Nikolaus Lenau in Winnenthal


Bild: Carl Rahl: Nikolaus Lenau, 1834, Ö/L, Frankfurt am Main: Goethe-Museum [Replik]

Der Autor

Nikolaus Lenau (d. i. Nikolaus Franz Niembsch, Edler von Strehlenau) gehört zur Generation der Wiener Vormärz-Autoren. Zum Wiener Kreis des am 13. August 1802 in Csatád geborenen Lenau zählen unter anderem Ferdinand Raimund, Anton von Auersperg (Anastasius Grün), Franz Grillparzer und Eduard von Bauernfeld. 1831 bereist er Süddeutschland, um in Heidelberg seine Doktorprüfung abzulegen. Gustav Schwab, mit dem er sich befreundet, vermittelt ihn an Cotta. Nach einer missglückten Amerikareise kehrt Lenau nach Europa zurück. 1835 erscheinen die Polenlieder, 1836 Lenaus Faust, 1837 der Savonarola. Vor allem seine Gedichte, darunter die mehrfach vertonten Schilflieder und Der Postillon, verschaffen ihm literarischen Ruhm und öffnen ihm die Tür zum Seracher Kreis, der sich im Schloss Serach bei Esslingen und bei Justinus Kerner in Weinsberg zusammenfindet. Lenau macht die Bekanntschaft der schwäbischen Romantiker und trifft Ludwig Uhland, Gustav Pfizer, Karl Mayer und Alexander Graf von Württemberg. Allerdings führen verschiedene Umstände, unter anderem die unglückliche Beziehung zu Sophie Löwenstein, zur Wiederkehr seiner Melancholie. Lenau verlobt sich, bereits von den Folgen einer Syphilis-Infektion gezeichnet, mit der Frankfurterin Marie Behrend – zum Entsetzen seiner Freunde. Der unübersehbare Ausbruch seiner Krankheit macht seine Heiratspläne zunichte, beendet Lenaus literarische Produktivität und führt zu längerem Aufenthalt in der „Königlichen Heilanstalt Winnenthal“. 1847 überführt Lenaus Schwager Schurz den zunehmend unselbständigen Dichter nach Oberdöbling bei Wien, wo er am 22. August 1850 stirbt.

Lenaus Bezug zu Winnenden

In Winnenden liegt die Nikolaus-Lenau-Straße am östlichen Rand der Kernstadt in einer Gegend, die nach dem Krieg viele Vertriebene aufgenommen hat. Unweit davon verläuft die Adalbert-Stifter-Straße. Im Schloss selbst, in dem Lenau von Oktober 1844 bis Mai 1847 lebt, erinnert das 1990 umgebaute Lenau-Haus (Schlosscafé) an Lenau. Ein kleines Museum, das im Lenau-Haus Exponate zum Aufenthalt Niembschs ausstellte, gibt es heute nicht mehr. Im Schloss war Lenau im Kavaliersflügel untergebracht, zeitweise auch in Tobzellen, wie sie Schurz in seinem Bericht beschreibt. Nichts davon ist erhalten. Trotz der brachialen Methoden der zeitgenössischen Psychiatrie gilt die Winnender Anstalt als beispielhaft für moderne, zugewandte Therapieformen. Aus der Anstalt Dr. Albert Zellers, der auch Lenau behandelt, gehen bedeutende Ärzte hervor, darunter Wilhelm Griesinger, einer der Begründer der wissenschaftlichen Psychiatrie.

Bild: Johann Umlauf: Nikolaus Lenau, 1844, Öl auf Pappe, 26,3 x 21,3 cm, Berlin: Nationalgalerie der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, Fotograf: Andres Kilger

