Erörtern von Meinungstexten

Vorwort

Diese vereinfachte Übersicht ergänzt die umfassende Darstellung zur Texterörterung an anderem Ort. Im Vordergrund stehen der Aufbau einer Erörterung von Meinungstexten und Hinweise zur Schreibtechnik.

Textgrundlage

Textgrundlage: Harald Martenstein: Klopapier und Neues von der Pisa-Front (10.12.2019), in: Der Tagesspiegel [Kolumne, Ressort: Politik]

URL: Martenstein, Tagesspiegel - Ausgangstext

Zum Autor: Harald Martenstein (* 9. September 1953 in Mainz) ist ein deutscher Journalist und Autor

Zeiteinteilung

Setzt man drei Zeitstunden Schreibzeit voraus, solltest du dir die Schreibzeit wie folgt einteilen (5 Minuten Puffer):

  1. Erschließung: 20 min
  2. Schreibplan (Konzept): 30 min
  3. Einleitung: 10 min
  4. Strukturierte Inhaltsangabe: 30 min
  5. Hauptteil: Erörterung: 60 min
  6. Schluss: 15 min
  7. Korrektur: 10 min

Überschrift

Die Überschrift sollte die Textsorte, den Autor und den Titel des Ausgangstexts nennen.

Erörterung zu einem Sachtext: Harald Martensteins „Klopapier und Neues von der Pisa-Front“

Einleitung

In der Einleitung führst du zum Thema hin, dessen Wichtigkeit du nachweist. Das kannst du tun, indem du zeigst,

  • dass das Thema umstritten ist;
  • dass es besonders aktuell ist;
  • dass Entscheidungen, die damit verbunden sind, schwerwiegende Folgen haben;
  • dass es besonders viele Menschen betrifft;
  • dass es mit vielen anderen Lebensbereichen in Zusammenhang steht.

Außerdem solltest du (zumindest indirekt) die Leitfrage formulieren. Leitfragen sind immer Entscheidungsfrage. Dazu musst du deutlich machen, wie der Autor zur Leitfrage steht: Was ist die Position des Verfassers, der Verfasserin? Was will er, will sie?

Weil Meinungstexte zwei Stoßrichtungen haben können, können die Fragen sich auf zwei Dimensionen beziehen:

  • Behauptungen: Hat der Autor oder die Autorin recht? Stimmen die Aussagen?
  • Forderungen: Sollte man tun, was der Autor fordert?

Ferner musst du deiner Leserschaft erläutern, mit welchem Text sie es zu tun bekommt.

  • Autor*in: Um wen handelt es sich?
  • Textsorte: Um welche Textsorte handelt es sich?
  • Titel: Welchen Titel hat der Ausgangstext?
  • Medium: Welche Publikationsform wurde gewählt? In welchem Medium ist der Text erschienen? In welchem Ressort?
  • Erscheinungsdatum: Wann ist der Text erschienen?
  • Definition des Problembegriffs: Welche zentralen Begriffe oder Sachverhalte werden thematisiert?

Seit dem Pisa-Schock in den frühen Zweitausendern befindet sich die deutsche Schullandschaft im Umbau. In einigen Bereichen hat sich die Situation jedoch keineswegs verbessert, viele der Maßnahmen sind umstritten. Was liegt also näher, als gerade jetzt, mit dem Eintreffen neuer Studienergebnisse, ein Versagen der deutschen Bildungspolitik festzustellen? In seiner Kolumne „Klopapier und Neues von der Pisa-Front unterstellt der Berliner Publizist Harald Martenstein, die deutsche Bildungspolitik versage darin, den Schülern angemessene Bildung zu bieten. Der Beitrag erschien am 10.12.2019 im Ressort „Politik“ des „Tagesspiegel“. Martenstein bezieht sich darin auf die PISA-Studie, die einen internationalen Vergleich der Schülerleistungen ermöglichte.

