Abschied, Abitur

Abitur. Drei Stunden Aufsicht. Dunkle Locken fallen, einer seufzt, dort rollt ein Stift. Wie viele sind mir fremd geblieben! Und dennoch: Mich umfängt Schwermut, wenn ihr geht. Wenn der Sommer am tiefsten ist, lockt euch die Welt. Ich trete ans Fenster und sehe den Fliegen zu, die an den Blättern einer Salweide hängen.

Mein Vorsatz, euch zu mögen, hat euch mir verbunden – gebunden bin auch ich. Aber ihr geht, ich bleibe. Aus der Tatsache eures Aufbruchs ergeben sich zwei sehr verschiedene Haltungen zum Examen. Für mich ist es ein Abgehen, für euch ein Losziehen.

Ihr lasst hinter euch: Kindheit, Elternhäuser, Zwang, Geborgenheit. Auch eure Schulen lasst ihr zurück: betörende Neuheit der ersten Liebe. Verdämmerte Stunden zwischen Alexander und Algebra. Lehrer, die euch verletzt haben; Lehrer, die euch gleichgültig sind. Lehrer, die euch gesehen haben – Lehrer, die euch übersehen haben. Triumphe, Niederlagen, und die Endlosigkeit staubiger Sommer.

Was erwartet euch! Jugend, die sich beweisen soll – zögerlicher Flügelschlag. Ängstliche Hoffnungen, Zukunft, Wagnis, Traum. Ihr seid unsterblich, weil ihr jung seid, frei, weil ihr schön seid:

„In die heitre freie Bläue
In die unbegränzte Weite
Will ich wandeln, will ich wallen
Nichts soll meine Schritte fesseln.“
 

Wo wird man euch finden, in zehn Jahren, in zwanzig? In wohlsortierten Eigenheimen, im Dschungel, in der Gosse? Ihr sitzt vor mir, aufgetürmtes Haar, Jogginghose, Traubenzucker, Brote, belegt mit mütterlicher Sorge. Kann man sehen, was aus euch wird?

Später: Ballnacht, Sporthalle. Ihr Verzauberten. Letzte Jungmännerrituale. Dann und wann kommt einer herüber, bedankt sich, verschämt, die Nacht gehört ja nicht uns. Wir sitzen auf gemieteten Stühlen, der Anzug zwickt, beschwipste Prinzessinnen schweben vorüber. Wir essen, ihr tanzt. Mikrophone, Lokalstolz, Streichquartett.

Dann: seid ihr weg. Und jetzt? Wie geht es uns? Die Räume der Selbstentdeckung sind eng geworden, die Provinzen unseres Ichs kartiert. Das Denken wird langsam, wer ein Genie war, ist nun keines mehr. Wir sind souverän geworden, zu souverän, zu routiniert. Wir denken von Stunde zu Stunde, von Jahr zu Jahr. Schüler kommen, Schüler gehen. Neue Klassen, neue Gesichter. Der Stoff dreht sich in endlosen Spiralen, wir ergrauen, dann und wann kippt einer aus den Schuhen. Nichts bleibt.

Nichts? Bernstein unserer Erinnerungen: Ungesagtes, Unsagbares umhüllt von goldener Sehnsucht. Manchmal noch werden wir sie ausbreiten, insgeheim, vor dem dunklen Spiegel unserer Sterblichkeit. Nachts, wenn wir jung sind. Dort kehrt ihr wieder, wie ihr vor uns saßt, mit milden, mit wilden Augen. Du, kleine Günderode, du, großer Achill. Eure Neugier, eure Wut, eure Heftigkeit: Hier bleibt ihr, wer ihr seid, forever young.

Wir sind Brücken, die man überquert, nach denen man sich nicht umschaut. Zweckdienliche Bauten über mäßig dahinfließendem Gewässer. Plaudernd geht man hinüber, versinkt vielleicht in fremden Augen, spürt den Wind. Manchmal wollen wir uns aufbäumen, wie Kafkas Brücke, Brücke dreht sich um! Manchmal wollen wir euch sagen, wie es ist, erwachsen zu sein, älter zu werden, alt zu werden. Wir wollen erzählen vom Fluss der Zeit, vom Verhallen der Schritte, von der Einsamkeit. Das Unerzählte erzählen und das Schweigen brechen.

Von denen, die vor euch gegangen sind, wissen wir nichts. Dann und wann ein paar Zeilen, eure Züge in der Lokalzeitung. Hastiges Gespräch am Bahnhofsabgang, Kramen nach Namen und fossilen Anekdoten. Wir überspielen, dass wir euch nie kannten, ihr, dass ihr uns nie kennen wolltet. Unsere Oberflächlichkeit kommt zurück, umkreist unsere Belanglosigkeiten, hämisch, endlich: gottlob, der Bus.

Ich rate meinen Schülern, nicht zurückzukommen. Die Fremdheit ist schnell, fegt die Vertrautheit aus den Ecken, in denen ihr saßt. Fremde, jüngere Gesichter. Die Schule hat nichts mehr für euch übrig, nichts mehr zu tun mit euch, die Leere ist erschreckend. Vergeblich sucht ihr nach der Asche längst erloschener Beziehungen, dem Reiz unerfüllter Pflichten, nach Verlässlichkeit. Der Putzdienst schiebt eure Vergangenheit mit breiten Besen zusammen.

Bald ist es soweit, die Uhr zeigt kurz nach eins. Der Wind streicht die Fliegen von den Blättern. Bald liegt der erste Bogen da, zierlich beschrieben, oder schief, krakelig oder in breitem Schwung. Ich bin nur die Aufsicht. Von draußen Stimmen. Bald werdet ihr gehen. Auch ich darf nicht bleiben.