Erzählte Vergangenheit: Die Winnender Stadtgeschichte Gotthold Börners

Gotthold Börner

Bild: Oberlehrer Gotthold Börner um 1925. Papierabzug auf Karton, 40 x 30 cm (E. Weber), StA Winnenden

Gotthold Börner kommt am 10.11.1873 in Winnenden zur Welt. Sein Vater ist Friedrich Börner, Mitglied der Hahn’schen Gesellschaft und Inhaber eines Wollwarengeschäfts; seit 1650 leben die aus Thüringen zugewanderten Börners bereits in Winnenden. Seit 1909 unterrichtet Börner in Winnenden. Zusätzlich zum Lehramt ist Börner Leiter des Bezirkslehrervereins, Mitglied des Ortsschulrats und des Gemeinderats und Vorstand des Evangelischen Kirchenbunds. Auch im Verwaltungsrat der Paulinenpflege wirkt Börner mit. Seine einzige Publikation, Winnenden in Sage und Geschichte, kommt um Pfingsten 1922 zum Abschluss und erscheint nach zehnjähriger Vorarbeit 1923. Insbesondere um die Paulinenpflege macht sich Börner verdient, indem er ausgewanderte Winnender um Unterstützung bittet. Am 11.10.1931 stirbt Börner „nach mehrjährigem, schmerzhaftem, mit Ergebenheit getragenem Leiden“ und wird am 14.10. auf dem Stadtfriedhof beigesetzt. Der Nachruf vom 14.10.1931 beschreibt ihn als „in sich gekehrte, tief religiöse Natur“. 

Zur geplanten Neubearbeitung seines Geschichtsbuchs kommt Börner nicht mehr. Schon nach der Erstausgabe hatten ihn Experten der Landesgeschichte auf problematische Einzelheiten hingewiesen, darunter Georg Wagner, Herausgeber des Nagolder Heimatbuchs, Peter Goeßler, Direktor der Altertümersammlung Stuttgart, und Oskar Paret, Konservator in Stuttgart (Funk / Halder, 1999). Börners Handexemplar mit Streichungen und Anmerkungen deutet darauf hin, dass Börner die Kritik durchaus angenommen hat.

Der „Börner“: Winnenden in Sage und Geschichte (1923)

Als Börner „Winnenden in Sage und Geschichte“ abschließt, hat die Inflation das Deutsche Reich fest im Griff. Zudem müssen Reparationen gezahlt werden. Allerdings gibt es auch Entgegenkommen: Zumindest von englischer und russischer Seite werden Forderungen erlassen, während Frankreich in den besetzten Gebieten Industrieanlagen demontiert. Erfolge der NSDAP führen zu Gegenmaßnahmen der deutschen Länder, die langfristig ohne Erfolg bleiben. Vor diesem Hintergrund wirkt Börners Geschichtsbild verhältnismäßig moderat, sieht man vom der aufgeheizten Stimmung der ersten Kriegswochen ab, die auch in Börners Darstellung zu nationalistischen Entgleisungen führt.

Bild: Oberlehrer Gotthold Börner mit seiner Klasse, Photographie, 1925 (Privatbesitz: Karl Apel)

Gotthold Börner versteht die Episoden seines Geschichtsbuchs als Erzählbilder, als Versuch, Erlebtes und Erlesenes für eine lebendige Tradition zu erschließen. Der Historiker ist nach Börner dreierlei: Er bewahrt, was sonst vergessen würde, er sammelt, was sonst verstreut läge, und er deutet das Gefundene im Geist der „Heimatliebe“ (Börner, S. 15). Die Geschichtsschreibung hat deshalb zweierlei Aufgaben: Einerseits soll sie dem „Heimatboden geschichtliches Leben einhauchen“ (Ebd., S. 16), die Landschaft erzählbar machen, andererseits soll sie „die Geschichte unseres Volkes durch die heimatliche Landschaft fester begründen und belebend durchatmen“ (Ebd.). Damit beschreibt Börner den Versuch, Historisches am Objekt fassbar und vermittelbar zu machen – Börner spricht als Pädagoge. Weil Börners Ansatz erzählerisch ist, darf er nicht an den strengen Kriterien historiographischer Wissenschaftlichkeit gemessen werden. Wer das tut, verkennt Börners Programm. Der Text wird mit literarischen Mitteln aufbereitet, Börner bietet seinen Lesern Erlebnis geschichtlicher Ereignisse, wie sie hätten sein können.