Strukturierte Inhaltsangabe

Die strukturierte Inhaltsangabe hat die Aufgabe, den Text ohne eigene Wertung für die folgende Erörterung zu erschließen. Dazu befolgst du am besten einige Regeln:

  • Beginne damit, die Zahl der Abschnitte zu nennen.
  • Führe jeden Abschnitt mit seiner Ordnungszahl ein („Der erste Abschnitt…“, Im dritten Abschnitt…“).
  • Gib den genauen Zeilenumfang an (Z. 1-2).
  • Über Texte spricht man im Präsens. Vorzeitigkeit wird durch das Perfekt
  • Du solltest die wesentlichen Aussagen herausarbeiten, die zur Argumentation beitragen.
  • Wesentlich ist, was zur Beantwortung der Leitfrage beiträgt.
  • Diese Aussagen verbindest du mit einander. Das gelingt, wenn du ihren logischen oder argumentativen Zusammenhang erläuterst: „Daraus leitet Martenstein ab, dass…“, „Dem hält Martenstein entgegen, dass …“. Bei einfacher Reihung genügen Formulierungen wie „zudem“ und „überdies“.
  • Hilfreich sind vorstrukturierende Wendungen wie „Er benennt drei Ursachen: …“,
  • Aussagen müssen am Text belegt Entweder zitierst du die Aussagen oder du paraphrasierst (umschreibst) sie.
  • Wenn du paraphrasierst, verwendest du den Konjunktiv I („Es gebe…“) oder distanzierende Formulierungen („Nach Martenstein…“).
  • Nenne die Funktion des Abschnitts! Sage also, was der jeweilige Abschnitt leisten soll. Entwirft er ein Bild? Gibt er ein Beispiel? Führt er Argumente an?
  • Wo du bestimmte Argumentationsmuster erkennst, solltest du sie benennen („Angstargument“).

Martensteins Kolumne umfasst drei inhaltliche Abschnitte. Im ersten Abschnitt (Z. 1-6) entwirft Harald Martenstein zunächst mit zwei Fallbeispielen aus Berlin ein düsteres Bild der deutschen Schullandschaft: Am Heinrich-Schliemann-Gymnasium würden die Schüler aufgefordert, Toilettenartikel selbst mitzubringen (Z. 1-3). An einer Oberschule in Pankow sind nach Martenstein die Toiletten „so verdreckt, dass keiner mehr hinein konnte“ (Z. 5).

Im zweiten Abschnitt (Z. 7-19) ergänzt Martenstein seine Beispiele materieller Verwahrlosung um „neue Hiobsbotschaften von der Pisa-Front“ (Z. 7 f.). Ein Fünftel der deutschen Fünfzehnjährigen scheitere nach der aktuellen Pisa-Studie am Lesen einfacher Texte. Daraus leitet Martenstein ab, der Staat versage darin, „allen Kindern ein Minimum an Chancen und Bildung“ zu bieten (Z. 8). Das habe zur Folge, dass viele Menschen künftig Schwierigkeiten hätten, eine zukunftsträchtige Arbeitsstelle zu finden. Martenstein erweitert diese These zum Angstargument, das sich des Bilds einer unaufhaltsamen Welle bedient: „ein Tsunami an sozialen Problemen rollt auf uns zu“ (Z. 9). Er führt seine Argumentation mit einem Autoritätenbeweis fort: Martensteins Gewährsmann ist der deutsche Bildungsforscher Jürgen Baunert. Dieser habe „die Zahl der heutigen Beinahe-Analphabeten“ vorausgesagt (Z. 11 f.). Martenstein verweist nun auf den zunehmenden Anteil von von Schülern mit Migrationshintergrund, bei denen der Anteil leseschwacher Schüler noch höher liege. Er benennt drei Ursachen dieser Schwäche: Zum einen seien ihre Herkunftsverhältnisse „sozial schwach“ (Z. 18), zum anderen machten sich die Eltern dieser Schüler nichts aus „sozialen Aufstieg“ (Z. 19). Die dritte Ursache sieht er in der Abschottung dieser Eltern (vgl. Z. 19), was er mit deren mangelnden Deutschkenntnissen belegt. Martenstein bedient sich eines weiteren Angstarguments, wenn er als Folge dieser Entwicklung gar den Zerfall und Abstieg Deutschlands in Aussicht stellt.

