Kurzgeschichten schreiben

Wie Kurzgeschichten wirklich entstehen

Es gibt kein Schema F, nach dem Kurzprosa entsteht. Manche planen im Kopf voraus und werfen die Geschichte dann aufs Papier. Andere bauen sich erst auf dem Papier ihren Text zusammen. Manche spinnen ihre Geschichten aus dem Garn ihrer Träume, andere gehen von Beobachtungen aus. Manche finden zuerst den Schluss, andere wickeln die Geschichte aus ihrem Anfang. Schreiben ist für die einen leichte Lust und harter Kampf für die anderen. In der Regel vollzieht es sich höchstens halb bewusst, als Auseinandersetzung mit sich und der Sprache. Es kann jedoch nicht schaden, sein Schreiben um einige Möglichkeiten zu ergänzen. Die folgenden Schreibhilfen sind nur als Anregung gedacht. Unser Ziel ist keine veröffentlichungsfähige, massentaugliche Kurzgeschichte. Was entsteht, darf widerspenstig und anspruchsvoll sein.

Grundregeln einer Kurzgeschichte

  • Literatur gestaltet Erfahrungen. Welche Erfahrung kannst du bearbeiten?
  • Sei dir dessen bewusst, dass du Macht über dein Publikum hast. Im Verlauf der Lektüre steuerst du die inneren Bilder deiner Leserinnen und Leser.
  • Andererseits kann der Leser die Lektüre jederzeit abbrechen. Du musst dem Publikum etwas bieten – Emotionen und intellektuelle Herausforderungen.
  • Das Material deines Schaffens sind Worte. Sei dir bewusst, dass die Präzision deiner Wortwahl entscheidet, was sich dein Publikum vorstellt. Andererseits kannst du nur bedingt steuern, mit welchen Erfahrungen dein Publikum diesen Rahmen füllt.
  • Der Erzähler ist deine Kamera: Was du zeigst, das sieht das Publikum. Was du nicht erzählst, das können sie sich denken.
  • Wie im Film kannst du Schnitte gezielt einsetzen, um Räume zu verlassen, Zeitsprünge zu machen oder die Perspektive zu wechseln. Erzähle nicht jede Handlung bis ins kleinste Detail aus.
  • Es ist oft sinnvoll, die Geschichte vom Ende her zu entwerfen. So kannst du sinnvoll planen.
  • Die Geschichte sollte psychologisch motiviert Nichts geschieht ohne Grund. Du solltest aber keine Kausalketten ausformulieren.
  • Der Schwerpunkt liegt auf der inneren Handlung und der Atmosphäre, nicht auf dem äußeren Geschehen. Nutze die Kraft der Bilder.
  • Grundsätzlich gilt: Show – don’t tell. Vermeide direkte Charakterisierung, Erzählerkommentare und Bewertungen.
  • Ein oder zwei Handlungsträger genügen. Nebenfiguren sind zulässig.
  • Häufige Ortswechsel sind zu vermeiden.
  • Der Text sollte sich nicht ins Phantastische verlieren, sondern nah am Leben bleiben.

Zur Idee kommen: Inspiration

Was regt dich an?

  • Welche Erinnerung drängt sich dir auf?
  • Welcher Traum lässt dich nicht los?
  • Welcher Raum inspiriert dich? Was ist dort geschehen?
  • Welche Person fasziniert dich? Was hat sie erlebt?
  • Welches Ding spricht dich an? Worin liegt sein Rätsel?
  • Welche zentrale Botschaft willst du dem Leser mitgeben?

Was soll der Leser künftig anders wahrnehmen?

  • Was bietet meine Geschichte Neues?
  • Welche tieferen Einblicke ermögliche ich ihm?
  • Welche Konflikte biete ich ihm an?
  • Wo schaffe ich Kontraste?
  • Wo fordere ich ihn heraus?

Wie soll sich der Leser verhalten?

  • Wie soll mein Leser künftig auf die Welt reagieren?
  • Wie soll er sich dabei ändern?
  • Was soll der Leser künftig tun?

Planung der Kurzgeschichte

Grundlagen: Wann, wo, wer, was, warum?

  • Wo spielt der Text? Welcher Schauplatz passt?
  • Zu welcher Zeit spielt der Text? In einer unbestimmten Gegenwart? Heute? Morgen? Im Frühling? Abends?
  • Wer ist mein Protagonist? Was prägt ihn? Was treibt ihn an? Was behindert ihn? Welche inneren Konflikte trägt er mit sich aus? Welche Forderungen werden an ihn gestellt?
  • Welche Atmosphäre schaffe ich?
  • Welche Details hebe ich hervor?
  • Gibt es ein Leitmotiv?

