Das Theater des Siglo de Oro

Im Vergleich mit Shakespeare vernachlässigen wir oft das spanische Theater des Siglo de Oro, des „Goldenen Zeitalters“. Dabei bietet es sich an für eine Beschäftigung mit der barocken Theaterkultur Spaniens – und den Bühnentradition Spaniens insgesamt.

¿Qué es la vida? Un frenesí.
¿Qué es la vida? Una ilusión,
una sombra, una ficción,
y el mayor bien es pequeño:
que toda la vida es sueño,
y los sueños, sueños son.
Was ist Leben? Raserei!
Was ist Leben? Hohler Schaum,
ein Gedicht, ein Schatten kaum!
Wenig kann das Glück uns geben;
denn ein Traum ist alles Leben,
und die Träume selbst ein Traum.

Merkmale des Theaters im Siglo de Oro

  • Das Siglo de Oro umfasste als „goldenes Zeitalter“ der Spanischen die Zeit von 1550 bis 1660 (bzw. zum Tod Calderóns 1681), besonders die Regierungszeit Karls V. und Philipps II.
  • Die wirtschaftliche Blüte der Jahre nach der Kolonisierung Lateinamerikas wich ab 1600 einer Rezession; insbesondere der Aufstieg Englands brachte Spanien in Bedrängnis.
  • Nach der Vertreibung der sephardischen Juden und der Zwangskonversion spanischer Muslime wurde der Katholizismus zur Staatsdoktrin. Insofern steht das Theater des Siglo de Oro häufig im Zwiegespräch mit religiösem Theaterschaffen.
  • Das Theater – als Ersatztraum – bot Abwechslung und Zerstreuung in Zeiten wirtschaftlicher Not. Auch religiöse Bruderschaften machten sich due Popularität des Theaters finanziell zunutze. Sie vermieteten nicht nur ihre Höfe, sondern empfingen oft auch einen Sonderbeitrag von den Zuschauern.
  • Zugleich entstand mit den Autos sacramentales ein volkstümliches Stationentheater, bei dem üppig geschmückte Prozessionswagen („carros“) von Ochsengespannen durch die Städte gezogen wurden.

Genres des Theaters im Siglo de Oro

Gesamtüberblick

  • Autos sacramentales: einaktige allegorische Fronleichnamsspiele
  • Comedias en capa y espada: Mantel- und Degenstücke
  • Comedias del teatro: historische Schauspiele, oft aufwendig inszeniert
  • Comedias de santos: Schauspiele nach Heiligenlegenden und Märtyrertragödien
  • Comedias de figurón: Vorläufer der Charakterkomödie
  • Entreméses: einaktige Zwischenspiele für Feste, Nähe zur Farce
  • Burlescas: Possen und Persiflagen
  • Fiestas: höfische Festspiele mit Tanz und Musik

Autos sacramentales

  • Ausgangspunkt der Autos sacramentales (von lat. actus = Handlung) sind Fronleichnamsspiele, Mysterienspiele und Prozessionen zu Fronleichnam.
  • Gespielt wurde auf improvisierten Bühnen und festlich geschmückten „Carros“, die von Ochsengespannen gezogen wurden.
  • Autos sacramentales sind in der Regel Einakter und umfassen 1500 bis 2000 Verse.
  • Typisch sind allegorische Figuren, die in einer auf die Heilsgeschichte bezogenen Handlung zusammenwirken.
  • Bekannte Autoren sind Lucas Fernández, Gil Vicente, Lope Félix de Vega Carpio, Antonio Mira de Amescua, José de Valdivielso, Juan de Timoneda, Juan del Encina und Pedro Calderón de la Barca.
  • Am 11.6.1765 wurden die Autos verboten – kurz vor dem Jesuitenorden. Im Rahmen der Generación del 27 und danach kam es zu einer Wiederbelebung.

