Gedichtinterpretationen schreiben: Ein lyrischer Museumsführer

Martin Greif: Ein Tag am Meer, IV

Der Mond hat die Fernen erschlossen,
Sein Zauber beherrschet die Nacht,
Breit wogt auf den Spiegel ergossen
Sein Licht in unendlicher Pracht.

Bedeckt ist mit Barken die Rhede,
Es sprüht um die Ruder der Schaum,
Das Meer ist verlassen und öde
Und alles erscheint wie ein Traum.

Zum Zweck

Die Besichtigung eines Museums weist erstaunliche Parallelen auf mit der Lektüre eines Gedichts. Selbstverständlich darf man die erlesenen Sammlungen auch ganz ohne Führung genießen. Wer sich jedoch zur Führung entschließt, hat eine gute Führung verdient. Ein kundiger Museumsführer vermag den stummen Dingen reizvolle Geheimnisse zu entlocken, so, wie der Interpret Texte enträtselt und zum Sprechen bringt.

Zunächst aber: Was ist der Zweck eines Museums? Zunächst einmal soll es ausstellen. Statuen, ausgestopfte Tiger, irgendwas. Es soll informieren, Erkenntnisse schaffen, die Besucher bilden, die Besucher erziehen. Weil ein Museum nur dann Besucher gewinnt, wenn sie gern kommen, muss es auch angenehm sein, es zu durchschreiten. Die Feinde der Bildung sind Langeweile und Verwirrung.

Was ist der Zweck einer Gedichtinterpretation? Der Leser soll verstehen, wie er das Gedicht deuten kann. Das leistet die Interpretation. Dann will er aber auch wissen: Wie wirken die einzelnen Teile des Gedichts zusammen, um diese Verständnis zu ermöglichen? Das zeigt die Analyse. Sie ist wichtig, hat aber stützende Funktion. Dabei möchte der Leser sich weder langweilen noch ärgern. Er will tiefe Einsichten gewinnen, Überraschungen erleben, sich nicht langweilen, sich keineswegs verirren. Wer hier Museumsführer sein und einen Leser in ein Gedicht einladen will, hat also viel vor!

Vorarbeiten

Wer eine Führung plant, wird sich vorher überlegen, was er zeigen will. Dazu möchte man vertraut werden mit dem Gegenstand der Ausstellung. Man reist, rätselt, recherchiert.

Was der Gegenstand der Interpretation ist, steht schon fest – ein bestimmtes Gedicht soll vorgestellt werden. Dazu wird man den Text erst einmal lesen, nicht nur einmal, sondern zweimal oder öfter. Am besten: laut! Das Gedicht wird gründlich und systematisch erschlossen. Alles will man wissen: Was für ein Reim gliedert den Text, hält ihn zusammen? Welches Metrum gibt ihm Kraft? Welche Effekte schaffen Kadenzen, wo Zeilen enden und neue beginnen? Was wird im Einzelnen gesagt? Wozu? Warum gerade so? Welche Stilmittel und Bilder stützen die Aussagen? All das und mehr wird man möglichst übersichtlich auf dem Blatt festhalten. Die Texterschließung verläuft dreistufig:

Phase der äußeren Erschließung

Hier kommt es darauf an, dass du...

  • die Operatoren in der Arbeitsanweisung markierst (damit du nicht an der Aufgabenstellung vorbeischreibst);
  • Zeilennummern anbringst, wo sie nicht schon vorhanden sind (du willst ja zitieren);
  • die Strophen nummerierst (zur Unterscheidung: mit rönischen Zahlen: I, II, III, IV...);
  • die Quellenangaben untersuchst und kommentierst (du brauchst sie für die Einleitung).
Phase der inhaltlichen Erschließung

Jetzt ist nötig, dass du ...

  • inhaltliche Abschnitte unterscheidest und am Text markierst: dazu schreibst du, a) den Zeilenumfang, b) was sich der Sprecher im jeweiligen Abschnitt vornimmt, c) was darin geschieht; dabei sollten dir auffallen: Wechsel der Perspektive, des Orts, der Zeit, des Motivs;
  • die Sprechsituation bestimmst: Wer spricht? Zu wem? Wie verhält er sich zum Geschehen im Gedicht?
  • den Titel ins Verhältnis zum Text setzt und das Ergebnis festhältst;
  • jene Textstellen kommentierst, deren Verständnis eine Interpretation klären muss (wo es zwei Deutungsmöglichkeiten gibt, hältst du sie fest);
  • die Besonderheiten im Stil und Ausdruck entdeckst und benennst, ihre Funktion für den Text (gliedern, verbinden) und für den Leser (veranschaulichen, zuspitzen) klärst; bei sprachlichen Bildern (besonders bei den Sprungtropen: Metapher, Symbol, Vergleich) solltest du zeigen, weswegen gerade dieses Bild gewählt wurde;
  • eine oder mehrere Deutungshypothesen formulierst und an den Seitenfuß schreibst: Welche Aussagen trifft der ganze Text über sein Thema? Was soll der Leser tun?
Phase der formalen Erschließung

Damit fangen viele Schüler an, weil die formale Erschließung recht mechanisch zu erledigen ist. Du nicht! Die Form stützt die inhaltlichen Aussagen, sie sollte nicht isoliert betrachtet werden. Jetzt ist entscheidend, dass du...