Dies trifft besonders auf die ersten Kapitel zu, die archäologische Quellen in den Horizont der südwestdeutschen Geschichte einordnen. Börner beginnt mit der Entstehung des Haselstein und des Breitlauchs, wobei er auf den vielfach dokumentierten „Mammutelefanten“ von Hertmannsweiler eingeht. Die keltische Zeit, die Zeit der römischen Besetzung und der alemannischen Einwanderung bestreitet Börner zum größten Teil mit erzählerischen Konjekturen. So erfindet Börner Orte auf Winnender Gemarkung, um den Alltag der fiktiven Pfahlbauern von „Vineta“ (End. S. 37) zu erzählen. Dabei bemüht sich Börner durchaus, seine Erfindungen als „dichterisches Bild“ oder „Sage“ zu kennzeichnen. Je weiter Börner ins Mittelalter vorrückt, desto dichter wird das Netz seiner Belege. Dennoch dramatisiert und charakterisiert er, wann immer sich eine gute Möglichkeit bietet, Fakten in Geschichten einzukleiden. Nach der „Stadt und Burg Winiden“ (V.) behandelt er die „Denkmale mittelalterlicher Frömmigkeit“ (V.), ehe er von der Geschichte der württembergischen Grafen und Herzöge (VI.) zum Konfessionsstreit (VI.) übergeht. Personen- und Ereignisgeschichte verbinden die folgenden Abschnitte: Ein eigenes Kapitel ist dem „Jammer des 30jährigen Kriegs“ gewidmet; das 17. und 18. Jahrhundert geht vom Schloss aus und schildert das Schicksal der „fürstliche[n] Residenz in der Zeit der Franzosennot“ (X.). Seine Gegenwart erreicht Börner im vorletzten Kapitel: „Mit nichten die kleinste unter den Städten des Königsreichs“ (XI.). Angehängt sind Berichte und Briefe aus dem Ersten Weltkrieg, der Börner unmittelbar betrifft. Neben hohlem Hurrapatriotismus und erschreckender Brutalität spiegeln die Texte auch Verzweiflung und immer wieder die Sehnsucht nach der Heimat. Man macht es sich zu einfach, wenn man Börner eine selektive Darstellung des Krieges unterstellt. Die Auswahl der Zeugnisse ist durchaus facettenreich, soll aber zum Einsatz fürs „Vaterland“ mobilisieren: „Was tust Du für die unglückliche und doch so liebe, treue Heimat?“ (S. 555). Es wäre jedoch verfehlt, darin eine Aufforderung zur Revanche zu verstehen.

Die Neuausgabe des „Börner“ durch Willi Halder

Bild: Vorderseite des Einbands der Neuausgabe von „Winnenden in Sage und Geschichte“ durch Willi Halder, 1999

Börners „Winnenden in Sage und Geschichte“ ist lange vergriffen, als ein Winnender Bürger an den Winnender Buchhändler Willi Halder herantritt: Ob der „Börner“ nicht wiederaufgelegt werden könne? Nach einer Einschätzung des möglichen Subskribentenkreises leitet Halder die Neuausgabe von 1000 Exemplaren ein, zu einem Ladenpreis von 48 Mark (zuletzt 28 Euro). Allerdings gibt es innerhalb Winnendens Widerstände gegen die Neuausgabe. Zum einen wird befürchtet, Börners Ansehen könne Schaden nehmen, etwa durch das Offenlegen seiner politischen Haltung und durch mögliche Kritik an seiner Arbeitsweise. Andere beanstanden Recherchemängel. Das Buch sei in weiten Teilen historisch unpräzise, zudem würden Fakten und Konjekturen gemischt.

