Schule und Ordnung

Ordnung, heißt es, sei das halbe Leben. Gemeint ist meistens: Ordnung ist das ganze Leben. Diesen Eindruck gewinnt man unfehlbar, wenn man aus einem Land stammt, das dauerhaft in den Kehrwochen liegt und Sauberkeit gebiert. Täusche ich mich? Oder werden auch anderswo Hecken mit dem Zollstock gemessen? Kopfschüttelnd nimmt man den dschungelhaften Wildwuchs im Nachbargarten zur Kenntnis, ehe man einzeln erbleichte Kleeblätter in Verachtung und Glyphosat ertränkt.

Oft genug ist unsere Ordnung das demütige Signal an die Oberen, an die Anderen: Geht weiter! Tut mir nichts! Ich bin wie ihr! Mit mir ist alles in Ordnung! Ich habe alles im Griff, vor allem – mich selbst! Hier ist Verlässlichkeit, Sicherheit, Effizienz! Ich teile eure Werte, ich fürchte eure Sanktionen! Ordnung ist Regeltreue: Wer seine Stifte sortiert, lügt nicht, schummelt nicht, geht auf der Rolltreppe links.

Als Freigeist kann man sich kaum wehren gegen die berauschende Lust, sich ordnungsmäßig zu entspannen. Und man bereut! Denn Ordnung ist einerseits ungeheuer spießig, andererseits aber auch sehr praktisch. Klassenarbeiten gehen nie verloren, Rotstifte laufen niemals aus. Kreide liegt in kleinen Blechschachteln, anstelle das Theatergeld der Abiturklasse 2016 zu bestäuben. Die Umwandlung ganzer Klassensätze von Kurztests zu einer grau-grünen, körnig-pelzigen Masse, amalgamiert mit Milchschokolade, vollzieht sich in mancher Lehrertasche mit beängstigender Geschwindigkeit.

Wie sagt man? Schlamperei ist immer die Schlamperei der Andersordnenden. Aber unter der ungezügelten Wurstigkeit seiner Schüler wird auch der nachlässigste Lehrer unweigerlich zum Ordnungsfanatiker. Es beginnt nicht selten mit der Schrift. Zu Anfang meiner Laufbahn dachte ich geradezu graphologisch: Le style c’est l’homme même. Heute ziehe ich zwei Notenpunkte für unleserliche Hieroglyphen ab. Sich zehn Minuten über ein r beugen (das auch ein t sein könnte oder ein u) – nur wegen Old Schlotterhand? Nicht mit mir!

Als ordnungsmäßig herausgeforderte Lehrkraft ist man zuweilen auf jene freundlichen Zwangsneurotiker unter den Schülern angewiesen, die mit schöner Regelmäßigkeit alle Unterlassungssünden erkennen. Besonders wichtig ist das Talent zur Ordnung bei der Führung des Tagebuchs – ausgelagert an verlässliche Tagebuchordner, die mit Wollust säumige Kollegen zur Strecke bringen. In der Tat! Ordnung kann lust- und verdienstvoll sein, auch in der Schule: verträumte Besenballette im Unterstock, Ausdruckstanz am kühlem Tafelschiefer.

Auch bei Lehrern gibt es Naturtalente der Ordnung. Oft, nicht immer, handelt es sich um Mathelehrer. Arbeitsblätter in Klarsichthüllen. Hemden: gebügelt, Sakkos: gestärkt, Autos: poliert. Niemals muss der ordnungsbewusste Pädagoge den schlimmsten Schluri ins Sekretariat entsenden. Kreide hat er dabei: nach Farben sortiert, im verzinkten Kreidekästchen. Niemals muss ein ordentlicher Lehrer letzte Kreidekrümel aus dem Tafelspalt herausfischen – auf Knien, mit dem Geodreieck des Klassensprechers. Das alles ist richtig und hat unschätzbare Vorteile. Aber wie oft verbringen wir unnötig viel Zeit damit, Ordnung zu halten, um uns selbst oder andere ästhetisch zu befriedigen: Ordnung als Selbstzweck, l’ordre pur l‘ordre!