  • die Reimwörter unterstreichst (und festhältst, wo besondere Reimformen auftreten: unreine Reime, dialektale Reime, gespaltene Reime...);
  • das Reimschema anzeichnest (für jeden neuen Reim ein neuer Buchstabe: a, b, c; Verse ohne Reimgeschwister heißen Waisen: w; der Refrain wird mit R notiert);
  • die Hebungen ( ´ ) und Senkungen ( ꙼ ) über den Silben einträgst;
  • die Versfüße abteilst (ǀ) und das Metrum mit seiner Hebungszahl bestimmst (z. B. vierhebiger Jambus);
  • auffällige Pausen (ǀǀ) einzeichnest, das gilt vor allem bei regelmäßigen Pausen (wie beim Pentameter und beim Alexandriner), aber auch bei rhetorischen Pausen (beim Gedankenstrich);
  • Zeilensprünge am rechten Textrand einträgst (gebogener Pfeil vom Vers zum Vers);
  • die Kadenzen am Versende darstellst: "st" (stumpf: keine Senkung), "kl" (klingend: eine Senkung), "gl" (gleitend: zwei Senkungen).

Überschrift

Eine Führung ohne Titel schafft es in keine Zeitung. Kein Mensch weiß, was ausgestellt wird, nicht einmal, dass es sich überhaupt um eine Führung handelt. Weder lässt sich die Führung recherchieren, noch kann man sie erfolgreich bewerben.

Wenn ich einen beliebigen Text schreibe, sind die ersten Fragen des Lesers: Was für ein Text ist das? Worum geht’s? Das sollte also auch der Verfasser eines Interpretationsaufsatzes freundlicherweise verraten. Er nennt also schon im Titel die Textsorte: Interpretation. Dann wird er angeben, was er interpretiert: Interpretation zu dem Gedicht „Nacht“. Und weil es zahllose Morgengedichte gibt, gehört der Autor auch dazu:

Interpretation zu Martin Greifs Gedicht „Nacht“

Einstieg

Stell dir vor, du betrittst ein Museum. An der Wand offene Leitungen, es tröpfelt von der Decke, Spinnweben in den Winkeln, alles grau in grau. Hinter dem lieblos dekorierten Tresen sitzt ein verhärmtes Männlein und schaut dich finster an. Würdest du bleiben? Wenn man seine Gäste gebührend empfangen möchte, wird man nicht gerade sperriges, unschönes und abgegriffenes Mobiliar in den Empfangsraum stellen. Man wird sich um seine Besucher bemühen, alles gut ausleuchten, freundliche Farben wählen, professionelle Klarheit schaffen.

Wenn du jemanden dazu bringen möchtest, deine Interpretation wohlwollend zu lesen – lesen muss er sie meistens ohnehin, sofern er Lehrer ist - dann sorge dafür, dass ihn nicht schon in den ersten Zeilen das große Grauen packt. Achte auf tadellose Rechtschreibung. Setze stilistische Glanzpunkte. Schreib kräftig, prägnant, anschaulich. Mach deutlich: Der Text ist interessant! Deute an, worum es geht! Zeig schon im Einstieg, dass von deiner Interpretation viel zu erwarten ist. Komm dann aber rasch zur Sache. Auch im Museum will man sich nicht in endlosen Garderoben verirren, sondern rasch zur Ausstellung vorgelassen werden. Dein Einstieg sei eine Verlockung zum Lesen:

Wer vom Hafen auf das nächtliche Meer hinausblickt, mag annehmen, er sei eins mit dem Kosmos. Zum Plätschern der Wellen blickt er hinaus auf die Bahn des Mondes im Meer – um dann unverhofft aus seinem Traum gerissen zu werden.

Einleitung

Der erste Raum im Museum wird vermitteln, was jeder wissen muss, den das Thema der Ausstellung interessiert – dieser Raum legt Grundlagen. Man erfährt, was ausgestellt wird, woher es kommt, womit es zu tun hat. Als Museumsführer wirst du zunächst über das Was, Wann, Wer, Woher aufklären.

Nicht anders verfährt der Interpret in der Einleitung. Er nennt die Textsorte des Gedichts zuerst: Ist es ein Sonett? Eine Hymne? Ein Epigramm? Es folgt der Titel des Gedichts (mit dem Untertitel, sofern es einen hat) und natürlich der Autor. Das ist leicht einzusehen. Dass man sagen sollte, wann es entstanden ist, wird auch niemand bezweifeln. Immerhin kann ich es so historisch einordnen. Es kann auch hilfreich sein, die näheren Umstände der Entstehung zu erläutern, seinen Zweck oder Anlass: Vielleicht ist das Gedicht auf einer Reise entstanden? Während einer Krankheit? Kurz vor dem Tod? Als Reaktion auf ein Ereignis? Wichtig ist auch, das Jahr der Veröffentlichung zu nennen. Erst, wenn ein Gedicht öffentlich wird, können auch andere darauf reagieren, die nicht gerade mit dem Verfasser um den Kamin gesessen haben. Selbst der Verlag ist von Bedeutung – vielleicht ist es renommierter Verlag, der ein bestimmtes Programm hat? Ergänzen sollte man den Ort des Erscheinens. Gedichte werden üblicherweise nicht einzeln veröffentlicht, sondern in Gedichtbänden oder Anthologien. Auch in Gedichtreihen, Zyklen, treten sie gern auf. Oft ist es keineswegs verkehrt, diese Kontexte zur Hand zu haben – oder jedenfalls zu wissen, in welchem Zusammenhang das Gedicht steht.

Wer vom Hafen auf das nächtliche Meer hinausblickt, mag annehmen, er sei eins mit dem Kosmos. Zum Plätschern der Wellen blickt er hinaus auf die Bahn des Mondes auf dem Meer – um dann unverhofft aus diesem Traum gerissen zu werden. Diese Vorstellung erweckt Martin Greif (i. e. Friedrich Hermann Frey, 1839-1911) im vierten Gedicht des Zyklus „Ein Tag am Meer“ mit dem Titel „Nacht“. Entstanden ist es 1867 auf einer Italienreise des Autors. Veröffentlicht wurde es in Greifs Sammelband „Gedichte“, erschienen 1868 im Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung in Stuttgart. Der zweistrophige Text schildert die Melancholie, die den Sprecher bei der Betrachtung des nächtlichen Meers überfällt.