Aus dieser umfassenden Zustandsanalyse leitet Martenstein im dritten Abschnitt (Z. 20-27) seine zentrale Forderung ab: Ihm zufolge müsste Bildungspolitik „den gleichen Stellenwert haben wie Klimaschutz“ (Z. 22 f.). Dazu müsse die Bildungspolitik umgestaltet werden. Er fordert dabei zweierlei: Erstens müsse sich von der „Einheitsschule“ (Z. 23) abwenden, die einer möglichst breiten Gruppe von Schülern das Abitur ermöglichen soll. Dabei deutet er an, dass dabei die Qualität der Bildung leide und zudem in Handwerksberufen der Nachwuchs fehle. Zweitens fordert Martenstein, man solle zugunsten des Leistungsprinzips auf „protektionistische Pädagogik“ verzichten. Der Leistungsgedanke ist für Martenstein maßgeblich: „Eine Schule, die nicht Leistungswillen fördert, macht lebensuntüchtig“ (Z. 28).

Hauptteil: Erörterung

Im Erörterungsteil setzt du dich mit der Argumentation des Autors (oder der Autorin) auseinander. Während die Inhaltsangabe nur benennt, gliedert und zusammenfasst, wirst du nun analysieren, Stellung nehmen und argumentieren. Dazu gibt es einige Regeln:

  • Beginne damit, die Leitfrage zu wiederholen.
  • Sage jeweils, zu welcher Aussage du Stellung nimmst.
  • Nimm Stellung, indem du der Aussage zustimmst oder ihr widersprichst. Damit offenbarst du auch deine eigene Position.
  • Deinen Widerspruch und deine Zustimmung musst du ausführlich begründen.
  • Begründen kannst du vor allem aus drei Gründen: a) ethisch, indem du dich auf Nornen beziehst, b) sachlich, indem du dich auf Tatsachen beziehst, c) logisch, indem du dich auf die Argumentationsweise beziehst.
  • Du kannst deine Zustimmung einschränken und deinen Widerspruch abschwächen.
  • Begründungen solltest du mit Belegen zum Beweis aufwerten.
  • Wo du Aussagen des Verfassers oder der Verfasserin aufgreifst, musst du zitieren (oder indirekt belegen).

Hat Martenstein Recht? Hat die deutsche Bildungspolitik wirklich versagt?

Martensteins Hinweise zur baulichen Situation vieler Schulen treffen zu. Seine Beispiele mögen überzogen sein, Hygienemängel sind aber kaum abzustreiten. In einer verwahrlosten Umgebung leidet zweifellos die Motivation, weil sich Schüler nicht wertgeschätzt fühlen. Überdies führen solche fragwürdigen Bedingungen, wie Martenstein zu Recht bemerkt, zum Unterrichtsausfall (Z. 4). Wo der Unterricht nicht vertreten wird, ist der Lernerfolg massiv gefährdet, weil Übungsgelegenheiten wegfallen. Der Stoffdruck führt dazu, dass Stoffgebiete übersprungen werden. Meist können Lücken, die so entstehen, auch später nicht wieder aufgeholt werden.

Auch dass mangelnde Lesekenntnisse unabsehbare Folgen haben, ist nicht abzustreiten. Vom Lesen hängt viel ab. Wer große Textmengen nicht sicher bewältigt, hat Nachteile. In einer komplexen Arbeitswelt müssen sich Auszubildende eigenständig neue Kenntnisse beibringen. Auch im Studium wird vorausgesetzt, dass sich Studierende den Lernstoff selbst erarbeiten. Allerdings übersieht Martenstein, dass sich mit der Digitalisierung weitere Lernmöglichkeiten ergeben. Zahlreiche Fertigkeiten und Kenntnisse lassen sich mittlerweile auch online erwerben. Zusätzlich zu Lesestrategien müsste also Medienkompetenz vermittelt werden.

