Deutschabitur!

„Nicht nochmal! Sagen Sie es nicht nochmal!“ – Offenbar ist es gesagt, das unsagbare, verbotene, das dreimal verdammte Wort: Abitur! Und immer beginnt das Abitur mit Deutsch. Man will einen milden Einstieg. 

Wer nicht selbst die Oberstufe unterrichtet, wird kaum wissen, was sich zuträgt am Vorabend des Abiturtags: Ein reitender Bote, nicht des Königs, aber des Kultusministeriums (das ist dasselbe), hat eine nebelgraue Nacht ausgenutzt; verschwiegen übergibt er einen unscheinbaren Umschlag an die Abgesandte des Schulleiters; diese, ihr Nachthemd schürzend, eilt rasch in eine dunkle Kammer, wo ein stählerner Tresor aufschwingt: hinein, hinein! Dort schläft das Paket, von Schweizergardisten bewacht, bis zum nächsten Morgen. Am Abiturtag um halb sechs stolpern zwei oder drei übermüdete Lehrkräfte ins Rektorat. Weihevoll zaubert der Schulleiter Umschläge hervor, aus dem sich die Aufgabenblätter schälen, erst eins, dann zwei, drei, sechs, zwölf – bis die ganze verstörende Pracht vor uns liegt.

Die Aufgaben! Herzpochen: Erläutern Sie folgendes Zitat von Erwin Koscharewsky-Müller: Die paradoxen Kippfiguren des postmodernen Paroxysmus reflektieren die Entropie der progressiven Existenzpoetik.“ Wie bitte? Verdammt! – Thema zwei, Gedichtvergleich? – Interpretieren Sie! Schon entrollt sich Trakls Tropenteppich. Geht noch, aber – Lyrik hat keiner vorbereitet, natürlich. Kurzprosa? Kafka? Nein, irgendwas von Johannes Bobrowski, den garantiert keiner versteht. Vielleicht, wenigstens, der Kommentar? Irgendetwas mit Fußball oder Gender-Schreibung? Mitnichten! Sie sind eine dreiundvierzigjährige Deutschlehrerin, die einen Leserbrief an „Poetik heute“ schreibt und… - äh, nein. Letzte Rettung: Texterörterung! Die ersten zwanzig Zeilen eines Essays aus der FAZ schnörkeln sich auf zu einer einzigen Hypotaxe, die nur Gott selber versteht. Hilfe! Herzschlag: Spitzmaus, kurz vor dem Infarkt. Gefühl innerer Leere. Zwei Seelen. Ach. Steppenwolf!

Beklommen, schweren Gemüts, schleichen fassungslose Deutschlehrer in Sakkos hinunter zum Bestücken grüner oder blauer Mappen. Meine Kolleginnen haben ihren Zwölfern ein Schokogrüßchen in Herzchenform hinterlassen. Mist! Ich krame in meiner Lehrertasche. Nur matschige Schokolädchen von Weihnachten! Ach, egal! Ich lege sie hin. Neben das Aufgabenset. Der Raum duftet nach Seife. Noch.

Dann: Begegnungen im Lehrerzimmer. Selbst Mathelehrer fragen mitleidig nach: Und? Tränenfeuchten Blicks stammelt man eine Antwort. Sinngemäß: Es will mir schier das Herz verbrennen! Währenddessen trudeln die ersten Abiturientinnen ein: jogginghosig, ihr Lockenhaar aufgetürmt zu einem phantastischen Gebilde jenseits des Scheitels. In fiebriger Hast blättern sie in zweiundzwanzig Lektürehilfen. Aus aufgeklappten Ordnern schreit mich das Krikelkrakel ihrer Lernzettel an: Du bist schuld, schuld, schuld! Ich lächle angestrengt, will etwas sagen, komme kaum zu Wort. Man wird bestürmt: Wie heißt dies? Wie geht jenes? Sind Sie bestechlich? Bettelnde Blicke: Bitte, Papa, mach, dass alles gut wird! Wenn die wüssten…!

Dann Einlass: Zwölfer raffen sich zusammen, dann ihr Gepäck, suchen, taumeln zum Tisch wie Kühe zum Metzger. In voller Personalstärke schaut die Schulleitung der Prozession zu, mit olympischer Miene, in heiterer Gelassenheit. Füßescharren, Tupperschüsseln, Kaffeekannen. Als sich alle gesetzt haben, öffnet sich die Tür. Oberschlumpf chillt gemütlich zum Platz hinüber, lässt sich entspannt auf den Stuhl plumpsen. Der Stuhl fällt um. Krabbenartiges Krauchzen, dann Stille. Schließlich sitzt er wieder. Der Oberstufen-Adler zieht die Brauen zusammen.