Formale Analyse

Die meisten Museen bedienen sich eines pädagogischen Leitprinzips, das in die Ordnung und Benutzung der Sammlung einführt. Dem Besucher werden Zeichen erläutert, Laufwege angeboten, die Aufteilung der Räume erklärt. Oft erhält er dazu ein Flugblatt, das ihn begleitet. Auch ein Museumsführer wird etwas zur Gesamtanlage, zum Baulichen sagen.

Übersicht schaffen soll auch die poetische Analyse. Sie führt vom Großen ins Kleine und stellt alles in einen sinnvollen Zusammenhang. Wozu dient sie? Die poetische Analyse erläutert, wie ein Gedicht aufgebaut ist – seiner Form nach. Sie legt die Architektur frei, den Grundriss und Aufriss des Gedichts. Du beginnst also beim Großen, nennst die Anzahl der Strophen und die Anzahl der Verse pro Strophe. Wenn es sich um besondere Strophenformen handelt, etwa um Stanzen oder Oden-Strophen, dann benennst du sie mit dem jeweiligen Fachbegriff. Vierzeilige Strophen sind Quartette, dreizeilige Strophen Terzette. Der Überblickssatz lautet in unserem Beispiel so:

Greifs Gedicht besteht aus zwei Quartetten.

Was verbindet die Strophen? Oft das beiden gemeinsame Reimschema, manchmal ein Kreuzreim, der die Strophengrenze überspringt. Oder: Jede Strophe bildet durch den umfassenden Reim eine für sich geschlossene Einheit, ebenso wie die nächste. Du schreibst also weiter:

Greifs Gedicht besteht aus zwei Quartetten, die das Kreuzreimschema verbindet.

Nun bist du schon beim Vers! Den Vers beschreibst du, indem du seine Hebungszahl nennst und das dominierende Metrum. Verse ohne Metrum, aber oft mit fester Bauform und sich wiederholenden Takten, sind freie Rhythmen. Verse ohne erkennbaren Rhythmus, oft mit wechselnder Verslänge, sind freie Verse. Wenn alle Verse gleich aufgebaut sind, aber eben nicht einheitlich im gleichen Metrum, beschreibst du den Bau der Verse. Dein nächster Schritt führt zur Hebungszahl. Nenne die Anzahl der Hebungen pro Vers! Zuletzt beschreibst du das Versende. Wo es mit einer betonten Silbe endet, sprichst du von einer stumpfen Kadenz. Wo die letzte Silbe unbetont ist, erkennst du die klingende Kadenz. Meist folgen die Kadenzen dem Reimschema, beim Kreuzreim wechseln sich stumpfe und klingende Kadenzen in strenger Folge ab: Sie alternieren. Den Vers kannst du in unserem Beispiel so beschreiben:

Greifs Gedicht besteht aus zwei Quartetten, die das Kreuzreimschema verbindet. Jedes Quartett besteht aus dreihebigen Versen: Auf einen jambische Fuß folgen zwei Anapäste, die Kadenzen sind über das gesamte Gedicht hinweg alternierend stumpf und klingend.

 Leider droht der Text sich in einzelne Fäden aufzulösen, wenn du nicht zeigst, was das Gedicht weiter zusammenhält. Reime fördern den Zusammenhalt, aber auch Zeilensprünge, Refrains, Pausen und der Satzbau. Oft entspricht die Strophe dem Satz – der Satz umfasst die ganze Strophe. Genauso oft teilt sich die Strophe in zwei Sätze. Seltener gehört den Sätzen jeweils nur eine Zeile. Wo Sätze die Versgrenzen überschreiten, spricht man vom Hakenstil. Wo Satz und Vers eine Einheit bilden, spricht man vom Zeilenstil. Bei Greif streckt sich der Satz über das ganze Quartett. Man schreibt:

Greifs Gedicht besteht aus zwei Quartetten, die das Kreuzreimschema verbindet. Jedes Quartett besteht aus dreihebigen Versen: Auf einen jambische Fuß folgen zwei Anapäste, die Kadenzen sind über das gesamte Gedicht hinweg alternierend stumpf und klingend. Jede Strophe bildet eine syntaktische Einheit, Satzende und Strophengrenze fallen zusammen.

 Zuweilen sind Strophen auch spiegelbildlich gebaut; manchmal wiederholt die zweite Strophe das Baumuster der ersten. In unserem Fall hilft das Enjambement dabei, den Text weiter zu gliedern:

 Greifs Gedicht besteht aus zwei Quartetten, die das Kreuzreimschema verbindet. Jedes Quartett besteht aus dreihebigen Versen: Auf einen jambische Fuß folgen zwei Anapäste, die Kadenzen sind über das gesamte Gedicht hinweg alternierend stumpf und klingend. Jede Strophe bildet eine syntaktische Einheit, Satzende und Strophengrenze fallen zusammen. Der dritte und vierte Vers beider Strophen ist durch einen Zeilensprung verbunden.

Inhaltlicher Aufbau

Die meisten Museen sind logisch aufgebaut. Im Kunstmuseum folgt man dem Zeitstrahl der Kunstgeschichte, im Naturkundemuseum der Evolution oder den Lebensräumen. Man durchschreitet Museen meist in einer geregelten Abfolge, sieht Exponate in logischer Folge. Auch Gedichte, das mag überraschen, folgen einem klaren Aufbauprinzip. Der Museumsführer kennt diese Ordnung und kann sie erklären.

Zunächst unterscheidet man die Abschnitte, die sich aus dem Zweck des Texts ableiten lassen und bestimmt ihre Anzahl. Zum besseren Überblick schreibt man:

Inhaltlich lassen sich – in Übereinstimmung mit den Strophen – zwei Abschnitte unterscheiden.

