Robert Boehringer: Ein Winnender im Bann des Meisters

Wohl dem Kinde, das in einer kleinen, in einer solchen Stadt aufwachsen darf. (Robert Boehringer, Winnenden, 1966; in: Kleine Schriften, 1981).

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Bild: Robert Boehringer, Fotografie, etwa 1935, StA Winnenden

Robert Boehringer kommt am 30.7.1884 als Sohn des Chemikers Paul Adolf Boehringers und Hedwig Ohlys in Winnenden zur Welt, wo er seine Kindheit verbringt. Später zieht die Familie nach Basel, wo er Nationalökonomie, Geschichte, Literatur- und Kunstgeschichte studiert und zum Dr. phil. promoviert wird. Von 1915 leitet Robert Boehringer in Vertretung seines Onkels bis 1920 das Unternehmen C. H. Boehringer in Ingelheim, das heute als Boehringer Ingelheim das größte forschende Pharmaunternehmen Deutschlands ist. Von 1920 bis zu seinem Rückzug aus dem Berufsleben ist er am Aufbau der Firma Hoffmann-La Roche in Basel beteiligt. 1930 zieht er mit seiner Familie nach Genf. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gibt Boehringer auf äußeren Druck seine deutsche Staatsangehörigkeit auf und wird Schweizer. Er begründete das Hilfswerk „Commission mixte de Secours de la Croix Rouge Internationale“ und arbeitet nach dem Krieg bei der J. R. Geigy AG für chemische Produkte zur Seuchenbekämpfung (HLS, 2008).

Unabhängig von seiner Berufslaufbahn wirkt Boehringer auch als Übersetzer und Dichter. 1905 wird Boehringer in den Kreis um den Lyriker Stefan George aufgenommen, zu dessen engsten Vertrauten er zählt. Von George wird er nach dessen Tod 1933 zum Erben und Nachlassverwalter bestimmt. Gemeinsam mit Frank Mehnert und Berthold von Stauffenberg verwaltet den literarischen und persönlichen Nachlass Stefan Georges und finanziert Werkausgaben des Lyrikers. Boehringer veröffentlicht mehrere Werke zu George, darunter die zweibändige Biographie Mein Bild von Stefan George. Ferner gibt er den Briefwechsel zwischen George und Hugo von Hofmannsthal heraus. Außerdem befasst sich Boehringer mit der Rezitationskunst (Über das Leben von Gedichten) und untesucht Porträts Homers und Platons (Das Antlitz des Genius. Platon, 1935; Das Antlitz des Genius. Platon, 1937). 1959 gründet er in Georges testamentarischem Auftrag die Stefan George Stiftung und das Stefan George Archiv, das der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart angegliedert ist. Boehringer stirbt am 9.8.1974 in Genf und wird in Florenz bestattet.

Bezug zu Winnenden

Nach Robert Boehringer, Winnendens Ehrenbürger des Jahres 1956, ist die Robert-Boehringer-Straße benannt, die von der Ringstraße bis zur Schloßstraße verläuft, dann abknickt und schließlich in die Paulinenstraße mündet. Die Robert-Boeringer-Gemeinschaftsschule, als Hauptschule gegründet, hat im Zuge der Zusammenlegung mit der Schwaikheimer Ludwig-Uhland-Schule ihren Namen eingebüßt.

Die unmittelbarste Quelle für Boehringers Bezug zu Winnenden ist dessen Aufsatz Winnenden. Er entsteht 1966 und erscheint in den Kleinen Schriften, verlegt 1981 bei Klett-Cotta in einer Kleinauflage von 500 Exemplaren. Boehringer blickt darin auf seine Kindheit in Winnenden zurück, wo am Buchenbach die pharmazeutische Fabrik des Vaters lag. Boehringer Mutter Hedwig Ohly, die sein Vater in Mailand kennenlernt, bringt italienische Kultur nach Winnenden, unter anderem eine Ausgabe der Divina Commedia, die später in den Besitz ihres Sohnes übergeht. Die Verbindung zwischen Italien, der Heimat der Mutter, und dem schwäbischen Geburtsort Winnenden sieht Boehringer in den Staufern. Boehringer die damalige Schule am Bengelplatz, die über dem Portal noch immer die von Boehringer zitierte Inschrift trägt: „Schola est Seminarium Rei Publicae“ („Die Schule ist die Pflanzstätte des Staates“). Die Villa, die einst den Boehringers gehörte, liegt in der nach Robert Boehringer benannten Straße.

