Das „Winnender Mädle“ und Gottfried von Neifen

Seit 2012 wird in Winnenden ein „Winnender Mädle“ gewählt, das die Rolle der unbekannten "maget" aus Gotffried von Neifens „Windenlied“ spielt. Es ist durchaus strittig, ob ein Text aus dem 13. Jahrhundert zu diesem Ritual passt. Sollte sich also die Wahl zum „Winnender Mädle“ auf Gottfried von Neifen stützen?

Ja! Viele Minnelieder des Hohen Mittelalters zielen auf Affektkontrolle: Der Ritter soll sich beherrschen, soll sich ritterlich verhalten, dem Kanon höfischer Tugenden entsprechen - das schließt Gewalt gegen Frauen und Kinder aus. Auch Gottfrieds Lied ermöglicht diese Einübung ins höfische Zeremoniell: Es kommt es zu einem geregelten Austausch von Rede und Gegenrede, die Minne bedarf des zivilisierten Dialogs. Die Liebeseinheit von Mann und Frau ist auch an anderer Stelle für Gottfried von Bedeutung: Er betont den Segen, den die Minne für Mann und Frau bedeutet (KLD 15 XXII 2).

Nein! Das Bild einer ausgewogenen Begegnung von Mann und Frau in manchen Minneliedern bleibt ein Ideal. Von einer Gleichberechtigung von Mann und Frau darf man im 13. Jahrhundert nicht ausgehen. Weder sozial noch rechtlich sind Frauen im Hochmittelalter in der Lage, sich gegen Übergriffe wirksam zu wehren. Sie bedürfen eines männlichen Schutzherrn und Verteidigers. Diese Konstellation wird man heute kaum als vorbildhaft ansehen.

Ja! Winnendens Stadtgeschichte braucht weibliche Identifikationsfiguren! Es spricht vieles dafür, dass das „Winnender Mädle“ tatsächlich Winnenderin war - die Annahme, es habe ein weiteres „Winden“ bei Neuffen gegeben, ist nicht ansatzweise zu belegen. Der Rückbezug auf eine weibliche Identifikationsfigur in der von Männern dominierten Stadtgeschichte wirkt unmittelbar emanzipatorisch. Zudem ist Gottfrieds „maget“, je nach Lesart, durchaus selbsbewusst und rhetorisch geschickt.

Nein! Die Frauenfigur in vielen Liedern Gottfrieds (etwa in  KLD 15 XIII 4) erfüllt eine von Männern definierte Aufgabe: Sie lindert den Schmerz, die „trûren“, des Mannes. Ihr Verhalten ist ganz und gar von dieser Aufgabe abhängig. Das Frauenbild der „Manesse“ ist ein durchweg männliches Bild der hochmittelalterlichen Frau. Unter den 140 Dichtern der Liedersammlung ist keine einzige Frau. Die Texte nehmen zwar mitunter die Perspektive der „vrouwe“ ein, insgesamt dominiert der Blick des Mannes. Auch bei Gottfried bestimmt die männliche Sprechrolle (das lyrische Ich) die Entwicklung der Handlung. Auch in anderen Liedern, etwa im eingangs erwähnten Lied „We, was wunders lit an wiben“ geht es in erster Linie um die Befindlichkeit des Mannes. Nach den Gefühlen der Frau wird nicht gefragt.

Ja! Selbst wenn Gottfrieds Lied eine mehr oder minder gewaltsame Eroberung zeigt (was nicht gesichert ist), kann dadurch historische Distanz dargestellt werden. Es soll ja gerade nicht mittelalterlich zugehen! Die Auseinandersetzung mit mittelalterlichen Rollenklischees wird dadurch möglich, dass man sie zeigt. Ein guter Anlass für die Diskussion über das Verhältnis von Mann und Frau, über Macht und Liebe!

Nein! Das Winnender Mädle in Gottfrieds Lied ist sehr wahrscheinlich von Adel - wie sonst wäre es möglich, dass sich das Geschehen in einer Burg abspielt? Diese privilegierte Position gewährt ihr Schutz - einen Schutz, den nichtadlige Frauen keineswegs in Anspruch nehmen konnten. Überdies: Die öffentliche Inszenierung einer ständisch geordneten Gesellschaft ist wohl kaum zeitgemäß.

Ja! Die Erfindung des „Winnender Mädle!“ mag eine folklorististische Aneignung des mittelalterlichen Texts sein, sie lädt aber unmittelbar dazu ein, sich mit Gottfried zu beschäftigen. Literatur muss ihren Sitz im Leben im Leben behalten, sonst wird sie nicht mehr wahrgenommen. Solange es das „Winnender Mädle“ gibt, ist auch Gottfrieds Text präsent!

 Nein! In der Minnelyrik entsprechen Rollennormen den natürlichen Geschlechtern: Der „herre“ ist ein ein Mann, die „vrouwe“ eine Frau, basta! Dass in der Rezitation der Minnesänger auch Frauenstrophen singt, ändert daran nicht viel. Ein Mann kann nicht Garn winden, eine Frau reitet nicht mit ihren Windhunden aus. Für eine offene Gesellschaft, die immer noch mit Zugangsschranken zu kämpfen hat, in der Intersexuelle um ihre Anerkennung kämpfen müssen, mutet der Rückgriff auf Rollennormen des 13. Jahrhunderts wie der buchstäbliche Rückfall ins Mittelalter an.  

Ja! Minnelyrik ist repräsentative Lyrik, die nicht heimlich gelesen, sondern öffentlich vorgetragen wird. Der Sänger verleiht dem höfischen Fest durch seinen Vortrag besondere Würde. Wird Gottfrieds Lied dazu herangezogen, die besondere Festlichkeit eines Geschehens zu betonen, profitiert davon auch das „Winnender Mädle“. Sie wird zur Trägerin einer 800 Jahre zurückreichenden Tradition und zur Repräsentantin mittealterlicher Rezitationskunst.

Nein! Gottfrieds Lied ist keineswegs klar, was die rhetorische Struktur angeht - es ist umstritten, welche Strophen oder Strophenteile das lyrische Ich spricht und welche das Mädchen. Dadurch lassen sich auch tendenziell problematischen Anteile schlicht umdeuten, indem sie dem Mann zugeordnet werden. Auch sonst ist der Text überaus komplex und lädt zu einer Vielfalt von Interpretationen ein. Wie sinnvoll ist es, ein Minnelied zur Legitimation eines Rituals heranzuziehen, das selbst die Forschung einigermaßen ratlos zurücklässt?