Lenaus Aufenthalt in der „Königlichen Heilanstalt Winnenthal“

Am 29.9. erleidet Lenau, vermutlich durch die ausbrechende Syphilis geschwächt, einen Schlaganfall, der Lähmungen Gesicht hervorrief. In der Nacht vom 12.-13.10. kommt Lenaus Erkrankung zum Ausbruch, er vernichtet Briefe und literarische Skizzen. Drei Tage darauf (15.-16.10.) beobachtet Lenaus Umgebung einen erneuten Anfall. Lenau steht nach einem Suizidversuch unter ständiger Beobachtung, der behandelnde Arzt ist Karl Eberhard von Schelling. Nach Konsultation mit dem Direktor des Stuttgarter Medizinalkollegiums Wilhelm Friedrich Ludwig werden dem kranken „abführende, niederschlagende Pulver“ verordnet (Lenau: Chronik, 1992, S. 363). Emilie von Reinbek verweigert ihm das verlangte Gift, daraufhin versucht Lenau sich zu strangulieren. Tags darauf greift Lenau Emilie körperlich an (Ebd. S. 364). Am 20.10. springt Lenau aus dem Fenster der Hartmannschen Parterre-Wohnung, „nur mit Hemd und Strümpfen bekleidet“ (Lenau: Notizbuch, S. 1), wird aber von Passanten zurück ins Haus gebracht. Die behandelnden Ärzte wenden sich nun an den Leiter der Heilanstalt Winnenthal, Ernst Albrecht Zeller. Am 22.10., einem Dienstag wird Lenau in einer Zwangsjacke nach Winnenden gebracht. Am 28.10, trifft Anton Schurz, Lenaus Schwager, in Stuttgart ein und besucht Lenau am Folgetag sowie tags darauf in Winnenden, geht sogar in Begleitung Zellers mit ihm im Garten spazieren. Zeller (und die durch die Presse informierte Öffentlichkeit) hoffen indessen auf Lenaus baldige Genesung. Am 6.11. beginnt Lenau in einem von Schurz überbrachten Schreibheft seine Aufzeichnungen. Die Verlobte soll ihn einstweilen nicht besuchen, um Lenaus Gesundung nicht zu gefährden.

Anton Schurz: Der Schwager berichtet

Anton Schurz, der „geliebte Schwager“ (S. 244) ist von den Reinbecks über Lenaus Zustand informiert worden und reist unverzüglich nach Stuttgart. Obermedizinalrat Schelling gibt ihm zu verstehen, es sei nicht ratsam, den Kranken zu treffen. Schurz lässt sich davon nicht abhalten und fährt am 29.10. durch den Nebel nach Winnenden, wo er um halb zehn ankommt.

Albert Zeller beruhigt den aufgeregten Schwager. Nachdem dieser Lenaus Leben zusammengefasst hat, kommt Zeller zu einer vorläufigen Diagnose: Lenaus „äußerst unangemessene und regellose Lebensweise“ sei der Grund für den Ausbruch der Krankheit (S. 245). Zeller bittet Schurz, um drei wieder vorstellig zu werden. Als Schurz wie besprochen zurückkehrt, ist Zeller unterwegs. Ein Wärter führt Schurz in den Betsaal und gewährt einen Ausblick auf „die traurige Wohnung der Tobsüchtigen“ im Parterre (Ebd. S. 246). Um vier wird Schurz vorgelassen: Lenau trägt einen „Zigeunerrock“, seine Äußerungen wirken wirr, er spricht „mit gedämpfter, peinlicher Stimme“. Schurz und Lenau brechen zu einem Spaziergang auf, auf die Pistole, die Lenau zunächst fordert, verzichtet er dann doch. Beim Ausblick aus einem „Lusthaus“ (möglicherweise ist das Komturhäuschen gemeint) bleibt Lenau ruhig; Zeller weist darauf hin, dass Lenau Reden in „schönstem Latein“ halte, wenn er wahnhaft sei (Ebd. 248), wohl wissend, dass er vor einem imaginären Publikum stehe. 

Am 5. November um drei Uhr nachmittags ist Schurz wieder in Winnenden; Lenau ist aber zu matt für ein Gespräch, der Besuch wird verschoben. Am 6. November ist Schurz erneut da und stellt erfreut fest, dass sich Lenaus Wahnvorstellungen nun auf angenehmere Dinge richten. Lenau unterhält sich unter anderem „gut österreichisch“ mit Goethe selbst und sieht sich in eine Reihe von Göttern aufgenommen. Schurz plant, sich in einem Winnender Gasthof einzumieten und Lenau länger Gesellschaft zu leisten. Bei Sauerkraut und Spätzle scheint sich Lenau zu erholen, spielt auf der Violine Beethoven und ungarische Ländler. Wiederholt sagt er: „Nur nicht sterben; […] ich lebe so gerne“. Auf seinen Wunsch hin erhält Niembsch ein Notizbuch und Briefe der Freunde aus Stuttgart und Wien.

