Sultan Saladin zu bessern und zu religiöser Toleranz zu bewegen.

1783

Johann Joachim von Eschenburg setzt die Parabel ebenfalls gegenüber der Fabel zurück. In seinem Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften betont er, dass die Fabel „durch die in ihr handelnden Naturwesen die moralischen Gesetze der Schöpfung“ zeige, die Parabel dagegen kaum überzeuge, da sie lediglich „Wahrscheinlichkeit für die Anwendung jenes Falls auf einen ähnlichen“ gebe. --- In Friedrich Schillers Die Verschwörung des Fiesco zu Genua verhindert Fiesco mit der Parabel vom Tierstaat eine Demokratie, wie sie die Genueser Handwerker anstreben.

1793

Den Charakter des „Emblematischen“ schreibt Johann Gottfried Herder der Parabel zu. Er versteht in seinem Geleitwort Über die vorstehenden Parabeln und die nachfolgenden Gespräche die Parabel als „Gleichnisrede“ [kursiv bei Herder], sie diene „mehr zu Einkleidung und Verhüllung einer Lehre, als zu ihrer Enthüllung“.

1796

In seinen Roman Siebenkäs integriert Jean Paul die Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei, eine Parabel auf den Atheismus.

1808

Mit der Fabel ohne Moral schreibt Heinrich von Kleist eine Vorform der modernen Parabel, die Zweifel am Gelingen jeglicher Verständigung und am Finden eines abschließenden Sinns formuliert.

1812

Johann Wolfgang von Goethe bespricht in Wilhelm Meisters Lehrjahre die Parabel als Verkörperung eines Streitfalls: Sie biete keine Meinung über Recht und Unrecht, sondern sei das „Rechte oder Unrechte unwidersprechlich selbst“.

1820

Georg Wilhelm Hegel definiert in seinen Vorlesungen über die Ästhetik die Parabel als eine literarische Textsorte, die „Begebenheiten aus dem Kreise des gewöhnlichen Lebens aufnimmt, denen sie aber eine höhere und allgemeinere Bedeutung mit dem Zwecke unterlegt, diese Bedeutung durch jenen, für sich betrachtet, alltäglichen Vorfall verständlich und anschaulich zu machen“.

1849

In seinen Aesthetischen Studien stellt Franz Grillparzer heraus, die Parabel wirke gerade dadurch, dass sie die im begrifflichen Denken zur Gewohnheit erstarrte Denken neu belebe: „Die Gewalt des bildlichen, also uneigentlichen Ausdrucks in der Poesie kommt daher, daß wir bei dem eigentlichen Ausdruck schon längst gewohnt sind, nichts mehr zu denken oder vorzustellen. Das Bild und, weiter fortgesetzt, das Gleichnis nötigt uns aber aus dieser stumpfen Gewohnheit heraus“.

1850

Der französische Ökonom Frédéric Bastiat führt in der Parabel vom zerbrochenen Fenster aus, dass die Zerstörung von Gemeingütern nicht zu einem höheren Gesamtnutzen einer Gesellschaft fördert.

1851

Arthur Schopenhauers Die Stachelschweine wird in den Parerga und Paralipomena veröffentlicht. Die bekannte Parabel behandelt den rechten Abstand im gesellschaftlichen Miteinander.

1857

Friedrich Theodor Vischer legt in seiner Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen am Beispiel von Lessings Ringparabel dar, dass der Lehrzweck seiner Parabel „kein Geheimnis“ sei: „[D]er Parabelerzähler gesteht ganz offen, daß das Bild bloß Mittel ist“.

1886

Die Unterscheidung der „Sachhälfte“ von der „Bildhälfte“ geht auf den Theologen Adolf Jülicher und seine Arbeit Die Gleichnisreden Jesu zurück.

1908

In der Sammlung Die Legende des Baalschem greift Martin Buber auf Israsel ben Elieser und die chassidische Parabeltradition zurück.

1915

Mit der sogenannten „Türhüterparabel“ (Vor dem Gesetz) veröffentlicht Franz Kafka eine der wichtigsten Parabeln der Moderne: Sie thematisiert sowohl die die Unabschließbarkeit des Deutens als auch die Unmöglichkeit, den Weg zum Sinn zu finden.

1931

In der Textsammlung Beim Bau der Chinesischen Mauer erscheint Kafkas 1922 verfasste Meta-Parabel Von den Gleichnissen. Sie befasst sich mit der Unauflöslichkeit von Parabeln und der Klage, sie seien kaum anzuwenden.

1946

Max Frisch hält in seinen Tagebüchern mit der Parabel Der andorranische Jude den Kern seines parabolischen Stücks Andorra fest, das die Wurzeln des Antisemitismus ergründet.

1948

Im Band Kalendergeschichten veröffentlicht Bertolt Brecht einige seiner Keuner-Geschichten, die im Stil der klassischen Lehrparabel Kritik an den menschlichen Verhältnissen üben.

1949

In der Parabel Das Lächeln der Sphinx von Ingeborg Bachmann, die am 25.9. in der Wiener Tageszeitung veröffentlicht wird, werden die Grenzen der Rationalität ausgelotet.

1952

Friedrich Beißner benennt Kafkas kurze Erzählungen in Der Erzähler Franz Kafka erstmals als Parabeln.

1953

Werner Heldmann sieht in Die Parabel und die parabolischen Erzählformen bei Kafka als wesentliches Merkmal der (modernen) Parabel in ihrer „paradoxen Rätselhaftigkeit“: Das Rätseln, nicht die Lösung, ist das Entscheidende.

1959

Im Gegensatz zur Lehrparabel mit ihrer rhetorischen Zielsetzung entwickelt Norbert Miller in seinem Aufsatz Moderne Parabel? für die Parabel nach Kafka den Begriff „Vorgangsparabel“, die keine Interpretationshinweise mehr liefert.

1971

Werner Brettschneider grenzt in Die Moderne deutsche Parabel die geschlossene Parabel, die aus einer Zeit geordneter Wahrheiten stamme, von der offenen Parabel der Moderne ab.

1978

Posthum erscheinen in Ernst Blochs Spuren auch einige Parabeln, unter anderem Der Schwarze und Fall ins Jetzt.

Literatur

  • Schwake, Timotheus: Parabeln und Gleichniserzählungen. Braunschweig: Schöningh Westermann, 2017 (EinFach Deutsch)
  • Erlemann, Kurt; Irmgard Nickel-Bacon; Anika Loose: Gleichnisse - Fabeln - Parabeln: Exegetische, literaturtheoretische und religionspädagogische Zugänge. UTB, 2013
  • Billen, Josef (Hg.): Deutsche Parabeln. Stuttgart: Reclam, 2007
  • Poser, Therese (Hg.): Parabeln: Für die Sekundarstufe. Stuttgart: Reclam, 2003
  • Matzkowski, Bernd: Wie interpretiere ich Fabeln, Parabeln und Kurzgeschichten? Grundlagen der Analyse und Interpretation einzelner Textsorten und Gattungen mit Analyseraster. Hollfeld: Bange, 2003
  • Dithmar, Reinhard (Hg.): Texte zur Theorie der Fabeln, Parabeln und Gleichnisse. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag, 1982
  • Dithmar, Reinhard (Hg.): Fabeln, Parabeln und Gleichnisse: Beispiele didaktischer Literatur. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag, 1970