Fragwürdig ist Martensteins Analyse der sozialen Hintergründe. Er räumt zwar ein, Schüler mit Migrationshintergrund seien zwar „nicht dümmer als andere“ (Z. 17 f.), unterstellt aber, weite Gruppen von Einwandern seien nicht integrationswillig. Diese Diffamierung ist nicht nur haltlos, sondern auch verallgemeinernd und stark vereinfachend. Dass die Deutschkenntnisse schlechter würden, gibt das Datenmaterial zudem nicht her. ES könnte auch andere Ursachen geben. 2015 sind über eine Million Flüchtlinge in Deutschland eingetroffen, darunter viele schulpflichtige Jugendliche. Im Vergleich zu den Kindern von Arbeitsmigranten müssen diese Schüler erst alphabetisiert werden. Dennoch zählen sie in die Statistik. Dass sich Parallelgesellschaften bilden, hat außerdem viele Ursachen. Von Abschottung lässt sich kaum sprechen, wenn Integrationsmaßnahmen halbherzig erfolgen, wenn der Wohnungsmarkt Segregation befördert und wenn schulische Förderprogramme zu kurz greifen.

Als Lösung für die Bildungsmisere schlägt Martenstein indirekt vor, die Einheitsschule aufzugeben und zum dreigliedrigen Schulsystem zurückzukehren. Dieser Vorschlag ist jedoch höchst bedenklich, weil er die Segregation nur verstärkt. Schon jetzt haben es Kinder aus Arbeiter- und Einwandererfamilien ungleich schwerer, das Abitur zu erlangen. […]

Auch eine Rückkehr zum Leistungsprinzip schafft keine Abhilfe. Wenn Martenstein unterstellt, es werde zu wenig gefordert, übersieht er, dass messbare Leistung noch immer das Ziel der meisten Schulformen ist. Wo Leistung das höchste Bildungsziel ist, nicht Solidarität oder Mitgefühl, steuern wir auf eine Ellbogengesellschaft zu. Die zunehmende Zahl psychisch und chronisch kranker Schüler belegt zudem, dass Überforderung keineswegs ein Mittel der Leistungsstärkung ist. Was Martenstein als „protektionistische Pädagogik“ geißelt, ist im Grunde lediglich der Versuch, die Folgen des Leistungsdenkens auszugleichen. […]

Schluss

Der Schluss einer Erörterung bietet eine Zusammenschau der Argumente, schärft die eigene Position und zeigt Lösungswege. Folgende Gesichtspunkte sind zu beachten:

  • Beginne mit einer abschließenden Formulierung, die deutlich macht, dass du nun ein Fazit versuchst („Insgesamt …“.)
  • Stelle heraus, ob du insgesamt eher zustimmst oder ablehnst. In der Regel kannst du einige Zugeständnisse machen, deine Position sollte aber dennoch klar sein.
  • Arbeite heraus, welchen Punkten du zustimmen kannst und wo du widersprechen
  • Begründe deine Position!
  • Falls die Argumentation Schwächen hat, sollte man sie benennen.
  • Auch problematische Tendenzen sollte man herausarbeiten – etwa, indem man Konsequenzen darstellt.
  • Wo sich Argumentationsmuster und Wirkungsabsicht aus der Textsorte ergeben, sollte man darauf hinweisen.
  • Insbesondere, wer Kritik übt, muss auch eigene Lösungsansätze entwickeln und gut begründen.

Seit dem Pisa-Schock in den frühen Zweitausendern befindet sich die deutsche Schullandschaft im Umbau. In einigen Bereichen hat sich die Situation jedoch keineswegs verbessert, viele der Maßnahmen sind umstritten. Was liegt also näher, als gerade jetzt, mit dem Eintreffen neuer Studienergebnisse, ein Versagen der deutschen Bildungspolitik festzustellen? In seiner Kolumne „Klopapier und Neues von der Pisa-Front unterstellt der Berliner Publizist Harald Martenstein, die deutsche Bildungspolitik versage darin, den Schülern angemessene Bildung zu bieten. Der Beitrag erschien am 10.12.2019 im Ressort „Politik“ des „Tagesspiegel“.