Zarzuela

  • Der Begriff Zarzuela leitet sich ab vom Palacio de la Zarzuela (span. zarza = Brombeere), dem Landsitzunweit von Madrid, den Kardinalinfant Ferdinand von Spanien als Rückzugsraum nutzte. Hier spielten auch Komödiantentruppen aus dem Umland.
  • Die Zarzuela war zunächst ein höfisches Singspiel, bei dem Versdialoge mit populären Melodien versetzt wurden. Insbesondere Calderón hat solche Dialoge verfasst, etwa das Stück Celos aun del aire matan.
  • Die Zarzuela übernimmt Elemente des spanischen Volkstheaters durch die Einbeziehung von Figuren (den „Gigantes y Cabezudos“, dt.: „Riesen und Großköpfe“).
  • Zur Neubelebung der Zarzuela kam im Rahmen der europäischen Nationalbewegegungen, die auch Spanien erfasste: Rafael Hernando (1822-1888) und Emilio Arrieta (1823-1894) waren erfolgeich mit dem Dreiakter Jugar con fuego (1851) nach einem Libretto von Ventura de la Vega. Francisco Asenjo Barbieri schuf auf dieser Grundlage die „Zarzuela Grande“, die in ihrer revueartigen Aufmachung mit der ursprünglichen Zarzuela kaum mehr zu vergleichen war.
  • Für die Pflege und weitere Verbreitung der Zarzuela wurde in Madrid ein „Teatro de la Zarzuela“ gegründet.

Wichtige Autoren im Siglo de Oro

  • Lope de Vega (1562-1635): Lope de Vega entwickelte und prägte die klassische Form der dreiaktigen Comedia, bei der die Versmaße wechseln. Durch die Einführung des „Gracioso“, des komischen Gegenspielers des Helden, erhält die Handlung einen weiteren Spannungspol. Lope de Vega schrieb eine Vielzahl von Stücken, angeblich anderthalbtausend, die sich mit religiösen, mythologischen und profanen Themen befassen. Maßgeblich beteiligt war Lope de Vega an der Herausbildung des „Mantel- und Degenstücks“ und des kritischen Volksdramas, das sich vom Einfluss der griechischen und römische Bühne entfernt.
  • Juan Pérez de Montalbán (1602-1638): Juan Pérez de Montalbán, wie Lope de Vega Madrilene, war sowohl Gegenspieler als auch produktiver Nachahmer seines Zeitgenossen.
  • Tirso de Molina (1579-1648): Ebenso wie Lope de Vega war Tirso de Molina ein Vertreter der neuen Dramenkonzeption, die sich weit von der aristotelischen Dramenkonzeption entfernt. Die Stücke halten sich nicht an die aristotelischen Einheiten von Raum, Zeit und Handlung und verbinden komische und tragische Elemente. Auch die Ständeklausel wird außer Kraft gesetzt: Niedere und hochrangige Figuren interagieren. Tirso de Molinas Dramen sind auf Natürlichkeit und psychologische Glaubwürdigkeit ausgerichtet, insbesondere Frauen kommen zu ihrem Recht. Typisch sind außerdem Situationskomik und Wortspiele.
  • Pedro Calderón de la Barca (1600-1681): Calderóns Stücke sind zwar geprägt von der raffinierten Rhetorik des Culturanismo (des Gongorismus), sie bleiben aber für das breite Publikum verständlich. Calderón verringert gegenüber Lope de Vega die Szenenzahl seiner Stücke. Er streut außerdem metatheatrale Reflexionen (lässt Figuren über ihr eigenes Stück nachdenken) und setzt bewusst symbolische Handlungen ein (Ehrverlust wird beispielsweise durch einen Sturz vom Pferd veranschaulicht). In Deutschland wirksam war die Mantel- und Degenkomödie La dama duende, das von E. T. A. Hoffmann vertonte Schauspiel La banda y la flor, das von Grillparzer und Hugo von Hofmannstal bearbeitete Versdrama La vida es sueño und das allegorische Schauspiel El gran teatro del mundo.

Aufführungspraxis: Die Corral-Bühne („Corral de Comedias”)