Für jeden Abschnitt klärst du nun: Welchen Umfang haben sie – also wo beginnen und enden die Abschnitte? Der nächste Schritt gilt der Funktion der Abschnitte: Welchem Zweck folgen die Abschnitte – beschreiben sie eine Landschaft? Wird ein Geschehen geschildert? Wird eine Bitte ausgesprochen? Sind die Strophen in verschiedene Sprechrollen aufgeteilt? Zuletzt bestimmst du, worum es geht!

Inhaltlich lassen sich – in Übereinstimmung mit den Strophen – zwei Abschnitte unterscheiden. Der erste Abschnitt (V. 1-4) beschreibt die Wirkung des Mondlichts auf das nächtliche Meer. Im zweiten Abschnitt lenkt den Blick zunächst zum Hafen, zur „Rhede“ (V. 1-3), dann schweift der Blick zurück aufs Meer. Die Szene erscheint unwirklich, wie ein „Traum“ (V. 4).

Aber wer trägt den Text vor? Einen Erzähler gibt es in der Lyrik nur in der Ballade. Ansonsten nennt man die Stimme, die den Text formuliert, den Sprecher. Wenn er sich selbst als „ich“ oder „wir“ benennt, bezeichnet man den Sprecher als lyrisches Ich.

Inhaltlich lassen sich – in Übereinstimmung mit den Strophen – zwei Abschnitte unterscheiden. Der erste Abschnitt (V. 1-4) beschreibt die Wirkung des Mondlichts auf das nächtliche Meer. Im zweiten Abschnitt lenkt den Blick zunächst zum Hafen, zur „Rhede“ (V. 1-3), dann schweift der Blick zurück aufs Meer. Die Szene erscheint unwirklich, wie ein „Traum“ (V. 4). Der Sprecher bleibt dabei im Hintergrund, er lenkt den Blick des Lesers und legt ihm nahe, das Naturbild als Traum zu begreifen.

Zum Hauptteil: Die Interpretation

Der Kern des Museums bildet die Sammlung. Jedes Exponat steht als Teil des Ensembles im Zwiegespräch mit allen anderen Exponaten. Die Architektur des Museums wird sich auf seine Deutung ebenso auswirken wie seine Stellung in der Ordnung der Sammlung. Jedes Exponat verrät etwas über die Ausstellung: Weder könnte man es deuten, ohne den Kontext zu beachten, noch wäre die Ausstellung ohne den Blick auf Einzelheiten zu verstehen. Ein kundiger Führer wird versuchen, jede Einzelheit ernst zu nehmen aufs Gefüge der gesamten Ausstellung zu beziehen. Er nimmt den Besucher freundlich an der Hand, führt ihn durchs Gebäude, zeigt ihm dies, zeigt ihm jenes, offenbart die besondere Bedeutung jedes wichtigen Objekts, ohne den Besucher mit unwichtigen Details zu langweilen. Die Aufgabe des Museumsführers ist es, dem Besucher die Augen zu öffnen: Er soll mehr sehen, mehr verstehen.

Als Interpret ist man ein Führer durch ein Gedicht. Es versteht sich, dass man nicht kreuz und quer durch das Gedicht stolpert, sich eine gefühlte Ewigkeit über eine Stelle auslässt, während drängendere Fragen unbeantwortet bleiben. Es versteht sich von selbst, dass man fachlich beschlagen ist, aber den Leser nicht in Wortwolken einhüllt, die er nicht durchdringt. Klar ist auch, dass man den Leser sorgsam führen muss, damit er nie den Blick für das Ganze verliert. Wer ein Sprachkunstwerk erfassen will, liest es in der natürlichen Folge der Sätze. Dass Gedichte manchmal aus Wortkeimen aufwachsen oder aus einer Schlusspointe – das gibt es, es kommt nicht einmal selten vor. Aber als Interpret in die Mitte des Texts zu springen? Gedichte werden vom Anfang zum Schluss gelesen. Märchen liest man auch nicht rückwärts. Dass man zuweilen vor- und zurückschaut, Verbindungen herstellt – das ist dagegen sinnvoll. Wichtig ist zudem, dass die Gedichte selbst zur Sprache kommen – im Zitat. Wichtiger ist, dass der Leser weiß, wann der Text und wann der Interpret spricht.

Du beginnst also mit dem ersten Vers: „Der Mond hat die Fernen erschlossen“. Schwierig! Zunächst muss dir etwas auffallen. Der Mond soll etwas „erschlossen“ haben. Ein kalter, staubiger Himmelskörper kann nach naturwissenschaftlicher Logik gar nichts erschließen. Das kann nur der Mensch oder ein vom Menschen gesteuertes Gerät – der Mensch (oder ein Bagger) „erschließt“ beispielsweise ungenutzte Flächen in der freien Natur und macht sie urbar. Der Mond ist damit personifiziert. Zweiter Gedanke: Was kann man erschließen? Quellen, Bodenschätze, Geheimnisse. Aber „Fernen“? Das scheitert schon daran, dass man Fernen im Alltagsgebrauch nur im Singular kennt: „die Ferne“. Warum also die Mehrzahl? Wenn also ein personifizierter „Mond“ gleich mehrere „Fernen“ „erschließt“ – dann fragt sich gleich: Für wen? Einen Schritt zurück! Die Meerszene wird aus der Sicht des Sprechers entwickelt. Wenn er den Mond als „erschließendes“ Wesen begreift, hat das mehr mit dem Sprecher zu tun als mit dem Mond. Der Mond wird als hilfreiches Wesen erfahren, der mit seinem Licht die Dunkelheit erhellt. Der Blick in die „Fernen“ hat eine Richtung – die Ferne ist dort, wohin man vom Hier aus hinschaut. Wenn es nun mehrere „Fernen“ gibt, ist der Blick ungerichtet. Auf dem nächtlichen Meer lässt sich kein Ziel avisieren, der Blick kann in diese oder in jene Ferne schweifen. Aus der Sicht des Sprechers ist es der Mond, der ihm „die Fernen“ erschließt. Wozu? Erst, wenn ich eine Ferne wahrnehme, wenn ich Distanzen abschätzen kann, dann kann ich mich hindenken, kann sie zum Spielgerät der Phantasie machen. Erst im Mondlicht ist sie meiner Phantasie erschlossen. So könnte es jetzt Vers für Vers vorangehen. Aber wir waren zu schnell! Wie formuliere ich meine Überlegungen jetzt?