Insgesamt darf man bezweifeln, dass Martenstein in allen Punkten recht hat. Dass es mit Deutschlands Schulen im Argen liegt, ist kaum zu bestreiten. Deshalb wäre es auch nicht verkehrt, der Bildungspolitik zumindest den Rang der Klimapolitik zuzugestehen. Auch Martensteins Kritik an den hygienischen Zuständen an vielen Schulen ist berechtigt, ebenso seine Hinweise auf den Wert des Lesens. Dass Leistung wichtig ist, steht gleichfalls außer Frage – auch hier ist Martenstein zuzustimmen. Dass die Gemeinschaftsschule teuer und nicht unbedingt wirksamer ist, muss ebenso diskutiert werden. Eine Rückkehr zu vermeintlich Altbewährtem ist dagegen weniger sinnvoll. Weder das dreigliedrige Schulsystem noch eine Rückbesinnung auf Leistung lösen unsere Probleme. Auf Veränderungen in Umwelt und Gesellschaft kann man nicht reagieren, indem man sich frühere Zustände herbeiwünscht oder längst nicht mehr brauchbare Werkzeuge hervorholt.

Martensteins Darstellung krankt an Vereinfachung und Pauschalisierung. Im Rahmen einer Kolumne ist Zuspitzung zwar richtig und nötig, allerdings ist es fragwürdig, wie Martenstein argumentiert. Weder sind Einwanderer pauschal Aufstiegsverweigerer, noch kann man mit der Rückkehr zum dreigliedrigen Schulsystem die Handwerksberufe retten. Dass es nötig ist, das Bildungswesen umzugestalten, leuchtet ein. Mit Angstargumenten und Traditionsbeweisen lenkt Martenstein die Diskussion aber in die falsche Richtung.

Was wäre stattdessen zu tun? Um zu verhindern, dass weite Schülergruppen hinter ihren Altersgenossen zurückbleiben, müssen Lese- und Sprachförderung über alle Schulformen massiv ausgebaut werden. An die Stelle von Leistungsdruck durch Noten muss eine Leistungsmotivation durch bessere Beratung und individuelle Förderung treten. Das schwerwiegendste Problem ist deswegen der Lehrermangel. Eine Wende in der Bildungspolitik wird also Geld kosten. Nicht nur angesichts der von Martenstein dargestellten Mängel sind Investitionen ins Bildungswesen dringend nötig.

Musteraufsatz

Erörterung zu Harald Martensteins Kolumne „Klopapier und Neues von der Pisa-Front“

Martensteins Kolumne umfasst drei inhaltliche Abschnitte. Im ersten Abschnitt (Z. 1-6) entwirft Harald Martenstein zunächst mit zwei Fallbeispielen aus Berlin ein düsteres Bild der deutschen Schullandschaft: Am Heinrich-Schliemann-Gymnasium würden die Schüler aufgefordert, Toilettenartikel selbst mitzubringen (Z. 1-3). An einer Oberschule in Pankow sind nach Martenstein die Toiletten „so verdreckt, dass keiner mehr hinein konnte“ (Z. 5).

Im zweiten Abschnitt (Z. 7-19) ergänzt Martenstein seine Beispiele materieller Verwahrlosung um „neue Hiobsbotschaften von der Pisa-Front“. Ein Fünftel der deutschen Fünfzehnjährigen scheitere nach der aktuellen Pisa-Studie am Lesen einfacher Texte. Daraus leitet Martenstein ab, der Staat versage darin, „allen Kindern ein Minimum an Chancen und Bildung“ zu bieten (Z. 8). Das habe zur Folge, dass viele Menschen künftig Schwierigkeiten hätten, eine zukunftsträchtige Arbeitsstelle zu finden. Martenstein erweitert diese These zum Angstargument, das sich des Bilds einer unaufhaltsamen Welle bedient: „ein Tsunami an sozialen Problemen rollt auf uns zu“ (Z. 9). Er führt seine Argumentation mit einem Autoritätenbeweis fort: Martensteins Gewährsmann ist der deutsche Bildungsforscher Jürgen Baunert. Dieser habe „die Zahl der heutigen Beinahe-Analphabeten“ vorausgesagt (Z. 11 f.). Martenstein verweist nun auf den zunehmenden Anteil von von Schülern mit Migrationshintergrund, bei denen der Anteil leseschwacher Schüler noch höher liege. Er benennt drei Ursachen dieser Schwäche: Zum einen seien ihre Herkunftsverhältnisse „sozial schwach“ (Z. 18), zum anderen machten sich die Eltern dieser Schüler nichts aus „sozialen Aufstieg“ (Z. 19). Die dritte Ursache sieht er in der Abschottung dieser Eltern (vgl. Z. 19), was er mit deren mangelnden Deutschkenntnissen belegt. Martenstein bedient sich eines weiteren Angstarguments, wenn er als Folge dieser Entwicklung gar den Zerfall und Abstieg Deutschlands in Aussicht stellt.