Bild: Villa Boehringer, Robert-Boehringer-Straße 3; Foto: Winnenden, Stadtarchiv (S. Reustle)

Der Schulweg des Jungen führt über die Tor- und Wagnerstraße in die Turmstraße, wo Boehringer den Diebsturm passiert, ehe er die Marktstraße quert. In der Schule im Bengelhaus entdeckt einer seiner Lehrer Boehringers Leidenschaft für Lyrik: „Was ischt denn mit Dir? Du bischt ja ganz begeischtert.“ (Boehringer, S. 81). Allerdings läuft Boehringer in der Pause auch einmal mit einer Mitschülerin davon. In der Quinta erfolgt der Übertritt in die Lateinschule, wo er sich mit den unregelmäßigen Verben herumschlägt, an den „gereimten Genus-Regeln“ aber Vergnügen findet (Ebd. S. 82). Winnendens Menschen und Orte prägen Boehringers Kindheit: Als Kind wird er dem Bürgermeister vorgeführt, weil er Wahlplakate herunterreißt, auf dem Torturm werden noch Choräle geblasen, vor dem Rathaus steht noch ein Pferdetrog. Nur bedingt trifft heute noch zu, was Boehringer beschreibt: „Winnenden ist gewachsen und hat doch den Kern bewahrt“ (Ebd. S. 79). Die Anzahl der Apotheken hat sich vermehrt, die „pausbackige Justitia“ auf dem Marktbrunnen ist verschwunden, das Gasthaus „Löwen“ auch. Boehringers Winnenden bietet das Bild einer von Bauern und Handwerkern geprägten Stadt. Boehringer sieht „Männern zu, die im Dreitakt droschen“ (S. 80), beobachtet Frauen beim „Hopfenzopfen“ und Bauern beim Dengeln ihrer Sensen. Besonders nachhaltig ist Boehringer die „Königliche Heilanstalt Winnenthal“ in Erinnerung geblieben, wenngleich sie dem Jungen unheimlich erscheint. In einer eigentümlichen Mischung von Schauer und Neugier beschreibt er seine Erlebnisse:

Vom Rathaus-Platz führt die Schlossgasse zum Schloss Winnental, der Heil- und Pflegeanstalt. Da die Eltern mit den Ärzten und dem Verwalter verkehrten, durften wir am Torwärter vorbei in den Schlossgarten. Dort steht ein Denkmal für den Mops, der seinem Herrn nachlief von Belgrad bis Winnental. Aber dort sahen wir auch Gesichter hinter Gittern, und wenn wir an der Schlosskirche vorübergingen, deren Altar und Grabsteine mich anzogen, hinunter ins Wiesental, mussten wir zwischen Mauern unter einer gedeckten Holzbrücke durchgehen. Da wir auf dem Weg manchmal Klagen hörten und Heulen, gaben wir uns die Hände, um schnell unter der Brücke durchzulaufen oder zu springen, wie wir sagten. […] Aus der Anstalt, in der einst Lenau und Julius Robert Mayer Unterkunft gefunden hatten, wurden Pfleglinge, denen es besser ging, zu Familien in die Stadt gegeben. Einer von ihnen kam im Schlafrock zum kleinen Brunnen an der Ecke, wo wir spielten. […] Er bewohnte ein Zimmer, dessen Fenster auf die Strasse gingen. Auf Zehenspitzen blickten wir hinein. Da sahen wir, wie er im Dunkeln stehend, zur Wand gekehrt, auf einer Geige spielte. Schaute er auf, rannten wir davon.“ (Ebd. S. 79 f.).

Die chemische Fabrik, die Paul Adolf Boehringer leitete, lag am Buchenbach, wo die Kinder badeten. Boehringer erhält Einblick in die Produktion, kommt in Berührung mit Opiumbroten, Jodoform, Quecksilber. Auf dem Gelände der Fabrik hat der Vater Spargel gepflanzt. Es ist der Niedergang der väterlichen Winnender Fabrik, der den Umzug nach Hamburg bewirkt – zuletzt ist dort nur noch ein Arbeiter beschäftigt.

Bibliographie

  • Leuenberger, Martin: Boehringer, Robert. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 25.11.2008. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/029884/2020-01-09/ (17.07.2020)
  • Robert Boehringer: 1884-1984: Gedächtnisausstellung, 31.Oktober bis 11.November 1984, Stadthalle Winnenden (Katalog). Winnenden: Stadtverwaltung, 1984
  • Boehringer, Robert: Kleine Schriften. Stuttgart: Klett-Cotta, 1981