Schule und Geschlecht

Dass ich Lehrer geworden bin – das verdanke ich einer Frau. Meine wichtigsten Anregungen zur Klassenführung kamen – von einer Frau. Meine geschätzten Nebensitzerinnen – Frauen. Warum dürfen Politiker und fragwürdige Experten von einer „Verweiblichung der Bildung“ sprechen, weil so viele Männer das Chefbüro dem Schulhof vorziehen? Verweiblichung, was soll das sein? Die effeminierte Schule?

Ich unterrichte Fächer, bei denen der Frauenanteil bei über 70% liegt; von einer Verweiblichung der Kurztests weiß ich nichts. Aufsätze werden nicht à la femme korrigiert. Bei meinen Kolleginnen dauert die Doppelstunde Stunde 90 Minute, bei mir dauert sie anderthalb Stunden. Kurz, meine Kolleginnen leisten dasselbe wie ich, dasselbe wie meine Kollegen, manchmal weniger, meistens mehr. Wenn ein Engländer oder Amerikaner das Wort „teacher“ hört, dann stellt er sich sehr wahrscheinlich eine Frau vor. Wir können das Experiment aus Grammatikgründen nicht übertragen – Geschlechterfragen spielen trotzdem eine Rolle auf Pausenhöfen, Fachräumen, Studienfahrten und Elternabenden.

Warum ist es an vielen Schulen üblich, Lehrer beiderlei Geschlechts auf Studienfahrt zu schicken? Warum gibt es so wenige Hausmeisterinnen oder Schulsekretäre? Warum ist die ehrenvolle Aufgabe der Schulleitung eine Männerdomäne, obgleich längst mehr als fünfzig Prozent des Kollegiums weiblich sind? Warum arbeitet die Mehrheit der Kollegen mit Kindern in Vollzeit, die Mehrheit der Kolleginnen mit Kindern aber in Teilzeit?

Warum nehmen meine Kolleginnen weinende Fünftklässler in den Arm – und ich nicht? Warum stelle ich einen Stuhl in die Tür, wenn ich mit einer Schülerin spreche? Warum verweise ich ritzende Mädchen und Magersüchtige an die Lehrerin ihres Vertrauens, eher jedenfalls als an den männlichen Beratungslehrer? Warum mache ich mir Gedanken, ob die Mädchen in meinen Klassen nicht eher weibliche Vorbilder bräuchten als meines? Ich bin, soweit ich weiß, ein Mann. Das teilt man mir in der Schule so oft und so explizit mit, dass ich fast vergesse, dass ich auch ein Mensch bin.

Das führt zur heikelsten Frage: Wie menschlich darf es denn zugehen zwischen Schülerschaft und dem pädagogischen Personal? Darf der Schüler zweideutige Bemerkungen machen, wenn die Lehrerin ein enges T-Shirt trägt? Darf die Lehrerin dem Tagebuchordner ungebeten mitteilen, dass er heute so gut rieche? Beide Handlungen lassen sich leicht verurteilen. Der zudringliche Schüler nutzt die numerische Überlegenheit im Klassenraum, die Lehrerin ihren Statusvorteil. Erzwungene Erotik ist keine Geschlechterfrage, sondern eine Machtfrage. Wo sich zwischen Lernenden und Lehrenden so etwas wie Liebe anbahnt, wird es dagegen für beide Seiten oft schmerzhaft – selbst dann, wenn kein Missbrauch im Raum steht. Aber auch das hat mit der Geschlechterfrage nichts zu tun.

Sprechen wir über Gerechtigkeit! Unabsehbar ist die Zahl jener, die Jungs als Bildungsverlierer sehen. Ich glaube nicht, dass Mädchen es mit ihren Lehrkräften grundsätzlich leichter haben – umsorgt von verständnisvollen älteren Schwestern, umhegt und beschützt von Vaterfiguren. Zu platt scheint mir der Mythos vom schwierig-genialen Buben, an dem männermordende Elfchen mit Pferdeschwanz vorbeiziehen. Ich habe Mädchen ebenso oft und mindestens so grandios scheitern sehen wie Jungs. Es gibt männliche Zicken und weibliche Proleten, und das ist gut so.

Man kann noch so oft die feministische Posaune blasen, die Geschlechtermauern bleiben stehen, die Glasdecke zeigt nicht einen einzigen Sprung. Noch immer werden in Deutschlektüren willige Mädchen von identitätsschwachen Egomanen verführt. Schönes Fräulein, darf ich’s wagen, sexuelle Belästigung ihr anzutragen? Darüber sollte man sich empören, nicht über Gendersternchen oder gar Frühsexualisierung!

Vermutlich muss es Mädchen-MINT und Jungspädagogik noch eine ganze Weile geben. Für die wichtigsten Grundfunktionen des öffentlichen Lebens ist es jedoch völlig unerheblich, welches Geschlecht wir haben. Unsere Personalausweise sind gleich groß, die Wahlzettel haben dieselbe Farbe, das Grundgesetz ist weder spezifisch weiblich noch betont männlich. Sollten wir nicht auch langsam die schulischen Rollenbilder entstauben?

Liebe Lehrer! Ihr denkt, wisst ihr Bescheid? Wisst ihr, was Dysmenorrhö mit eurem Unterricht macht? Wisst ihr, dass Hot Pants für eure Schülerinnen in Zeiten des Klimawandels auch praktische Seiten haben? Ahnt ihr, dass manche Mädchen Kugelstoßerinnen sind und Feuerwehrfrauen?

Liebe Lehrerinnen! Jungs sind verletzlich und sensibel, verträumt und kreativ, nicht nur passiv, hyperaktiv, destruktiv. Manche machen Eiskunstlauf oder schreiben Gedichte. Auch Jungs haben Magersucht und Liebeskummer.

Die Apologet*innen prähistorischer Rollenbilder sind immer noch zu zahlreich. Es gibt sie in braun, grün, schwarz und rot, in allen Weltreligionen, in Werkstätten und Wettbüros. Lassen wir uns unsere Geschlechterrollen nicht von ihnen vorschreiben – nicht von patriarchalen Parteistrategen, nicht von Heidi und Cinderella! Deshalb: Reitet los, ihr Ronaldos, auf rosa Einhörnern!

Zum Weiterlesen

Gleichberechtigung und Vernetzung e.V.: www.genderundschule.de/

QUA-LiS NRW: Gendersensible Bildung und Erziehung

Dantrimont, Nicole: Das benachteiligte Geschlecht. SWR2 Wissen (24.2.2018)