  • Die bedeutendsten Corral-Bühnen befanden sich in Madrid: der Corral de la Cruz (1579) und der Corral del Príncipe. Auch in Sevilla und Valladolid gab es wichtige Corral-Bühnen, ebenso im spanischen Lateinamerika (z. B. in Tecali de Herrera, Mexiko). Unter italienischem Einfluss verschwinden die offenen Corral-Bühnen und werden durch eigene Theaterbauten ersetzt. Heute noch bestehende Corral-Bühnen sind der Corral de comedias de Alcalá de Henares und der Corral de comedias de Almagro im kastilischen Almagro (1628).
  • Gespielt wird in einem Hof zwischen zwei Häuserfronten („el corral“).
  • Die Bühne („tablado“) ist zunächst ein einfaches Holzgestell, erst später wird daraus ein fester Bühnenbau. Unter der Bühne befindet sich in der Regel eine Umkleide für die männlichen Schauspieler, die Frauen zogen sich hinter der Bühne um.
  • Rechts und links befinden sich die Häuserfronten; hier können vergitterte Logen gemietet werden („aposentos“), die oft von Adeligen genutzt werden. Auch die Räume innerhalb der Häuser werden genutzt.
  • In der „Alojería“ vor der Bühne können Speisen und Getränke gekauft werden. Benannt ist der Verpflegungsstand nach der „aloja“, einer Art Limonade mit Honig und Gewürzen.
  • Vor der Bühne stehen halbkreisförmig Zuschauerpodeste, auf denen die angesehenen Bürger des Orts Platz nehmen.
  • Im ersten Stock des Corral, gegenüber der Bühne, befindet sich die „Cazuela“ für die Frauen; weil die Fläche begrenzt war, wurde zuweilen ein „apretador“ eingesetzt (dt. „Quetscher“), der das Gedränge noch verschlimmerte.
  • Rechts und links verläuft die „Tertulia“.
  • Die einfachen Leute („mosqueteros“) stehen im Hof („patio“). Darunter befinden sich auch bezahlte Claqueure die für den Applaus sorgen. Nicht selten griffen Zuschauer ins Bühnengeschehen ein. Ein Auseher („mozo“) sorgte mit einer Garrotte für Ruhe, falls das Publikum außer Rand und Band geriet. 
  • Dialoge und Szenenfolge sind auf ein stehendes Publikum abgestimmt – es wird schnell und abwechslungsreich gespielt.
  • Gespielt wird zunächst unter freiem Himmel, teilweise schützen vorkragende Dächer das Publikum; ein Sonnensegel kann dazu beitragen, die Bühne zu beschatten.
  • Die Ausstattung ist reduziert, die Kulissen beschränken sich oft auf Vorhänge. Umgebaut wird auf offener Bühne.
  • Die Theatersaison reichte von Ostersonntag bis Aschermittwoch. In den Monaten mit gemäßigten Temperaturen begannen die etwa dreistündigen Aufführungen um die Mittagszeit herum, in den Sommermonaten verlagerte sich das Geschehen in den Nachmittag.
  • Internationale Aufmerksamkeit erregte 1874 Asenjo Barbieri mit dem dreiaktigen Stück El Barberillo de Lavapies.

Theaterpraktische Übungen

  • Wortkulisse: Zwei Figuren stehen vor einer Wand und erschaffen per Wortkulisse eine Landschaft. Dann wenden sie sich mit einem neuen Bild ans Publikum.
  • Das Leben, ein Traum: Ein Träumer wacht auf und findet sich verwandelt in…!
  • Aus der Rolle treten: Ein Stück wird improvisiert, dann sagt eine Figur „Stop!“. Alle frieren ein!
  • Zeitlupen-Stierkampf: Ein „Stier“ versucht mit gestisch aufgesetzten Hörnern einen Torero zu treffen, der immer wieder geschickt ausweicht und den Stier reizt.
  • Zarzuela: Eine Szene aus dem Alltag wird inszeniert; sobald ein bestimmtes Signal ertönt, singen die Darsteller abwechselnd ein bekanntes Lied.

Bibliographie

  • Ehrlicher, Hanno: Einführung in die spanische Literatur und Kultur des Siglo de Oro. Berlin: Schmidt, 2012 (Grundlagen der Romanistik; 25)
  • Simson, Ingrid: Das Siglo de Oro: Spanische Literatur, Gesellschaft und Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts. Stuttgart: Klett, 2001
  • Reichenberger, Kurt; Reichenberger, Roswitha: Das spanische Drama im goldenen Zeitalter: Ein bibliographisches Handbuch. Kassel: Ed. Reichenberger, 1989 (Teatro del Siglo de Oro. Bibliografías y catálogos; 2)
  • Nitsch, Wolfram: Barocktheater als Spielraum: Studien zu Lope de Vega und Tirso de Molina. Tübingen: Narr, 2000
  • Kleinertz, Rainer: Grundzüge des spanischen Musiktheaters im 18. Jahrhundert: Ópera, Comedia und Zarzuela. Kassel: Reichenberger, 2003
  • Kinter, Barbara: Die Figur des Gracioso im spanischen Theater des 17. Jahrhunderts. München: Fink, 1978 (Münchner romanistische Arbeiten; 51)
  • Müller, Hans-Joachim: Das spanische Theater im 17. Jahrhundert oder zwischen göttlicher Gnade und menschlicher List. Berlin: E. Schmidt, 1977 (Studienreihe Romania; 2)
  • Schuchardt, Beatrice (Hg.): Handel, Handlung, Verhandlung: Theater und Ökonomie in der Frühen Neuzeit in Spanien. Bielefeld: Transcript-Verl., 2014 (Theater; 34)