Der erste Vers eröffnet das Gedicht mit den Worten: „Der Mond hat die Fernen erschlossen“ (Z. 1). Durch das Verb „erschließen“ ist der Mond personifiziert. Er wird damit zum hilfreichen Wesen, das durch sein Licht die Weite des Meeres für die Phantasie des Sprechers „erschließt“, also: zugänglich macht. Der weite Horizont bietet den Blick in mehrere „Fernen“, zumal sich in der Dunkelheit kein klares Ziel anbietet.

Was ist jetzt geschehen?

  • Die Stelle im Gedicht wird genannt (der erste Vers).
  • Es wird deutlich, was der Vers leistet: Er eröffnet das Gedicht.
  • Das Zitat wurde eingeführt – die Formulierung „mit den Worten“ leitet zum Textbeleg über.
  • Zitiert wird im Wortlaut, und zwar unverändert.
  • Das Zitat steht in Anführungszeichen.
  • Der Ort des Zitats im Text („Z. 1“) wurde in Klammern ergänzt.
  • Der Textbeleg fügt sich harmonisch in den Satz ein.
  • Das sprachliche Material wird fachlich richtig beschrieben („das Verb“).
  • Stilmittel werden korrekt benannt („personifiziert“).
  • Die Funktion des Stilmittels wird dargestellt („wird zum … Wesen“).
  • Argumentativ stimmig werden die Einzelbefunde verknüpft.

Das ließe sich fortsetzen:

Der Mond als übergeordnetes, magisches, dabei aber hilfreiches Wesen - diese Zuschreibung bietet auch der zweite Vers: „Sein Zauber beherrschet die Nacht“ (Z. 2). Sein „Zauber“ ist das Licht! Diese Metonymie lässt den Mond also magische Züge annehmen: Er wirft die ebenfalls personifizierte „Nacht“ zurück, vertreibt ihre mit seinen Strahlen die Finsternis und „beherrscht“ sie vollkommen. Die folgenden beiden Verse, verbunden mit dem ersten Verspaar durch die Anapher auf „Sein“ (Z. 3 und 5), heben die Lichtmagie des Mondes erneut hervor: „Breit wogt auf den Spiegel ergossen / Sein Licht in unendlicher Pracht“ (Z. 3 f.). Drei Formulierungen unterstreichen dabei den Lobpreis des Gestirns: erstens die Breite der Lichtbahn im Meer (Z. 3), zweitens das hyperbolische Adjektiv „unendlich“ (Z. 3) und drittens die Erwähnung seiner „Pracht“ (Z. 4). Metaphorisch wird die Meeresfläche zum Spiegel, zum glatten und unbewegten Meeresspiegel, weil sie den Mond und den nächtlichen Himmel widerspiegelt.

Auch hier ist zur Technik etwas nachzutragen:

  • Wird die Versgrenze mitzitiert, fügt man an der Stelle der Versgrenze einen Schrägstrich ein.
  • Orientierende Bemerkungen sind hilfreich für den Leser: „Drei Formulierungen unterstreichen dabei…“.
  • Gelegentlich kann man zwei konkurrierende Vorschläge zur Deutung machen. Wenn eine schlüssiger ist als die andere, spricht nichts dagegen, dennoch beide aufzuführen.

Kommen wir zügig zur zweiten Strophe!

In der zweiten Strophe wendet sich der Sprecher nun dem Hafen zu, wo „ [b]edeckt ist mit Barken die Rhede“ (Z. 5). Er entwirft das Bild eines friedlichen, aber zur Abendstunde noch belebten Hafens. Die Inversion folgt den Notwendigkeiten des Versmaßes, verstärkt jedoch auch die Wirksamkeit der Alliteration auf „b“ zwischen „[b]edeckt“ und „Barken“, indem sie das Partizip an den Verskopf stellt. Auch im nächsten Vers erhöht die Inversion den Abstand und damit die Spannung zwischen zwei alliterierenden Wörtern: „Es sprüht um die Ruder der Schaum“ (Z. 6). Das Eintauchen und Aufklatschen der Ruder wird durch die Lautmalerei um „sprüht“ und „Schaum“ hörbar gemacht. Im Kontrast zur Lebhaftigkeit des Hafens, aber auch zum magischen Bild der ersten Strophe, steht die Beschreibung des Meeres im vorletzten Vers der Strophe: „Das Meer ist verlassen und öde“ (Z. 7). Offenbar hat sich die Faszination des Sprechers jäh zur Melancholie verkehrt. Warum wird die übersteigerte Freude so prompt zum Überdruss? Der Zeilensprung zur Pointe lässt den Leser nicht lange auf die desillusionierte Antwort warten: „Und alles erscheint wie ein Traum“ (Z. 8). Wenn „alles“ nun „wie ein Traum“ erscheint, dann muss der Sprecher aus seiner Betrachtung erwacht sein, aus der distanzlosen Einheit mit der Umgebung herausgetreten. Das Gefühl der traumhaften Einheit mit Meer, Nacht und Hafen ist verloren, es erscheint wie ein Trugbild, das Meer ist nicht mehr „unendlich“ (Z. 4), sondern endlos, „verlassen und öde“ (Z. 7). Der unreine Reim von „Rhede“ (Z. 1) und „öde“ (Z. 3) trägt zum Eindruck bei, die Harmonie zwischen Individuum und Kosmos sei gestört.