Nikolaus Lenaus Notizbuch aus Winnenthal

Das von Horst Brandstätter edierte „Notizbuch aus Winnenthal“ dürfte die letzten Aufzeichnungen Lenaus enthalten, die der Nachwelt überliefert sind. Es wurde Lenau am 6. November 1844 ausgehändigt, als Lenau nach Schreibmaterial verlangt (Brandstätter, S. 5). Ebenso wie das von Kerner am 29.11. aufgezeichnete Sonett ist das Original nicht mehr erhalten. Das schmale Schreibheft ist ein Dokument von Lenaus Zerrüttung. Österreichisches und Schwäbisches mischen sich mit literarischen Verweisen; Exotisches mischt sich bunt mit Erotischem und großer Politik, längst Vergangenes mit eben erst Geschehenem. So zählt Lenau Begriffe aus seiner Wiener Zeit auf, um kurz darauf auf die Schwäbische Dichterschule zu sprechen zu kommen, „Uhland, göttlicher / Meister, kosmischer Dichter, / Der größte Dichter der Schwaben / Schwaben, Schwaben, Schwaben / Sie traben, traben, traben, Kerner, der größte, / Mayer, der größte / Zeller der größte“ (S. 1). Während die Einträge der ersten Tage noch vernünftig wirken, gedankliche Strukturen erkennen lassen, werden die Einträge ab dem 25.11. zunehmend verworren, die Zeilenschreibweise wird aufgegeben, Lenau schreibt von oben und unten, Linien und Symbole stellen den Leser vor unlösbare Rätsel.

Justinus Kerners Besuch

Trotz der offenkundig guten Beziehung zu Zeller verschlechtert sich Lenaus Zustand rasant, er „salbadert“ nun auf Französisch und muss eine Zwangsjacke anlegen. Ein Besuch Kerners am 29.11. entspannt Lenau, der sich mit dem Mantel Graf Alexanders bedeckt. Lenau eröffnet dem Dichter, er decke sich mit Graf Alexander von Württembergs Mantel, den er eine „Decke der Liebe nennt“. (Ebd. S. 370, Brief an Marie von Taubenheim). Nach Gesprächen über Lenaus Krankheit, Schiller und Goethe zeichnet Lenau lachend Kerners Schattenwurf an der Wand nach. Dann sagt der Kranke, das folgende Shakespeare-Sonett sei Lenau bereits beim Heranrücken des Wahnsinns eingefallen, auf dem Weg von Ulm nach Stuttgart, er habe es jedoch „in seinem Toben“ zerrissen. Kerner schreibt nach Diktat Lenaus letztes überliefertes Gedicht auf, das keine Zweifel an seinem Zustand zulässt.

Text

ʼs ist eitel Nichts, wohin mein Augʼ ich hefte,
Das Leben ist ein vielbesagtes Wandern,
Ein wüstes Jagen istʼs von dem zum andern,
Und unterwegs erlahmen mir die Kräfte.
Ja, könnte man zum letzten Erdenziele
Noch als derselbe frische Bursche kommen,
Wie man den ersten Anlauf einst genommen,
So möchte man noch lachen zu dem Spiele.
Doch trägt uns eine Macht von Stund zu Stund
Wie’s Krüglein, das am Brunnenstein zersprang,
Und seinen Inhalt sickert auf den Grund,
So weit es ging den ganzen Weg entlang.
Nun ist es leck, wer mag daraus noch trinken –
Und zu den andern Scherben muß es sinken.

Kontext und Kommentar

Lenaus letztes Gedicht ist ein Shakespeare-Sonnet aus fünfhebigen Jamben; auf zwei umfassend gereimte Quartette folgt eine Kreuzreimstrophe, die ein Paarreim (heroic couplet) abschließt. Im ersten Quartett führt das lyrische Ich das Thema ein: Das Leben ist ein „wüstes Jagen“ (Z. 3) mit nachlassender Kraft durch eine vergängliche Welt. Dieses Motiv greift auch die zweite Strophe auf: Die zunehmende Erschöpfung nimmt der Reise zum Tod die heitere Leichtigkeit, mit der sie beginnt. Die Zerbrechlichkeit des Menschen symbolisiert das tönerne „Krüglein“ (Z. 10), das unaufhaltsam fortgetragen wird, derweil die Lebensenergie nutzlos versickert. Auch für andere ist das gesprungene Gefäß unbrauchbar geworden: „[W]er mag daraus noch trinken“? (Z. 13). Unterschiedslos fällt es auf den Scherbenplatz der Vergänglichkeit. Lenau deutet seine Erkrankung, den Sprung in seinem Dasein, als unumkehrbar: Er hat keine Verfügungsgewalt mehr über sein Leben.