Dann ergreift der Schulleiter das Wort. In bewährten Formeln, sparsam gewürzt mit Sarkasmus, bereitet er die lauschende Menge auf ihr Schicksal vor, dem sie teils bibbernd, teils bierig entgegensieht. Toilettenregeln! Betrugsversuche! Krankheitsfall! Jetzt gibt es kein Zurück mehr: Öffnen! Kontrolle auf Vollständigkeit! Es ist alles da. Die Schüler blättern, die Schüler erbleichen. Manche erröten. Oberschlumpf zischt ein Redbull. Es wird nicht das letzte bleiben.

Wir Kurslehrer verlassen den Raum. Ich, schon auf der Treppe, drehe mich um. Erinnerungen an die Geburt des ersten Kindes. Durch ein spiegelnde Fenster sehe ich die Schemen meiner Schüler. Es ist klar: Noch dehnt sich das Papier wie ein Ozean, fünf Stunden weit und ohne Boje. Manche legen los, als gäbe es kein Morgen. Bleistifte kratzen wie tollwütige Nagetiere über das Papier. Andere lehnen sich zurück. Stift in den Mund: Saugen. Kauen. Saugen. Eine malt Pferde. Unerbittlich rückt der Zeiger vor. Aber fünf Stunden sind eine lange Zeit. Fünf Stunden reichen für dreihundert Rechtschreibfehler. Für fünfzig Stoßseufzer. Und für fünf Redbull.

Dann muss man in den Unterricht, wahrscheinlich fünfte Klasse, wahrscheinlich Vertretung. Subjekt Prädikat, Objekt. Aber die Gedanken schweifen ab, ziehen hinab, sind bei den Großen. Im Schweiße ihres Angesichts ringen sie mit dem Unausweichlichen. Wie mag’s gelingen? Hat die Pferdemalerin endlich angefangen? Ist Miss Marathon schon bei Seite dreißig? Das wievielte Redbull hat Oberschlumpf jetzt schnabuliert? Alles verschwimmt, Fünfer johlen, springen über Tische. Man fasst sich. Es ist ja nicht zu ändern.

Währenddessen kämpfen sie. Siebenhäuptige Chiffren dringen auf sie ein und scharfzahnige Thesen. Zeile um Zeile kämpfen sich tintenblaue Finger voran. Pausen kommen, Lärm vergeht. Unablässig hämmert der Nebenmann seine bestialische Klugheit ins Papier. Nach Stunde eins muss der erste aufs Klo. Bald bahnt sich der Baldriantee eine Gasse und das Müssen wird allgemein. Weiter vorne fährt jemand den fünften Gang auf: Knistern, Knastern, Gummibären. Weiter hinten macht jemand Yoga. Oberschlumpf lässt seine sechste Dose zischen. Die Aufsicht, irgendeine bemitleidenswerte Physiklehrerin, blättert zum sechsten Mal den Aufgabensatz durch. Ein halbes Dutzend Dosen poltert in den Müll. Zack! Zack! Zack! Aha, Oberschlumpf gibt ab. Nein, es riecht jetzt durchaus nicht mehr nach Seife

Die Kurslehrer sind wieder da. Verhärmt und abgespannt stehen sie hinter den Glastüren, vermeiden Blickkontakt, während nach und nach der Stapel wächst. Hin und wieder spuckt der Raum Schüler aus, die flüchtig grüßen und dann verschwinden. Die eigenen schreiben noch. Die Zeit ist um. Der Schulleiter naht. Die Raumdecke rollt sich zusammen wie ein Pergament. Dann wird Blatt um Blatt verkrampften Krallen entzogen. Es ist aus. Es ist geschafft.

Draußen liegen sie sich in den Armen, verschwitzt, erleichtert. Es kann nicht lange währen, das Glück der Siebenkämpfer. Morgen ist Englisch, am Freitag Mathe. Lass gehen. Reifen quietschen in der Tiefgarage. Und während ich die Arbeiten in Empfang nehme, gebündelt und verpackt, wird mir bewusst, dass nun der Abschied beginnt. Sie brauchen dich nicht mehr. Sie sind groß geworden. Sie sind frei. Und ich drehe mich um, wie einer, der mit seinem Schmerz allein sein will.