Schluss

Bevor sich die schweren Flügeltüren des Hinterausgangs schließen, dürfte jeder sich nun fragen: Was schließe ich aus meinen Erkenntnissen? Was will ich jetzt damit anfangen? Niemand möchte ein Museum gerne ratlos verlassen. Er möchte das Gesehene auch nicht im Netz bewerten. Er möchte etwas mitnehmen – nicht nur aus dem Museumsshop.

Im Schlussteil versuchst du eine zusammenfassende Darstellung. Sie kann die Form von Aussagesätzen annehmen, dann geht es um deine Deutung. Sie kann auch die Gestalt von Forderungen und Warnungen annehmen, dann geht es darum, was das Gedicht bezweckt. Jedes Gedicht hat etwas zu sagen, über das sich nachzudenken lohnt. Zunächst empfiehlt sich eine Zusammenfassung der wichtigsten Erkenntnisse. Dann können Folgerungen daraus abgeleitet werden, Appelle formuliert, abweichende Deutungen vorgeschlagen. Immer wieder liest man, am Schluss sei es wünschenswert, dass man aus persönlicher Sicht den Text beurteilt. Zwei gewichtige Gründe sprechen dagegen:

  1. Wer bist du, dich zum Richter aufzuschwingen über „gut“ und „schlecht“? Hast du genug Expertise?
  2. Weil Lyrik nicht gerade populär ist, sind Begeisterungsausbrüche im Schlussteil oft nicht besonders glaubwürdig.

Was verspricht, zur Idylle zu werden, wird schließlich Illusion – dies ist, abschließend betrachtet, der Kern von Greifs Nachtgedicht. Diese Auffassung hat drei mögliche Konsequenzen: die eine wäre, eine Verschmelzung mit der Umwelt gar nicht erst zuzulassen, weil sie letztlich zur Desillusion, zur Enttäuschung führt. Eine andere wäre die Erkenntnis: Nicht so sehr die Umwelt ist es, die reizvoll ist; unser Blick macht das Gesehene zauberhaft und wertvoll, zumindest kurzfristig. Daraus ließe sich die dritte Folgerung erkennen: Gerade weil es an uns ist, wie wir die Welt sehen, ist der geeignete Ansatzpunkt zum Umdeuten der Welt unser eigenes Denken. Entstanden ist Greifs Text in Italien. Als letztes Gedicht des Zyklus „Ein Tag am Meer“ lässt es sich auch als Abschiedsgedicht lesen. Denkbar wäre auch, die Enttäuschung im letzten Vers als Folge der hereinbrechenden Nacht zu verstehen. Am wahrscheinlichsten ist jedoch, dass der Text im Zusammenhang mit den anderen Gedichten des Zyklus zu deuten ist: Er beginnt mit dem Motiv der flüchtigen Begegnung, leitet über zur Erfahrung des Getrenntseins, bebildert im dritten Gedicht das Gefühl der Einsamkeit um letztlich der Melancholie das Feld zu überlassen.

Gesamttext

Interpretation zu: „Nacht“ von Martin Greif

Wer vom Hafen auf das nächtliche Meer hinausblickt, mag annehmen, er sei eins mit dem Kosmos. Zum Plätschern der Wellen blickt er hinaus auf die Bahn des Mondes auf dem Meer – um dann unverhofft aus diesem Traum gerissen zu werden. Diese Vorstellung erweckt Martin Greif (i. e. Friedrich Hermann Frey, 1839-1911) im vierten Gedicht des Zyklus „Ein Tag am Meer“ mit dem Titel „Nacht“. Entstanden ist es 1867 auf einer Italienreise des Autors. Veröffentlicht wurde es in Greifs Sammelband „Gedichte“, erschienen 1868 im Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung in Stuttgart. Der zweistrophige Text schildert die Melancholie, die den Sprecher bei der Betrachtung des nächtlichen Meers überfällt.

Greifs Gedicht besteht aus zwei Quartetten, die das Kreuzreimschema verbindet. Jedes Quartett besteht aus dreihebigen Versen: Auf einen jambische Fuß folgen zwei Anapäste, die Kadenzen sind über das gesamte Gedicht hinweg alternierend stumpf und klingend. Jede Strophe bildet eine syntaktische Einheit, Satzende und Strophengrenze fallen zusammen. Der dritte und vierte Vers beider Strophen ist jeweils durch einen Zeilensprung verbunden.

Inhaltlich lassen sich – in Übereinstimmung mit den Strophen – zwei Abschnitte unterscheiden. Der erste Abschnitt (V. 1-4) beschreibt die Wirkung des Mondlichts auf das nächtliche Meer. Im zweiten Abschnitt lenkt den Blick zunächst zum Hafen, zur „Rhede“ (V. 1-3), dann schweift der Blick zurück aufs Meer. Die Szene erscheint unwirklich, wie ein „Traum“ (V. 4). Der Sprecher bleibt dabei im Hintergrund, er lenkt den Blick des Lesers und legt ihm nahe, das Naturbild als Traum zu begreifen.