Erzähltechnik und Perspektive

  • Erzählsituation: Wer erzählt die Geschichte?
  • Will ich eine direkte Leseranrede?
  • Ist der Erzähler eine Figur der Handlung? (Dann ist er homodiegetisch.)
  • Soll der Erzähler als Erzähler spürbar sein oder ganz in den Hintergrund treten? (Dann ist er heterodiegetisch.)
  • Soll der Protagonist selbst sprechen? >> Ich-Erzähler!
  • Wähle ich einen Erzähler, der den Protagonisten begleitet, seine Sicht teilt, sein Innenleben kennt? >> Personaler Er-Erzähler mit erlebter Rede und innerem Monolog!
  • Oder entscheide ich mich für einen Erzähler, der das Geschehen aus der Distanz beobachtet und mit Kommentaren einordnet? Will ich Handlungs-, Rede und Gedankenbericht sowie die Erzählszene in den Vordergrund stellen? >> Auktorialer Erzähler!
  • Hilft mir ein nüchtern beschreibender Erzähler im Präsens? >> Neutraler Erzähler!
  • Zeitpunkt des Erzählens: Wird rückblickend erzählt, im Präteritum? Oder wird der Leser mit dem Präsens in die Gegenwart der Geschichte versetzt?
  • Erzählstruktur: Brauche ich eine Rahmenerzählung? Dadurch entsteht eine Binnenerzählung!
  • Realismus: Geschieht nur, was in der Wirklichkeit auch geschehen kann? Gibt es Momente des Magischen oder Wunderbaren?

Struktur: Anfang, Wende, Schluss

  • Wie soll die Geschichte ausgehen? Ein offenes Ende – oder ein geschlossener Handlungsbogen?
  • Wie baue ich die Geschichte auf? Wo ist der Wendepunkt? Wie entsteht Spannung?
  • Wie soll ich anfangen? Mitten in die Handlung stürzen, mit einem Einstieg in medias res? Dem Leser Orientierung geben mit einer Exposition?

Überarbeitung: Was soll der Leser spüren? Was soll er hören und sehen?

  • Welche Farbsymbole brauche ich?
  • Welche Dingsymbole sind hilfreich?
  • Könnte Temperatur eine Rolle spielen?
  • Wie gestalte ich den Raum aus? Enge, Weite?
  • Was wird aus der erzählten Zeit? Ist es Nacht, Morgen, Mittag, Abend oder Nacht? In welcher Jahreszeit befinden wir uns?
  • Wie gehe ich mit der Erzählzeit um? Wo will ich meine Leser Eile spüren lassen? Raffendes Erzählen! Wo mäandert meiner Erzählung langsam dahin? Dehnendes Erzählen! Wo nehme ich ihn mit in die Handlung? Zeitdeckendes Erzählen!
  • Rhythmus: Wie entfalte ich meine Sätze? Sollen sie kompliziert und hypotaktisch sein – oder einfach und parataktisch? Wo sind elliptische Sätze sinnvoll?

Erzählerischer Feinschliff

  • Wie kann ich den Einstieg überraschender, glaubwürdiger gestalten?
  • Wo sind Beschreibungen zu üppig?
  • Wo kann ich Wortschablonen und Stereotypen vermeiden?
  • Wo sind Dialoge zu schwerfällig?
  • Wo muss ich noch Sätze oder Satzteile wegnehmen, um den Lesern Raum für die Phantasie zu geben?
  • Wie deute ich auf den Schluss voraus?
  • Welchen Titel gebe ich der Geschichte?
  • Wäre ein Motto sinnvoll?

Beispiel: An einem Mittwoch

Wie ein Pfahl lag sie da, lauschte dem fernen Knallen der Autotüren. Sie stak in ledriger Hülle, fest, die pilzig roch und nach Moschus. Die sie fest umschloss. Ihr Rücken war warm. Wie lange mochte sie dagelegen haben?

Fiebrig spreizte sie ihre Finger gegen die die Rippen der Hülle, die Arme fest an den Leib gepresst. Ihr Atem ging flach in verbrauchter Luft. Sie spannte ihre Schenkel an, zog die Schultern nach vorne, stieß ihre Knie nach oben. Raus. Unendliches Winden, unendliches Dagegenstoßen. Raus.

Plötzlich: Licht. Ein Riss, kalte Luft. Dann: Blauer Himmel, und oben: Schrei von Krähen. Ein winziges rotes Ahornblatt löst sich aus der Krone, taumelt, tanzt. Gleißend bricht die Herbstsonne durchs Geäst. Sie bricht alles auf, wie leicht, sie zieht sich heraus, ihr Rücken pulsiert. Wie sie dasitzt, auf ihrer Hülle, in der Morgensonne, die Füße im Tau.

Sie streckt sich. Dehnt sich. Dann steht sie. Der erste frische Windstoß fährt in entfaltete Flügel, und mit der Freude der Neugeborenen schnellt sie der Sonne entgegen. Schmetterling!