Die Neigung zum Chaos ist vermutlich bei Lehrern nicht größer als bei Managern oder Bäckern. Im Lehramt beginnt das Chaos oft in der Fünf-Minuten-Pause. Gleichzeitig Fritz trösten, weil Max ihm den Radiergummi entwendet hat, ins Tagebuch eintragen, die Tafelordner an gewohnheitsmäßiger Flucht hindern, drei Entschuldigungen und das Theatergeld von Tanja entgegennehmen – Kopieren, Raumwechsel, Klassenwechsel, Sprachwechsel – das hat Potenzial für eine Unordnung babylonischen Formats.

Es ist ein altes Vorurteil: Unweigerlich versetze ein gut aufgeräumter Tisch oder ein wohlsortiertes Mäppchen uns in aufgeräumte Stimmung, erzeuge innere Ordnung. Als Lehrer sollte man sich davor hüten, hinter makelloser Form auch gedankliche Klarheit zu vermuten. Äußerer Zwang schafft keine Struktur. Ein Korsett ist kein Skelett. Immer wieder hört man von besorgten Eltern, Lehrer sollten den Schülern Ordnung beibringen. Unterstreichen – nur mit Lineal! Datum aufs Blatt! Die vom Lehrer verordnete Form spiegle, so glaubt man, den Kosmos des Wissens ins Hirn der Schüler. Wann darf sich der Schüler seine eigene Form schaffen, ein System, dass er begreift? Schön, dass der Lernstoff in sauber geordneten Schubladen ruht. Aber wo lernt der Schüler die Kunst der Einteilung, der Gliederung? 

Auch bei Lehrern gilt das Ordnungshalten als Symbol der Durchsetzungskraft, der pädagogischen Schlagkraft. Wo Ordnung herrscht, da seid ihr sicher. Sicher vor Chaos, sicher vor Willkür. Dort könnt ihr euch nie verirren im gedanklichen Unterholz. Dort führt durch den englischen Rasen ein gerader Weg, unter blauem Himmel, zur nächsten Klassenarbeit, zum Abschluss, zum Glück. Dort werdet ihr an die Hand genommen, sofern ihr eure Nägel geschnitten habt. Dort ist die Schule, wie Deutschland gern wäre: Schrebergartenkolonisten im Polizeimarschtakt. Dummerweise ist das Leben anders. Unberechenbar, stürmisch, wild. Wir müssen uns auch auf das Unerwartete vorbereiten, lernen, in Strudeln zu schwimmen, mit Zufällen tanzen. Nur mit Ordnungspädagogik wird uns das nicht gelingen. Wir brauchen eine Pädagogik des Chaos.

Es stimmt: Chaos zerstört und verschlingt, es verhindert Produktivität und lähmt den Schöpfergeist. Es gibt aber auch produktive Unordnung, es muss sie geben, auch in der Schule, in Räumen, denen eine freisinnige Ordnung guttut; Ordnung, deren System nicht gleich von außen als solches erkennbar ist. Aber auch solche Reservoirs des schöpferischen Zufalls bedürfen einer minimalen Ethik der Unordnung, die sich ausdehnen lässt auf die Schlamperei der Lehrer und Schüler. Man könnte drei Gesetze der Unordnung erlassen: Unordnung darf, erstens, allein dem Unordentlichen schaden. Zweitens darf Unordnung niemanden gefährden. Drittens: Das Recht zur Unordnung sei jedem gewährt, es verpflichtet dazu, nur das eigene in Unordnung zu bringen und sofort Ordnung zu schaffen, wenn die ersten beiden Regeln verletzt werden. Wir brauchen an der Schule keine Diktatur, die das Chaos verfolgt, sondern eine demokratische Kultur, die Ordnung schafft: Aufmerksamkeit statt Verbotstäfelchen.