Der erste Vers eröffnet das Gedicht mit den Worten: „Der Mond hat die Fernen erschlossen“ (Z. 1). Durch das Verb „erschließen“ ist der Mond personifiziert. Er wird damit zum hilfreichen Wesen, das durch sein Licht die Weite des Meeres für die Phantasie des Sprechers „erschließt“, also: zugänglich macht. Der weite Horizont bietet den Blick in mehrere „Fernen“, zumal sich in der Dunkelheit kein klares Ziel anbietet. Der Mond als übergeordnetes, magisches, dabei aber hilfreiches Wesen - diese Zuschreibung bietet auch der zweite Vers: „Sein Zauber beherrschet die Nacht“ (Z. 2). Sein „Zauber“ ist das Licht! Diese Metonymie lässt den Mond also magische Züge annehmen: Er wirft die ebenfalls personifizierte „Nacht“ zurück, vertreibt ihre mit seinen Strahlen die Finsternis und „beherrscht“ sie vollkommen. Die folgenden beiden Verse, verbunden mit dem ersten Verspaar durch die Anapher auf „Sein“ (Z. 3 und 5), heben die Lichtmagie des Mondes erneut hervor: „Breit wogt auf den Spiegel ergossen / Sein Licht in unendlicher Pracht“ (Z. 3 f.). Drei Formulierungen unterstreichen dabei den Lobpreis des Gestirns: erstens die Breite der Lichtbahn im Meer (Z. 3), zweitens das hyperbolische Adjektiv „unendlich“ (Z. 3) und drittens die Erwähnung seiner „Pracht“ (Z. 4). Metaphorisch wird die Meeresfläche zum Spiegel, zum glatten und unbewegten Meeresspiegel, weil sie den Mond und den nächtlichen Himmel widerspiegelt.

In der zweiten Strophe wendet sich der Sprecher nun dem Hafen zu, wo „[b]edeckt ist mit Barken die Rhede“ (Z. 5). Er entwirft das Bild eines friedlichen, aber zur Abendstunde noch belebten Hafens. Die Inversion folgt den Notwendigkeiten des Versmaßes, verstärkt jedoch auch die Wirksamkeit der Alliteration auf „b“ zwischen „[b]edeckt“ und „Barken“, indem sie das Partizip an den Verskopf stellt. Auch im nächsten Vers erhöht die Inversion den Abstand und damit die Spannung zwischen zwei alliterierenden Wörtern: „Es sprüht um die Ruder der Schaum“ (Z. 6). Das Eintauchen und Aufklatschen der Ruder wird durch die Lautmalerei um „sprüht“ und „Schaum“ hörbar gemacht. Im Kontrast zur Lebhaftigkeit des Hafens, aber auch zum magischen Bild der ersten Strophe, steht die Beschreibung des Meeres im vorletzten Vers der Strophe: „Das Meer ist verlassen und öde“ (Z. 7). Offenbar hat sich die Faszination des Sprechers jäh zur Melancholie verkehrt. Warum wird die übersteigerte Freude so prompt zum Überdruss? Der Zeilensprung zur Pointe lässt den Leser nicht lange auf die desillusionierte Antwort warten: „Und alles erscheint wie ein Traum“ (Z. 8). Wenn „alles“ nun „wie ein Traum“ erscheint, dann muss der Sprecher aus seiner Betrachtung erwacht sein, aus der distanzlosen Einheit mit der Umgebung herausgetreten. Das Gefühl der traumhaften Einheit mit Meer, Nacht und Hafen ist verloren, es erscheint wie ein Trugbild, das Meer ist nicht mehr „unendlich“ (Z. 4), sondern endlos, „verlassen und öde“ (Z. 7). Der unreine Reim von „Rhede“ (Z. 1) und „öde“ (Z. 3) trägt zum Eindruck bei, die Harmonie zwischen Individuum und Kosmos sei gestört.

Was verspricht, zur Idylle zu werden, wird schließlich Illusion – dies ist, abschließend betrachtet, der Kern von Greifs Nachtgedicht. Diese Auffassung hat drei mögliche Konsequenzen: die eine, eine Verschmelzung mit der Umwelt gar nicht erst zuzulassen, weil sie letztlich zur Desillusion, zur Enttäuschung führt. Eine andere: Nicht so sehr die Umwelt ist es, die reizvoll ist; unser Blick macht das Gesehene zauberhaft und wertvoll, zumindest kurzfristig. Daraus ließe sich die dritte Folgerung ableiten: Gerade weil es an uns ist, wie wir die Welt sehen, ist der geeignete Ansatzpunkt zum Umdeuten der Welt unser eigenes Denken. Entstanden ist Greifs Text in Italien. Als letztes Gedicht des Zyklus „Ein Tag am Meer“ lässt es sich auch als Abschiedsgedicht lesen. Denkbar wäre auch, die Enttäuschung im letzten Vers als Folge der hereinbrechenden Nacht zu verstehen. Am wahrscheinlichsten ist jedoch, dass der Text im Zusammenhang mit den anderen Gedichten des Zyklus zu deuten ist: Er beginnt mit dem Motiv der flüchtigen Begegnung, leitet über zur Erfahrung des Getrenntseins, bebildert im dritten Gedicht das Gefühl der Einsamkeit um letztlich der Melancholie das Feld zu überlassen.

Gedichtinterpretation: Muster – Goethe, „Meeresstille“

Johann Wolfgang von Goethe: Meeresstille

Tiefe Stille herrscht im Wasser,

Ohne Regung ruht das Meer,

Und bekümmert sieht der Schiffer

Glatte Fläche ringsumher.

Keine Luft von keiner Seite!

Todesstille fürchterlich!

In der ungeheuern Weite

Reget keine Welle sich.

Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832), bedeutendster deutscher Dichter, Naturwissenschaftler und Staatsmann, aus: Goethe, Gedichte. Ausgabe letzter Hand. 1827 [entst. 1795, ED 1795]

(1) Gedichtinterpretation: J. W. von Goethe: „Meeres Stille“

(2) Die Weite des Meeres kann befreien und beeindrucken – sie kann aber auch überwältigen und bedrücken. (3) Wie lähmend dieses Erlebnis sein kann, schildert (4) Johann Wolfgang von Goethes Gedicht „Meeres Stille“. (5) Ein namenloser Schiffer erlebt darin eine plötzliche Flaute inmitten der See, die ihm als tödliche Gefahr bewusst wird. (6) Der Text entstand 1795 und erschien ein Jahr darauf in Schillers „Musenalmanach“.

