Sprachästhetik

Sprachästhetik ist kein Teilgebiet der Linguistik. Als Teilbereich der philosophischen Ästhetik befasst sie sich mit der Frage, wann wir sprachliche Äußerungen als schön beurteilen. Sprachästhetik gilt nur innerhalb eines begrenzten Sprachraums und ist überdies subjektiv: Während Schwaben oder Franzosen ihre Nasalvokale möglicherweise als „schön“ empfinden, könnten andere gerade die Nasale zur Ablehnung des Schwäbischen oder Französischen bewegen.

Sprachliche Äußerungen können wir dabei auf mehreren Ebenen schön finden (oder auch nicht):

  • Klang und Intonation: Je nach Sprache schätzen wir keine allzu monotone oder zu Extremen neigende Stimmführung; im Deutschen neigen wir überdies dazu, vokalreiche Sprachen als „schön“ und konsonantenreiche Sprachen mit vielen Zisch-, Klick-, Zäpfchen- und Rachenlauten als „hässlich“ zu qualifizieren. Solche Vorstellungen führen dazu, dass manche Sprecher des Deutschen Italienisch als „schön“ einstufen, während ihnen das Arabische als „hässlich“ gilt.
  • Rhythmus: Fließende, bei aller Regelmäßigkeit abwechslungsreiche Rhythmen sagen uns oft mehr zu als einförmige oder unregelmäßige Rhythmen mit vielen Stockungen. Rhythmen gestalten wir mit der Art, wie wir Sätze bauen und durch die Zeichensetzung verbinden.
  • Phonetik: Als schön empfinden wir oft Texte, die eine fließende Intonation und widerstandsfeie Artikulation ermöglichen, indem sie auf erzwungene Artikulationspausen verzichten; im Deutschen wird oft das Aufeinanderprallen von Vokalen (bzw. das Einschieben eines Knacklauts), von Plosiven (p, t) an Wortgrenzen als störend empfunden.
  • Grammatik: Wir bevorzugen oft eine Sprachverwendung, die mit unseren Vorstellungen von korrekter Grammatik übereinstimmt. „Schön“ ist, was richtig ist. In der geschriebenen Sprache kommen die Orthografie und das Schriftbild hinzu.
  • Situation: Wir erwarten von sprachlichen Äußerungen, dass sie zur Situation passen, also situativ, kommunikativ und sozial angemessen sind. Erforderlich sind dazu Stilgefühl, ein entsprechender Wortschatz und die Kenntnis der geltenden Regeln. „Schön“ ist also, was angemessen ist.
  • Varietät: Wir beurteilen sprachliche Schönheit oft danach, welche Vorstellungen wir mit der jeweils verwendeten Varietät verbinden (Sprache, Dialekt, Soziolekt…). Besonders intensiv reagieren schon Säuglinge auf ihre Muttersprache.

Worin liegt der Nutzen der Sprachästhetik?

  • Sie regt uns zum Gespräch darüber an, wann wir eine sprachliche Äußerung schön finden – und wann nicht.
  • Wir lernen, unsere eigenen Maßstäbe offenzulegen und mit den Werten anderer abzugleichen.
  • Sie hilft uns, Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, unter welche Bedingungen das Publikum auf einen Text ablehnend und wohlwollend reagiert.

Ästhetische Programme: Welche Ansprüche haben wir an Texte?

Wirkungstheoretische Ansätze stellen dabei den Empfänger einer sprachlichen Mitteilung in den Vordergrund, produktionstheoretische Ansätze untersuchen vor allen, welche Regeln der Verfasser (oder Sender) dabei einhält.

  • Klassizismus: Texte sollen klar, knapp und gut verständlich sein (claritas, brevitas, perspicuitas). Der Satzbau gehorcht festen Regeln im Hinblick auf den Rhythmus – klassizistische Ästhetik ist Regelästhetik. Verlangt wird auch die Einhaltung bewährter Regeln, etwa die Einheitlichkeit des Stils. Der Ausdruck ist den Regeln der Angemessenheit unterworfen (decorum). Ziel ist oft ein Stil, der sich am idealisierten Naturvorbild orientiert (mimesis). Typisch für eine klassizistische Ästhetik ist die Erwartung, das Ganze solle sich in seinen Teilen spiegeln und umgekehrt – jedes Wort dient einem übergeordneten Sinn, in der Regel der sittlichen Besserung.
  • Idealismus: Eine idealistische Ästhetik sieht im sprachlichen Werk den Versuch, die Natur zu übertreffen und allgemeine (gleichsam ewige) Ideen sichtbar zu machen. Ihr Ziel ist nicht die Nachahmung der Natur, sondern eine zu den Ideen hinführende Abstraktion vom Naturvorbild. Für die christliche Ästhetik ist schön, worin sich Gott und die von ihm geschaffenen Gesetzmäßigkeiten spiegelt; das Gute ist das Schöne, das Ziel sprachlicher Kunst ist, den Menschen zu Gott und einem gottgefälligen Leben hinzuführen.
  • Manierismus: Texte sollten die vorhandenen Regeln geistreich abwandeln und vor allem originell sein. Dunkelheit im Ausdruck (obscuritas) ist möglich. Ziel ist ein beeindruckendes Feuerwerk gekonnter Formulierungen, kühner Bilder und raffinierter Pointen.
  • Expressionismus: Texte sollten starke Gefühle transportieren und dabei den Rahmen sprachlicher und poetischer Konventionen sprengen. Im Vordergrund steht der Mensch und sein Empfinden. Ziel ist eine glaubwürdige, intensive Darstellung eines Gefühls.
  • Naturalismus: Texte sollten möglichst naturgetreu sein, und zwar so sehr, dass auch das Hässliche, Abstoßende und Ekelhafte abgebildet sind. Eine Harmonisierung der Natur wird abgelehnt.
  • Ästhetizismus: Texte sollten in Klang und Rhythmus harmonisch sein; im Vordergrund steht die Sinneswahrnehmung, die sich beim Lesen, Hören und Visualisieren eines Texts vollzieht. Die Darstellung entfernt sich zugunsten der Kunst von der Natur – die Kunst hat Vorrang (l’art pour l’art).