Ist die Kritik berechtigt? Zweifellos stellt Börner die Winnender Geschichte aus nationalem Blickwinkel dar, was in der Zwischenkriegszeit nicht verwundert. Trotz seiner monarchistischen Vorlieben und einer insgesamt nationalkonservativen Haltung erscheint er im Urteil vergleichsweise zurückhaltend. Dass Börner nicht immer in aller Gründlichkeit recherchiert hat und die Befunde nach Gutdünken interpretiert, trifft sicher zu. Dass er damit „echter“ historischer Forschung im Weg steht, ist allerdings zu bezweifeln. Noch immer ist Börners Arbeit - bei aller dichterischer Freiheit - das einzige lesbare Überblickswerk zur Stadtgeschichte.

Börner war Laie, kein Historiker vom Fach. Mit seinen Ämtern und durch die schulischen Pflichten war der Winnender Oberlehrer zweifellos eingeschränkt in seinen Möglichkeiten. Ferner darf man nicht verkennen, dass Börners Ansatz nicht auf das Feststellen unanfechtbarer historischer Wahrheiten zielt. Börners erklärtes Ziel ist ein anderes:

„So sind die Winnender Geschichtsbilder wohl eine willkommene Gabe nicht nur für die Familie, sondern auch für den Geschichtsunterricht der Schule. Mögen dabei recht viele meiner Landsleute hier und in der Ferne gewinnen, was den meisten Deutschen unserer Tage so schmerzlich fehlt – die auf geschichtlichem Denken und Wissen begründete Liebe zu Volk und Vaterland.“ (Börner, S. 16).

Bei aller Quellenarbeit geht es Börner um erzählerische Plausibilität und volkserzieherische Wirkung, nicht um wissenschaftliche Akkuratesse. Im pädagogischen Umfeld, in dem er sich als Oberlehrer bewegt und in dem das Buch zum Einsatz kommt, steht weniger der schlagende Faktenbeleg im Vordergrund als Selbstbestätigung und die Suche nach Identität. Börner schreibt zumeist als Winnender Lokalpatriot, selten als deutscher Nationalist. Auch in einem kurzen Nachwort wird deutlich, dass Börners Motiv nicht notwendigerweise darin liegt, seine Heimatgeschichte in den Dienst einer nationalen Agenda zu stellen:

„Eine liebliche, behagliche Heimat haben uns die Väter durch nimmermüde Arbeit von Jahrhunderten und Jahrtausenden gestaltet und vererbt. Wir wollen sie lieben von ganzem Herzen und auch daran arbeiten, daß sie weiter wachse, blühe und gedeihe!“ (Börner, S. 489)

Im Herbst 1999 erscheint Halders im Kern unveränderte Neuauflage mit vier ergänzenden Vorworten, gedruckt und gebunden bei der Paulinenpflege. Eine allgemeine Einordnung bietet das „Vorwort zur Neuausgabe“ des Buocher Heimatforschers Karl Apel. Mit den Leistungen Börners und den Schwächen der Darstellung setzt sich das Vorwort des ehemaligen Bürgermeisters Friedrich Seibold auseinander. Karl Heinrich Lebherz, ehemaliger Oberbürgermeister Winnendens und Verfasser der „Vorbemerkungen zu Kapitel XII“, entschärft die bei Börner noch spürbare Feindschaft gegenüber Frankreich mit dem Hinweis auf die europäische Verständigung seit 1945. Halder selbst versteht die Neuausgabe als Versuch, Börners Buch wieder zugänglich zu machen.