(7) Das einstrophige Gedicht umfasst acht Verszeilen. Ein halber Kreuzreim umfasst die ersten vier Verse, (8) ein voller Kreuzreim schließt die vier folgenden Verse zusammen. (9) Das Metrum des Gedichts ist ein durchgehend vierhebiger Trochäus mit alternierend klingenden und stumpfen Kadenzen, der in seiner Regelmäßigkeit das Thema des Gedichts widerspiegelt. (11) Zahlreiche Pausen und Langvokale unterstreichen den Eindruck der Ruhe.

(12) Inhaltlich gliedert sich der der Text drei Abschnitte. (13) Sie werden von einem beobachtenden Sprecher vorgetragen, der nicht selbst in Erscheinung tritt. (14) Im ersten Abschnitt (Z. 1-2) entsteht ein Bild des ruhenden Meeres. Nun, im zweiten Abschnitt (Z. 3-4), fängt der Text den besorgten Blick des Schiffers ein. Im letzten Abschnitt (Z. 5-8) wird deutlich, was der Schiffer erblickt und wie er darauf reagiert.

(15) Die ersten beiden Verse entwerfen ein Bild des ruhigen Meeres: „Tiefe Stille herrscht im Wasser / Ohne Regung ruht das Meer“ (Z. 1-2). (16) Das Attribut „tief“ steigert den Eindruck der Stille, die sich auch klanglich erfahren lässt. Der Trochäus imitiert das gleichmäßige Schwappen der Wellen, Zischlaute wie in „Stille“ und „herrscht“ (Z. 1) das leise Rauschen des Wassers. Langvokale vermindern die Lesegeschwindigkeit , doch bisher spürt der Leser nur die Ruhe der reglosen See. Das ändert sich im folgenden Verspaar: „Und bekümmert sieht der Schiffer / Glatte Fläche ringsumher“. Die Glätte des Meeresspiegels erscheint ihm bedrohlich. Solange nämlich kein Wind aufkommt, hält ihn das bedrohlich schweigende Meer fest. Das Bild des „ringsumher“ still daliegenden Wassers steigert die Verunsicherung des Schiffers und raubt ihm den Atem. Der mitfühlende Sprecher übernimmt nun, im dritten Abschnitt des Texts, die Sicht des Schiffers, der nun „[k]eine Luft von keiner Seite“ (Z. 5) fühlt. Das zweifache harte „k“ im Anlaut, der elliptische Satzbau, die Wiederholung des Indefinitpronomens „kein“ – all dies veranschaulicht die Not des Seemanns; eine Not, die kurz darauf noch drängender wird. Die hyperbolische „Todesstille“(Z. 6) des Meers empfindet der Leser umso mehr, weil das intensivierende Attribut „fürchterlich“ nachgereicht wird. Winzig in der Weite der „ungeheuren Weite“ scheint der „Schiffer“ in seinem Boot verloren. Der letzte Vers, durch einen Zeilensprung angeschlossen, greift erneut das Motiv der Reglosigkeit auf – in der Flaute „reget keine Welle“ sich (Z. 8). So besteht keine Hoffnung, von der Strömung dem Ufer zugetrieben zu werden.

(17) Auf den ersten Blick ist „Meeres Stille“ eine Momentaufnahme, die Beobachtung eines Reisenden. Es geht jedoch um mehr: Inmitten der Größe der Natur erlebt der Mensch in Gestalt des Schiffers, wie ohnmächtig er den Naturgewalten unterliegt. (18) Möglicherweise ist die „Todesstille“ auch eine Vorausdeutung auf die Stille des Todes, die jeden Schiffers im Leben einmal einholt. (19) Selbst, wenn heute eine zuletzt tödliche Seenot heute kaum mehr vorstellbar ist, (20) erlebt der Leser die Angst nach, die ein Seemann in der Windstille erlebt. Der Text wirkt wie eine Warnung vor der Größe des Elements und fordert zur Demut auf.

(1) Die Überschrift sollte zumindest angeben, was sie ist (eine Gedichtinterpretation) und worauf sie sich bezieht (Autor, Titel des Gedichts)

(2) Mit der Hinführung wird das Thema des Gedichts entwickelt, ebenso eine Deutungshypothese.

(3) Nicht vergessen: Jeder Satz schließt an den vorigen an und bereitet den nächsten vor!

(4) Textsorte, Autor, Titel – auch das muss der Leser erfahren!

(5) Hier steht, was der Text auf der Handlungsseite bietet, also: was geschieht!

Erscheinungsjahr – wer kann, darf noch die Epoche nennen.

(6) Um die Qualität des Texts einschätzen zu können, benötigt der Leser Informationen zur Erscheinungsweise, zum Jahr und zum Verlag.

(7) Bei der formalen Analyse geht es vom Großen zum Kleinen: zuerst der Aufbau nach Strophen- und Verszahl!

(8) Reime leisten etwas – sie strukturieren das Gedicht. Das soll hier deutlich werden!

(9) Das Metrum wird angegeben mit dem jeweiligen Versmaß, der Hebungszahl und den Kadenzen!

(12) Auch hier wieder ein Überblickssatz!

(15) Ein Interpretationsschritt besteht immer aus: a) Einführung durch Handlungsbezug, b.) Textbeleg, c.) Zeilenangaben, d.) Auswertung.

1. Fachbegriff

2. Beleg

3. Angaben zur Funktion / Wirkung / Deutung

(16) Ja, längst vergessen, wie das „Wort“ genau heißt? Präzise Sprache ist wichtig, Fachbegriffe nutzen!

(17) Der Schluss versucht ein Resumé – worum geht es im Text? Was wird künstlerisch versucht?

(18) Der Schluss führt die Einzelbeobachtungen zusammen und schlägt mögliche Gesamtdeutungen vor!

(19) Wenn sich eine Aktualisierung oder geschichtliche Einordnung anbietet – im Schluss hat sie Platz!

(20) Was soll der Text bewirken? Das ist im Schluss ebenfalls wichtig!