Wovon hängt ab, ob uns ein Wort zusagt?

  • Identität: Wörter helfen uns, uns abzugrenzen von anderen: Fremdwörter beispielsweise schlagen Brücken zur Herkunftskultur und ermöglichen uns Identifikation.
  • Gestalt: Wörter wirken durch ihre Schriftform, lassen Möglichkeiten zur typographischen und kalligraphischen Ausgestaltung.
  • Wohlklang: Wörter lassen sich angenehm aussprechen, haben ein angenehmes Mundgefühl – je nach Sprache werden helle Vokale und bestimmte Konsonantengruppen (l, m, n) bevorzugt. Nicht zu unterschätzen sind dabei die physische Grundlage des Sprechens, die Bewegung unserer Sprechwerkzeuge – und ihre Rückkopplung an die Psyche.
  • Bezug zur Biographie: Wörter wirken als Speicher besonderer Erlebnisse, insbesondere der Kindheit.
  • Personenbezug: Wörter verbinden uns mit Einzelpersonen und einer Sprechergemeinde, in der dieses Wort besondere Bedeutung hat
  • Frequenz: Die Häufigkeit oder Seltenheit eines Worts kann ebenfalls ein Grund zur Wahl oder Ablehnung eines bestimmten Worts sein. Insbesondere obsolete Begriffe werden oft als schön empfunden.
  • Semantische Komplexität: Viele Sprecher bevorzugen Wörter, die Paradoxe enthalten, mehrere Bedeutungen haben oder Sprungtropen (wie Metaphern) enthalten. Wir mögen Wörter, die uns verblüffen und zum Denken bringen („Dämmerlicht“).
  • Emotionalität: Beliebt sind oft Wörter, die starke (positive) Gefühle ausdrücken und in der Lage sind, unser Befinden auszudrücken („Sehnsucht“, „Liebe“).
  • Bildlichkeit: Unsere Wertung von Wörtern hängt davon ab, welche bildhaften Assoziationen sie wecken und mit welchen Formen und Farben sie sich verbinden.
  • Perspektive: Manche Wörter legen eine bestimmte Sichtweise der Welt nahe, die uns besonders reizvoll erscheint („Wolkendecke“).
  • Transzendenz: Wir mögen häufig Begriffe, die uns Dimensionen aufschließen, die wir sonst nicht erreichen – die uns unbegreiflich und sinnlich nicht zu erfassen scheinen
  • Zitatwirkung: Mit Wörtern rufen wir Kontexte auf, bestimmte Texte und deren Begleitumstände („Lieblingsmensch“, nach einem Lied von Namika).

Ideen zum Unterricht

  • Umfrage: Die Lernenden führen eine Umfrage zum schönsten Wort der deutschen Sprache durch und sammeln je fünf Beispiele.
  • Schöne Sätze: Die Lernenden verwenden die 10 (15, 20) schönsten Wörter in einem Satz.
  • Ranking: Die Schüler erstellen ein Ranking der zehn schönsten Wörter und vergleichen ihre Ergebnisse mit den Ergebnissen bekannter Wettbewerbe.
  • Edelsteinsuche: Die Lernenden erhalten ein Gedicht und suchen darin die zehn schönsten Wörter heraus. Dann wird verglichen.

Bibliographie

Literatur

  • Zirfas, Jörg: Geschichte der ästhetischen Bildung, 5 Bde. Paderborn: Schöningh, 2009-2021
  • Krämer, Walter; Kaehlbrandt, Roland: Lexikon der schönen Wörter: von anschmiegsam bis zeitvergessen. München: Piper, 2011
  • Löwenstern, Lenny. Schöne Wörter: Die schönsten Wörter der deutschen Sprache. Norderstedt: BoD – Books on Demand, 2020, 2., verbesserte und erweiterte Auflage
  • Fromm, Waldemar: An den Grenzen der Sprache: über das Sagbare und das Unsagbare in Literatur und Ästhetik der Aufklärung, der Romantik und der Moderne. Freiburg im Breisgau: Rombach, 2006
  • Anderegg, Johannes: Sprache und Verwandlung: Zur literarischen Ästhetik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1985

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