Die Presse nimmt die Neuausgabe wohlwollend auf, Börners Buch selbst aber kritisch. Rudolf Zeiffer verweist in seinem Artikel in der Winnender Zeitung auf den zweifelhaften Wert als historische Quelle: „Ernsthafte Historiker langen nur mit ganz spitzen Fingern nach diesem Buch. Sie wissen, daß Börner im Titel des seinerzeit im Selbstverlag herausgebrachten Schmökers einen ganz wichtigen Buchstaben ‚vergessen‘ hat: das Plural-N beim Wort ‚Geschichte‘“ (Zeiffer, 1999). In einer ersten Rezension in der Stuttgarter Zeitung vom 17.5.1999 sieht Peter Schwarz Börners Arbeit als „Dokument der Zeitschichte“ und zitiert Halder mit dem Hinweis, der Mythos um Börners Buch solle entzaubert werden (Schwarz, 1999a). Regina Urban (heute: Munder) schreibt in einer Glosse aus der Reihe Gehört und notiert am 14.8.1999 in der Waiblinger Kreiszeitung: „Wir alle wissen, dass Gotthold Börner bereits im Titel seines Buches nicht mehr als die halbe Wahrheit sagt: Viel Sage, viele Geschichten, Geschichte aber? Kaum!“ (Urban, 1999). Am 6.12.1999 verweist Peter Schwarz in seiner zweiten Rezension auf den Unterhaltungswert der Darstellung: „Nicht immer ist das Buch historisch korrekt – was auch gar nicht in Anspruch nimmt. Geschichten, Sage und Historie mischen sich zu einem einzigartigen Werk, das in seiner Fabulierlust oft an Karl May erinnert“ (Schwarz, 1999b).

Fazit

Börners Geschichtsbuch ist für den kritischen Leser nach wie vor eine interessante Quelle für die Winnender Geschichte und das Geschichtsbild der Zwanziger. „Winnenden in Sage und Geschichte“ ist der Versuch eines ambitionierten Laien, Stadtgeschichte mit den Mitteln des historischen Romans pädagogisch aufzuarbeiten. Der „Börner“ steht es in einer langen Tradition einer populären Historiographie, die sich um Faktentreue bemüht, der es aber vorrangig um Erziehung geht. Das sicher bekannteste Beispiel dieser Art von Geschichtsaneignung ist David Friedrich Weinlands Rulaman (1878). Mit dieser Perspektive sollte Börners Buch weiter erschlossen werden und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich bleiben.

Quellen

Ausgabe

  • Börner, Gotthold: Winnenden in Sage und Geschichte. Winnenden: 1923, Selbstverlag
  • Börner, Gotthold: Winnenden in Sage und Geschichte. Winnenden: W. Halder, 1999 [Neuausgabe]

Zu Börner und zur Neuausgabe

  • Oberlehrer Börner, Winnendens Chronist [Nachruf]. In: Winnender Zeitung, 14.10.1931, StA Winnenden
  • Urban, Regina: Gehört und notiert. In: Waiblinger Kreiszeitung, 14.8.1999
  • Zeiffer, Rudolf: „Die trauten Stätten der Heimat“: Gotthold Börners „Winnenden in Sage und Geschichte vor der Neuauflage“. In: Winnender Zeitung, 19.3.1999
  • Brief von Elsbeth Funk an Willi Halder, Stuttgart, 19.8.1999, StA Winnenden
  • Schwarz, Peter: „Hohio, hohio, die Barbaren kommen!“: „Winnenden in Sage und Geschichte“ soll wieder aufgelegt werden. In: Stuttgarter Zeitung, 17.5.1999
  • Schwarz, Peter: Frei nach der Winnender Stadtgeschichte. Gotthold Börners Klassiker „Winnenden in Sagen [sic!] und Geschichte“als Nachdruck erschienen. In: Stuttgarter Zeitung, 6.12.1999