Indisches Theater

Vor allem seit Beginn der englischen, niederländischen und französischen Kolonialisierung Indiens ist das Theater Südasiens in den Blick europäischer Theaterschaffender geraten. Insbesondere das klassische Sanskrit-Theater Südindiens war früh in englischen Übersetzungen zugänglich. Groß war besonders die Wirkung des Stücks Abhijñānaśākuntalam von Kālidāsa zeigt, mit dem sich August Wilhelm Schlegel und Goethe befasst haben.

Verbindende Elemente indischer Theatertraditionen

In fast allen Theaterformen Indiens sind gemeinsame Merkmale erkennbar:

  • die gemeinsame Textgrundlage, die in den Epen (Mahābhārata, Rāmāyaṇa) und den Puranas besteht;
  • die Verbindung mehrerer Sparten (Tanz, Gesang, Instrumentalmusik, Sprache, Schauspiel);
  • eine Schauspieltechnik, die auf distanzierendes Zeigen setzt und in der Regel keine Identifikation mit der Rolle erfordert;
  • Bezüge zum Sakralen, aus dem sich viele Theaterformen herleiten;
  • eine mehr oder minder strenge Kodifizierung der Körpersprache;
  • das Zurücktreten der Sprache gegenüber anderen Ausdrucksmitteln;
  • die Orientierung am Nāṭya Śāstra, dem Sanskrit-Handbuch der indischen Tanzkunst;
  • die Beachtung von Stimmungen (bhava) in drei Gruppen (sthayi, sanchari, sattvika), die wiederum bestimmten Gemütszuständen entsprechen (rasa) und bestimmten Göttern und Farben zugeordnet sind: Śṛṅgāraḥ: Liebe, Vishnu, hellgrün; Hāsyam: Humor, Shiva, weiß; Raudram: Wut, Shiva, rot; Kāruṇyam: Mitleid, Yama, grau; Bībhatsam Abscheu: Shiva, blau; Bhayānakam: Entsetzen, Yama, schwarz; Veeram: Heldenmut, Indra, safrangelb; Adbhutam: Erstaunen, Brahma, gelb.

Formen des indischen Theaters

Kūtiyattam: Sakrales Tanz- und Musiktheater Keralas, aufgeführt in einem Tempeltheater (kuttampalam) oder in eigens gebauten Spielstätten, verbunden mit einem monologischen Erzähltanz (chākyār kūthu); typisch sind ein großer Reichtum kanonisierter Gesten, schwere Schminkmasken, üppige Kostümierung und eine an die Vedenrezitation angelehnte Dialogführung; Begleitinstrumente sind die Trommel (idakka), der Kupferkessel (mizhavu), das Paarbecken (elathalam), die Kegeloboe (kuzhal) und das Schneckenhorn (shankh); die Bühne ist nur durch eine Metalllampe erleuchtet, alle Schauspieler bleiben auf der Spielfläche anwesend; die Aufführungsdauer einzelner Akte liegt bei 5-10 Tagen, Schauspieler können zu einzelnen Versen eigene Stücke entwickeln (attaprakaram); zum Ensemble gehören männliche Schauspieler (cākyār), die auch den Narren (vidushaka) spielen, weibliche Rollen (naṅṅyār) und Musiker (nampyār); der Narr spricht die regionale Verkehrssprache Malayalam und kommentiert das Spielgeschehen, die anderen Rollen verwenden Sanskrit; das Kutiyattam fordert keine vollständige Identifikation des Schauspielers mit dem dargestellten Wesen, Rollenwechsel (pakarnnattam) ist möglich; zur Verbreitung im In- und Ausland trug insbesondere Māṇi Mādhava Chākyār bei;

Bharata Nātyam: In Südindien entstandenes, aber oft als panindisch angesehenes Tanztheater ursprünglich sakralen Inhalts; der Tanz kombiniert nicht-mimetische Elemente (nritta) mit erzählenden Gesten (nritya), die streng formalisiert und dramaturgisch angeordnet sind; im Zusammenspiel mit der Mimik und dem Blick erzählen die kodifizierten Hand- und Fußgesten (mudra) die Handlung, der Oberkörper bleibt aufrecht;