Aus dieser umfassenden Zustandsanalyse leitet Martenstein im dritten Abschnitt (Z. 20-27) seine zentrale Forderung ab: Ihm zufolge müsste „den gleichen Stellenwert haben wie Klimaschutz“ (Z. 22 f.). Dazu müsse die Bildungspolitik umgestaltet werden. Er fordert dabei zweierlei: Erstens müsse sich von der „Einheitsschule“ (Z. 23) abwenden, die einer möglichst breiten Gruppe von Schülern das Abitur ermöglichen soll. Dabei deutet er an, dass dabei die Qualität der Bildung leide und zudem in Handwerksberufen der Nachwuchs fehle. Zweitens fordert Martenstein, man solle zugunsten des Leistungsprinzips auf „protektionistische Pädagogik“ verzichten. Der Leistungsgedanke ist für Martenstein maßgeblich: „Eine Schule, die nicht Leistungswillen fördert, macht lebensuntüchtig“ (Z. 28).

Hat Martenstein Recht? Hat die deutsche Bildungspolitik wirklich versagt?

Martensteins Hinweise zur baulichen Situation vieler Schulen treffen zu. Seine Beispiele mögen überzogen sein, Hygienemängel sind aber kaum abzustreiten. In einer verwahrlosten Umgebung leidet zweifellos die Motivation, weil sich Schüler nicht wertgeschätzt fühlen. Überdies führen solche fragwürdigen Bedingungen, wie Martenstein zu Recht bemerkt, zum Unterrichtsausfall (Z. 4). Wo der Unterricht nicht vertreten wird, ist der Lernerfolg massiv gefährdet, weil Übungsgelegenheiten wegfallen. Der Stoffdruck führt dazu, dass Stoffgebiete übersprungen werden. Meist können Lücken, die so entstehen, auch später nicht wieder aufgeholt werden.

Auch dass mangelnde Lesekenntnisse unabsehbare Folgen haben, ist nicht abzustreiten. Vom Lesen hängt viel ab. Wer große Textmengen nicht sicher bewältigt, hat Nachteile. In einer komplexen Arbeitswelt müssen sich Auszubildende eigenständig neue Kenntnisse beibringen. Auch im Studium wird vorausgesetzt, dass sich Studierende den Lernstoff selbst erarbeiten. Allerdings übersieht Martenstein, dass sich mit der Digitalisierung weitere Lernmöglichkeiten ergeben. Zahlreiche Fertigkeiten und Kenntnisse lassen sich mittlerweile auch online erwerben. Zusätzlich zu Lesestrategien müsste also Medienkompetenz vermittelt werden.

Fragwürdig ist Martensteins Analyse der sozialen Hintergründe. Er räumt zwar ein, Schüler mit Migrationshintergrund seien zwar „nicht dümmer als andere“ (Z. 17 f.), unterstellt aber, weite Gruppen von Einwandern seien nicht integrationswillig. Diese Diffamierung ist nicht nur haltlos, sondern auch verallgemeinernd und stark vereinfachend. Dass die Deutschkenntnisse schlechter würden, gibt das Datenmaterial zudem nicht her. ES könnte auch andere Ursachen geben. 2015 sind über eine Million Flüchtlinge in Deutschland eingetroffen, darunter viele schulpflichtige Jugendliche. Im Vergleich zu den Kindern von Arbeitsmigranten müssen diese Schüler erst alphabetisiert werden. Dennoch zählen sie in die Statistik. Dass sich Parallelgesellschaften bilden, hat außerdem viele Ursachen. Von Abschottung lässt sich kaum sprechen, wenn Integrationsmaßnahmen halbherzig erfolgen, wenn der Wohnungsmarkt Segregation befördert und wenn schulische Förderprogramme zu kurz greifen.

