Zeit und Bühne

Wie alle Kunstformen unterliegt die Theaterkunst dem Vergehen der Zeit – mehr noch als Skulptur oder Architektur ist Schauspiel eine Zeitkunst. Es vollzieht sich im Nacheinander von Handlung und Gegenhandlung, die Zeit prägt unsere Wahrnehmung des Bühnengeschehens. Auf der Bühne lässt sich Zeit aber auch gestalten: Sie kann in der Wirklichkeit des Theaters angehalten oder sogar zurückgedreht werden. Für einen bewussten Umgang mit Zeit sind einige Grundbegriffe hilfreich.

Zentrale Zeitbegriffe

  • Objektive oder physikalische Zeit: Zeit, die wir messen können und die unabhängig von unserem Zeitempfinden abläuft.
  • Biologische Zeit: Biologische Zeit ist die Zeit, die für uns durch biologische Rhythmen (Atem, Herzschlag, Menstruation) messbar wird. Tageszeitliche und monatliche Rhythmen prägen unser Zeitempfinden. Mit dem Einfluss der Zeit auf Lebewesen befasst sich die Chronobiologie.
  • Bürgerliche Zeit: Die vom Sonnenstand anhängige und oft staatlich geregelte Tageszeit, die unser Leben gliedert. Sie kann im Gegensatz zum individuellen Zeitgefühl treten.
  • Subjektive oder psychologische Zeit: Zeit, die wir wahrnehmen und empfinden. Unser Zeitfluss- und Zeitdauerempfinden variiert von Person zu Person und ändert sich oft während des Tages. Unser Zeitempfinden ist Gegenstand der Chronopsychologie.
  • Chronos: Der unerbittliche Zeitlauf, dem wir uns alle unterwerfen; Zeit, die uns erfasst.
  • Kairos: Die günstige Gelegenheit, der wir uns alle unterwerfen; Zeit, die wir gestalten.

Wie wird Zeit auf der Bühne markiert?

  • Durch symbolische Zeitmessung (z. B. eine übergroße Uhr in der Dekoration).
  • Durch tageszeitlich gebundene Handlungen (z. B. ein Frühstück)
  • Durch Beleuchtung (z. B. Verdunklung, um die Dämmerung zu symbolisieren)
  • Durch Zeitverweise im Dialog (z. B. „Nun ist es schon fünf, und keiner ist da!“).

Bedeutung der Zeit für das Theater

  • Die Bühnenwirklichkeit schafft oft ein anderes Zeitgefüge als das, in dem sich der Zuschauer befindet. Während der Zuschauer eine Abendvorstellung besucht, ist es auf der Bühne unter Umständen früher Morgen.
  • Üblicherweise muss der Anfang des Geschehens markiert werden; Verdunkelung und Vorhang kennzeichnen den Übertritt in eine andere Zeitzone.
  • Die Länge eines Stücks und seine Rhythmisierung wirkt sich auf die Wahrnehmung des Stücks aus.
  • Auch die Dynamik des Geschehens wirkt sich auf die Gesamtwahrnehmung der Bühne aus: Langsame Vorgänge beruhigen das Bühnengeschehen; schnelle Vorgänge schaffen Unruhe auf der Bühne.
  • Auch Synchronizität ist möglich: Durch Bühnenteilungen kann die Gleichzeitigkeit räumlich getrennter Geschehen dargestellt werden.
  • Ananelepse (Rückblende) und Prolepse (Vorwegnahme) sind ebenso denkbar: Durch Verweise im Dialog können Bühnenräume eröffnet werden, die zukünftiges oder vergangenes Geschehen darstellt.
  • Rhythmen entstehen durch den Wechsel schneller und langsame Vorgänge oder duch periodisch wiederkehrende Momente, die das Bühnengeschehen gliedern.

Möglichkeiten der Zeitgestaltung auf der Bühne

  • Zeitraffung: Eine Szene wird schneller gespielt als im Alltag oder im regulären Bühnengeschehen.
  • Zeitdehnung: Eine Szene wird verlangsamt.
  • Beschleunigung: Eine Szene beginnt langsam, wird dann aber beschleunigt.
  • Verlangsamung: Ein schnell ablaufendes Geschehen wird in seiner Geschwindigkeit gedrosselt.
  • Kontinuität: Eine Szene wird als Ganzes gespielt.
  • Pause: Ein Geschehen wird als Standbild eingefroren; häufig (aber nicht immer) läuft ein Teil des Bühnengeschehens weiter oder ein Sprecher kommentiert die Bühnensituation.
  • Zeitsprung: Nach einem Stopp entwickelt sich das Geschehen weiter, als ob ein größerer Zeitraum vergangen wäre.
  • Analyse: Eine Szene wird in ihre einzelnen Bewegungsmomente oder Bilder zerlegt, wobei den Übergängen keine Bedeutung zugemessen wird.

Übungen zum Thema Zeit

  • Zeitgefühl: Die Mitspielenden schließen die Augen. Nach einer gefühlten Minute heben sie die Hand. Dann wird bewusst geatmet – wieder soll eine Minute eingehalten werden. Dann hört die Gruppe einen Text, wieder soll eine Minute angezeigt werden.
  • Zeitlupen-Aktivitäten: Beliebt sind Zeitlupenboxkämpfe, aber auch Begrüßungen können in Zeitlupe gespielt werden.
  • Zeit zurückdrehen: Handlungen werden rückwärts ausgeführt.
  • Zeitraffer: Eine Spielszene wird schneller gespielt.
  • Pause: Die Mitspielenden errichten ein unsichtbares Haus (o. ä.). Auf ein Signal tritt ein Spieler aus der Rolle und erzählt, was gerade geschieht, deutet das Geschehen aber um. Dann bestimmt er durch Handauflegen einen nächsten Erzähler.
  • Sequenzen: Eine einfache Bewegung wird in Einzelbilder zerlegt und von der Gruppe dargestellt (z. B. Winken).
  • Zeitverschwendung: Die Mitspielenden erhalten ein Bonbon bzw. eine getrocknete Mangoscheibe und achten darauf, ihr Objekt nicht zu zerbeißen, sondern zu zerlutschen. Währenddessen sehen sie ihre Mitspieler an.
  • Stresskreisel: Alle stehen im Kreis, mit dem Bauch zur Mitte. Mit der linken Hand geben ein Objekt nach rechts weiter, mit der rechten Hand ein Objekt nach links. Währenddessen stehen wir auf einem Bein und sprechen das ABC oder das kleine Einmaleins.

Fragen als Impulse zum Umgang mit Zeit

  • Welche Rhythmen gliedern unser Leben?
  • Was ist besser: Morgenmensch zu sein oder Abendmensch?
  • Was raubt uns Zeit?
  • Für welche Dinge sollten wir uns mehr Zeit nehmen?
  • Wer hat uns zuletzt Zeit geschenkt?
  • Wann vergessen wir die Zeit?
  • Müssen wir unsere Lebenszeit optimal nutzen?
  • Was sind die Ursachen für Langeweile?
  • Warum scheinen die Jahre immer schneller zu verfliegen?

Bibliographie

  • Hammond, Claudia: Tick Tack: Wie unser Zeitgefühl im Kopf entsteht. Stuttgart: Klett-Cotta, 2019
  • Levine, Robert: Eine Landkarte der Zeit: Wie Kulturen mit Zeit umgehen. München: Piper, August 2019
  • Safranski, Rüdiger: Zeit: was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen. Frankfurt am Main: FISCHER Taschenbuch, April 2017