Warum ich einen Hut trage

Napoleon trägt einen Hut. Speedy Gonzalez trägt einen Hut. Ich trage einen Hut. Die erstgenannten Hutträger können eine gewisse Coolness beanspruchen. Ich dagegen bin Oberstudienrat. Dennoch trage ich einen Hut. Und, ach, auch Indiana Jones trägt einen Hut.

Schüler wollen manchmal wissen, wie es dazu kam, dass ich Hutträger wurde. Weil ich euch die Wahrheit vorenthalten muss, kürze ich die Geschichte etwas ab. Natürlich, ohne sie ganz zu verfälschen. Die Geschichte geht so: In einem idyllischen kleinen Ort im Allgäu liegt hinter einer Kurve ein Laden, in dem es Schuhe gibt. Zünftige Allgäuer Wanderschuhe. Und – Hüte. Offenbar neige ich dazu, Sonnenstiche zu erleiden. Deswegen erschien es dem Schicksal ratsam, mich in den besagten Hutladen zu führen, vor jenes Regal, in dem er lag: mein künftiger Hut.

Mir war nicht klar, dass sich dieser bescheidene braune Filzhut zu einem vortrefflichen Alleinstellungsmerkmal entwickeln sollte. Anstelle eines Kreideteufels im Billig-Sakko war ich plötzlich ein peitschenschwingender Gralsjäger. Sah ich vorher einfach nur fertig aus, wenn ich unrasiert war, jetzt, mit Hut, war ich ein Abenteurer. Nun bin ich als biederer Beamter sicher alles andere als abenteuerlich. Wenn ich einen verlorenen Schatz jage, dann ist das eher das Tagebuch der 5b als die Bundeslade; der einzige Tempel des Todes, den ich betrete, ist das Lehrerzimmer – und mein letzter Kreuzzug gilt der Rettung des Hexameters. Und dennoch: Ich genieße es klammheimlich, wenn Mittelstufen-Coolios mir ehrfürchtig die berühmte Melodie von John Williams hinterherpfeifen. Ta-ra-tata…!

Die Nützlichkeit des Huttragens habe ich nach und nach erst entdeckt. In Zeiten des Klimawandels ist ein Hut wichtig. Er beschattet, und ich kann meinerseits beschatten. Im Winter wärmt er meine zunehmende Weisheit, der Hut. Nur bei Wind ist er etwas unpraktisch. Ich erinnere mich an das fröhlich-ausgelassene Gelächter zweier Neuntklässler, als ich beim Versuch, den Hut einem Windstoß abzujagen, fast von einem Müllauto überfahren wurde.

Vor allem aber sollte man die unbestreitbaren pädagogischen Vorteile eines Hutes kennen. Jeder Lehrer, der ins Schullandheim fährt, braucht einen Hut. Auf Bahnhöfen zeigt der hochgehaltene Hut den heiter blökenden Lämmlein, dass der Schäfer weiß, wo es hingeht. In Zeiten der Öde begeistert der fachkundig geworfene Hut als Frisbee. Er ermöglicht das heimliche Mitführen von Wasserbomben im Klassensatz.

Aber nicht nur im erzieherischen Ausnahmefall ist der Hut ein treuer Gefährte. Es ist beispielsweise kaum zu glauben, in wie vielen Werken der deutschen Literatur Hüte vorkommen oder plötzlich von Schülern dazuerfunden werden. Bei Klassensprecherwahlen dient der Hut als Wahlurne. Der Hut kann, zusammengerollt, zur Züchtigung von unbotmäßigen Schülern eingesetzt werden. Hinterlässt keine Spuren. Höchstens Faserspuren.

Selbstverständlich könnte man unterstellen, der Hut diene der optischen Vergrößerung der Lehrperson. Man könnte annehmen, ich trage den Hut wegen eines latenten Höhenkomplexes. Das ist Quatsch. Mit Hut gehe ich automatisch tiefer in die Knie („Spiel mir das Lied vom Tod“) und bin deshalb garantiert einige Zentimeter niedriger. Wenn ein Hut auch keine Komplexe kompensiert, so löst er garantiert welche aus.

Auch das muss man erwähnen. Das Kindergartenkind, das seiner Oma mitteilte: „Guck mal, ein Cowboy.“ Die fett grinsenden Oberstufenschüler beim Theaterbesuch, denen sich (danke, Hut!) meine frappante Ähnlichkeit mit Homo Faber förmlich aufdrängte. Die tausend Versuche fremder Fünftklässler, mir ihre Läuse unterzujubeln. Der Gemeinschaftsschüler, der mir ein 20-Cent-Stück in den Hut warf. Nein, als Hutträger hat man es nicht nur einfach. Einmal hat mich in unserer Kleinstadt mühelos die Ortspolizei ermittelt – ein „Lehrer mit Hut“ war an meiner Schule durchaus bekannt.

Aber wie es so ist: Man gewöhnt sich an alles. Irgendwann zieht man den Hut aus Trotz an. Obwohl man darunter schwitzt wie ein Waschbär. Obwohl er bei Regen als Auffangbecken fungiert, das sich zielgenau auf die korrigierten Zehnerarbeiten entleert. Mein Hut ist mein Hut ist mein Hut. Da gibt es kein Herumlavieren, my kingdom for a hat. Auch wenn ich so ganz zweifellos meine Einzigartigkeit gefährde – ich rate zum Hut.

Irgendwann kommt der Tag, an dem man sich von seinem Hut trennen muss. Dass ich mich ständig von meinem Hut trenne, weil ich ihn im Kopierraum liegen lasse, steht auf einem anderen Blatt. Dennoch: Der braune, erdige, wackere Allgäuer war mir jedenfalls ans Herz gewachsen, nicht nur wegen seiner vielen Verdienste. Wie könnte die Liebe zum eigenen Hut je eine On-Off-Beziehung sein, bei allem Auf und Ab? Und dann hatte ich Geburtstag.

Es war ein von Schülern organisierter Geburtstag. Ich bin diesen Schülern sehr verpflichtet. Es war ein schöner Geburtstag, wie man ihn mit 42 nicht erwarten kann. Als besonderer Höhepunkt erwartete mich ein aufwendig verpackter – „Packen Sie ruhig aus!“ Er war schwarz und mir natürlich zu groß. Noch heute schmeichle ich mir mit der Auffassung, die mit der Beschaffung beauftragte Schülerin habe schlicht die Monumentalität meines Schädels überschätzt. Dennoch trage ich ihn. Obwohl er die Ohren so sehr nach unten biegt, dass ich als Pausenaufsicht zur Lachfigur werde. Meine unaufdringlichen Versuche, Indy aus den Gehirnen meiner Schüler herauszuwaschen, scheiterten übrigens kläglich. Kein Mensch kennt Zorro.

Wenn ich irgendwann gehe, also: den Hut nehme, den Hut nicht mehr in den Ring werfe, dann legt ihn auf den Grabstein. Und wenn er nicht als Bruthöhle für Eichhörnchen dient, dann wünsche ich mir, dass er als Mahnmal seine wahre Größe offenbart: „Eine Krone ist lediglich ein Hut, in den es hineinregnet“. Chapeau!