Yaksagāna: Vom Bhuta-Kult ausgehendes Tanztheater der südindischen Küstenregionen; der Prinzipal der Truppe übernimmt die Rolle des Sängers (bhāgavata), Haupttänzers und Taktgebers; er kommentiert das Geschehen und führt die Rollen ein; von großer Bedeutung ist auch der Spaßmacher (hāsyagāna), der das Geschehen mit lokalen Bezügen anreichert; die Stoffe selbst stammen in der Regel aus den indischen Epen; dabei treten erzählende Passagen gegenüber den Liedern in den Hintergrund; die Bühne ist traditionell ein abgeerntetes Reisfeld, auf dem mit Pfosten ein Viereck markiert wird, das ein schwarzes Tuch nach hinten abschließt; ein Podest beherbergt das Orchester, nach vorne begrenzt ein kleiner Altar das Spielfeld; die Darsteller sind reich kostümiert und tragen zu kräftigen Schminkmasken reichen Kopfputz; die Aufführung dauert die ganze Nacht, dramatische Kampfszenen schließen am frühen Morgen das Stück ab; die Tanzschritte sind stark kodifiziert, im Bereich der Handgesten herrscht größere Freiheit;

Kathakali: Höfischer Erzähltanz Keralas, der auch Elemente traditioneller Kampfkünste aufnimmt; die Stoffe stammen aus den Epen und den Puranas; gegliedert ist eine Kathakali-Aufführung in zwei Erzähl- und zwei Tanzsequenzen; typisch ist die Verbindung von Hochsprache und Volkssprache (Sanskrit und Malayalam), ein reicher Kanon an formalisierten Gesten, Schminkmasken mit den üblichen Symbolfarben, üppige Kostüme, eine intensive Mimik und eine besonders auffällige Blickgestaltung; die Aufführung wird begleitet von Instrumentalisten mit drei verschiedenen Trommeln und Vokalisten, die sich mit Zimbeln begleiten.

 Chhau: Theatertänze Ost- und Nordindiens, die kurze Szenen aus den Epen und den Puranas zeigen und aus Waffentänzen entstanden sind; unterschieden werden der noch recht kriegerische Purulia Chhau, der Frühlingstanz Seraikella Chhau und der dörfliche, vor allem Hanuman gewidmete Mayurbhanj Chhau; nach der Entmachtung der Fürsten sind die Kostüme beim Chhau herute weitaus schlichter; durch den Einsatz von Masken verlagert sich der Ausdruck auf die akrobatische Gestik und die Haltung; etwa 50 Bewegungskonventionen (upalaya) werden unterschieden, zu denen jeweils eine charakteristische Trommelsprache gehört; die Begleitmusik ist reich an Instrumenten und wird noch durch den Einsatz von Fußglöckchen (ghunghur) unterstrichen; getanzt wird recht schnell, mit Schilden und Stöcken (anstelle der früher üblichen Schwerter); auch der Chhau wird nachts im Freien aufgeführt, die Spielstätte wird durch vier Pfosten abgegrenzt;

Swang: Traditionelle Volkstheater in den jeweiligen Regionalsprachen, das Bezug nimmt auf lokale und regionale Stoffe und eine volkstümlich unterhaltsame Handlung bietet; ein Ensemble umfasst Tänzer, Sänger, Musiker, zuweilen auch Clowns und Akrobaten; gegenüber der früheren Verssprache dominiert später die Prosa, die Handlungsdauer verkürzt sich zusehends;

Bibliographie

  • Steiner, Karin (Hg.); Brückner, Heidrun: Indisches Theater: Text, Theorie, Praxis. Wiesbaden: Harrassowitz, 2010 (Drama und Theater in Südasien; 8)
  • Link, Hilde K.: Indisches Drama: Eine Ethnologin erzählt. Berlin: Reimer, 2020
  • Baldissera, Fabrizia ; Michaels, Axel: Der indische Tanz : Körpersprache in Vollendung. Köln: DuMont, 1988
  • Rebling, Eberhard: Die Tanzkunst Indiens. Wilhelmshaven: Heinrichshofen, 1982
  • Schneider, Wolfgang (Hg.); Khan, Imran: Mehr als ein Kinderspiel:Theater für ein junges Publikum in Indien. Berlin: Theater der Zeit, 2011 (Theater der Zeit. Spezial; 2.2011)