Letzte Zeit in Winnenden und Überführung nach Wien

Schurz erwähnt Lin seinen weiteren Ausführungen Lenaus ungewöhnliche Körperkraft, die selbst seine hochgewachsenen Pfleger, Schäfer und Sachsenheimer, sehr fordere (Schurz, S. 268). Ferner überliefert er Bonmots aus Lenaus Mund – etwa die Reaktion, als ihn Sachsenheim überwältigt: „Ha, das ist doch unerhört, dass ein Dichter den anderen binde!!“. Auch soll Lenau gesagt haben, er sei kein „delirischer, sondern ein lyrischer Dichter“ (S. Ebd.). Lenau wird nun wütender, kämpft schreiend und wild gestikulierend eingebildete Schlachten. Als Schurz am 3.12. Winnenden verlässt, geht er „ungegrüßt und ungeküßt“ (Ebd. S. 272). Lenaus Zustand lässt keine Besserung erkennen, reihum besuchen ihn seine Freunde, auch Bauernfeld und Grün kommen, am 31.10.1845 ist sogar der württembergische König zugegen. Immer wieder macht Zeller den Angehörigen Hoffnung, empfiehlt die Anstellung eines Privatwärters. Diese Aufgabe wird dem ebenso kräftigen wie empfindsamen Sachsenheimer übertragen, der selbst Gedichte schreibt. Zwischenzeitlich kann sich Lenau über ein Veilchensträßchen innig freuen, das man ihm zusendet. Am 14.3.1846 erleidet Lenau einen tiefgreifenden Anfall, die Familie zweifelt Zellers Diagnose an und fordert die Überführung nach Österreich. Zeller scheint nicht überzeugt. Auch Kerner stellt sich im weiteren Verlauf des Geschehens auf die Seite der Reinbecks und wirft den Wienern vor, insbesondere Sophie von Löwenthal, Lenau zu „verhexen“ (Ebd. S. 372). Kritisch bemerkt er, aus Wien seien auch Zweifel an Zellers Behandlung laut geworden. Nach Zellers Bericht an die Verlobte spielt Lenau in ruhigen Augenblicken auch Klavier, „musicirte in ganz gesunder Weise, Stücke von Beethoven, ungarische u. steyrische Tänze, alles moderato und vortrefflich“. Am 1.7. unternimmt Zeller mit dem sich erholenden und zeitweise geistesgegenwärtigen Dichter einen Spaziergang „auf einen nahen Berg“, möglicherweise den Haselstein (Ebd. S. 374). Am 19.3.1847 verwendet Zeller erstmals in einem Schreiben an die Familie den Begriff „Abstumpfung“, um Lenaus Befinden zu bestimmen (Ebd. S. 289). Unterdessen erklärt sich Schurz bereitet, Lenau gemeinsam mit Sachsenheimer nach Österreich zu überführen. Am 29.4. trifft Schurz in Winnenthal ein, Wärter Sachsenheimer ist jedoch erkrankt und kann nicht reise. Ein Artikel in der Augsburger Allgemeinen Zeitung unterstellt Lenaus Familie Erbschleicherei und verurteilt die Verlegung nach Wien. Erst am 12.5. kann sich Schurz mit Lenau auf die Reise nach Wien machen, die am 15.5. endet. Wenige Tage darauf reist Sachsenheimer zurück nach Winnenthal. Wie bei einer Neurolues in dieser Zeit nicht ungewöhnlich, tritt Lenau in die Spätphasen seiner Syphilis ein. Am 22. August 1850 stirbt Lenau in Oberdöbling bei Wien.

Bibliographie

  • Lenau, Nikolaus: Notizbuch aus Winnenthal, hrsg. u. mit e. Einf. von Horst Brandstätter. Berlin: Friedenauer Presse, 1986
  • Scheffler, Walter: Lenau in Schwaben. Eine Dokumentation in Bildern. Marbach am Neckar: Deutsches Literaturarchiv, 1977 (Marbacher Magazin, hrsg. v. Bernhard Zeller, 5 / 1977)
  • Schurz, Anton: Lenau’s Leben. Großentheils Aus des Dichters eigenen Briefen. Stuttgart / Augsburg: Cotta, 1855