Als Lösung für die Bildungsmisere schlägt Martenstein indirekt vor, die Einheitsschule aufzugeben und zum dreigliedrigen Schulsystem zurückzukehren. Dieser Vorschlag ist jedoch höchst bedenklich, weil er die Segregation nur verstärkt. Schon jetzt haben es Kinder aus Arbeiter- und Einwandererfamilien ungleich schwerer, das Abitur zu erlangen. […]

Auch eine Rückkehr zum Leistungsprinzip schafft keine Abhilfe. Wenn Martenstein unterstellt, es werde zu wenig gefordert, übersieht er, dass messbare Leistung noch immer das Ziel der meisten Schulformen ist. Wo Leistung das höchste Bildungsziel ist, nicht Solidarität oder Mitgefühl, steuern wir auf eine Ellbogengesellschaft zu. Die zunehmende Zahl psychisch und chronisch kranker Schüler belegt zudem, dass Überforderung keineswegs ein Mittel der Leistungsstärkung ist. Was Martenstein als „protektionistische Pädagogik“ geißelt, ist im Grunde lediglich der Versuch, die Folgen des Leistungsdenkens auszugleichen. […]

Insgesamt darf man bezweifeln, dass Martenstein in allen Punkten recht hat. Dass es mit Deutschlands Schulen im Argen liegt, ist kaum zu bestreiten. Deshalb wäre es auch nicht verkehrt, der Bildungspolitik zumindest den Rang der Klimapolitik zuzugestehen. Auch Martensteins Kritik an den hygienischen Zuständen an vielen Schulen ist berechtigt, ebenso seine Hinweise auf den Wert des Lesens. Dass Leistung wichtig ist, steht gleichfalls außer Frage – auch hier ist Martenstein zuzustimmen. Dass die Gemeinschaftsschule teuer und nicht unbedingt wirksamer ist, muss ebenso diskutiert werden. Eine Rückkehr zu vermeintlich Altbewährtem ist dagegen weniger sinnvoll. Weder das dreigliedrige Schulsystem noch eine Rückbesinnung auf Leistung lösen unsere Probleme. Auf Veränderungen in Umwelt und Gesellschaft kann man nicht reagieren, indem man sich frühere Zustände herbeiwünscht oder längst nicht mehr brauchbare Werkzeuge hervorholt.

Martensteins Darstellung krankt an Vereinfachung und Pauschalisierung. Im Rahmen einer Kolumne ist Zuspitzung zwar richtig und nötig, allerdings ist es fragwürdig, wie Martenstein argumentiert. Weder sind Einwanderer pauschal Aufstiegsverweigerer, noch kann man mit der Rückkehr zum dreigliedrigen Schulsystem die Handwerksberufe retten. Dass es nötig ist, das Bildungswesen umzugestalten, leuchtet ein. Mit Angstargumenten und Traditionsbeweisen lenkt Martenstein die Diskussion aber in die falsche Richtung.

Was wäre stattdessen zu tun? Um zu verhindern, dass weite Schülergruppen hinter ihren Altersgenossen zurückbleiben, müssen Lese- und Sprachförderung über alle Schulformen massiv ausgebaut werden. An die Stelle von Leistungsdruck durch Noten muss eine Leistungsmotivation durch bessere Beratung und individuelle Förderung treten. Das schwerwiegendste Problem ist deswegen der Lehrermangel. Eine Wende in der Bildungspolitik wird also Geld kosten. Nicht nur angesichts der von Martenstein dargestellten Mängel sind Investitionen ins Bildungswesen dringend nötig.