Kafka in der Schule

Nacht. Im Kegel der Schreibtischlampe zittert eine Bernsteinschabe, schwenkt ihre Fühler. Von ferne: Lärm von Trommeln. Das Tagwerk ist erledigt, die Korrekturen abgelegt: Kafkazeit.

Mein erster Kafka war die „Verwandlung“; braun-hellbraun, gekauft zusammen mit den Erzählungen Kleists, ausgerechnet. Später habe ich mir „Kafkas Werk in einem Band“ beschafft, einen dickleibigen Wälzer in billiger Glanzbroschur, auf dem Umschlag Kafkas melancholisches Gesicht. Gelesen habe ich ihn nicht. Mir war zwar durchaus klar, damals, dass Kafka wichtig ist, irgendwie, aber ich konnte mich nicht überwinden, auch nur eine Seite zu lesen.

Das kam später, mit dem „Process“, den ich unterrichten musste. Bald hob sich aus vielen Seiten die sonderbare Welt von Kafkas Prag, mit stickigen Dachböden und blankgescheuerten Hintertreppen. Zwischen Aktenbergen und Leintüchern öffnete sich ein Nebeneingang zum schattenreichen Dom von Kafkas Denken. Im Marbacher Archiv begegnete mir Kafkas Manuskript, mit den berühmten Streichungen. Ich las. Von Kafka, über Kafka. Briefe an Felice, an Milena. An den Vater. Vor allem aber lernte ich den unverkennbaren Rhythmus seiner Sätze kennen, sein gestenreiches Zeigen ins Nichts, die unendlichen Räume, das Zurücknehmen des vorläufig Zugesicherten; Kafka lesen – und eine mühsam unterdrückte Aufregung spüren, die sich an tausend Wörtern festkrallt.

Schüler begegnen dem Autor zuerst in seiner Kurzprosa, meist nicht vor der zehnten Klasse. Gelesen wird beispielsweise seine „Kleine Fabel“ von der Katze und der Maus – eine Fabel, die keine Fabel ist und die in der Aporie endet, in der Weglosigkeit, wie viele von Kafkas Parabeln – der Text ist ein literarisch grandioses Achselzucken. Dasselbe gilt für „Gib’s auf“: Der Ich-Erzähler irrt auf reinen Straßen durch die Stadt und findet den Bahnhof nicht – ein Schutzmann, um Hilfe gebeten, lässt ihn und den Leser ratlos zurück und wendet sich ab, „so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.“

Sehr oft steht Kafkas Leser da wie ein begossener Pudel, klopft an Türen, die offen stehen, ohne dass er je die Räume dahinter betreten könnte. Das ist in der berühmten Türhüter-Parabel so, aber auch in „Heimkehr“, wo der verlorene Sohn nur aus der Ferne erlauscht, was drinnen vor sich geht: „Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man.“ Mit Kafkas Texten ist es anders. Hier bleibt man nicht fremd. Nicht einmal, wenn er Schullektüre ist.

Zumindest bei Lehrern ist auch seine „Verwandlung“ beliebt, jene befremdliche Erzählung über Gregor Samsas Wandlung zum Ungeziefer. Auch in der Kursstufe öffnen sich zuweilen die verbauten Portale seiner Romane: der „Process“ beispielsweise, jene beklemmende Erzählung von Josef K., der verhaftet wird, trotzdem er unschuldig ist; schuldig wird er in völliger Verkehrung jeder Urteilslogik erst nach seiner Verhaftung. Oder der „Verschollene“, Kafkas Amerikaroman, ein Fragment, das Karl Roßmann auf seinem langen Abstieg begleitet durch eine tönende Massenwelt.

Für viele Schüler enthüllt sich Kafka unter dem Blick eines Lehrers, der entweder Kafka-Fan ist oder verzweifelt. Wie andere Autoren im Schulunterricht erleidet auch Kafka das Schicksal didaktischer Verkürzung. Das liegt nicht zuletzt am vorgegebenen Programm – daran, dass der Deutschunterricht eine Sinnmaschine ist. Es muss etwas herauskommen, das man abfragen kann und bewerten! Tafelbild! Ergebnissicherung! Was will der Autor uns damit sagen? Lernziele haben Kafkas Text festgezurrt, damit er in gemeinsamen Anstrengungen zerlegt werde – ein Deutungsapparat, wie geborgt aus der „Strafkolonie“.

Man könnte also sagen: Kafka in der Schule? Was für ein Quatsch! Kafka lässt sich schwer vereinfachen. Das spürt man, wenn man die üblichen Unterrichtshilfen durchblättert. Schülern auf der Suche nach Schlüsseln wird ein ganzer Schlüsselbund gereicht, von dem kein einziger passt: Kafkas Vater. Kafka und sein Frauending. Kafka, der Kinogänger. Kafka, karnevalesk. Kafka und die Psychoanalyse. Aber Kafka kann man nicht aufschließen. Wie soll man sich einem Autor nähern, der Parabeln verfasst hat über die Unmöglichkeit des Verstehens? Ein schwächlicher Türhüter vor unbetretbaren Räumen, in denen das gleißende Licht der Ewigkeit flammt?

Eben deswegen, dieses unwirklichen Lichts wegen, sollten wir Kafka lesen, die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Hier wird man heimisch, ohne dass es je heimelig würde. Nur sollten wir nicht erwarten, dass uns rote Teppiche ausgerollt werden für die Lektüre. Es ist gefährlich, Kafka eine bestimmte Deutung überzustülpen – man sollte bereit sein für eine zuweilen absurde Traumlogik, die das Verstehen selbst zum Thema hat.

Wie soll man Kafka also lesen? Zum einen: Kafkas Komik darf man staunend und kopfschüttelnd genießen. Zum anderen: Kafka lese man wohldosiert! Er fordert zwar nicht viel, was die Komplexität des Satzbaus angeht und die Entlegenheit der Begriffe – aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass jedes Wort wie in Stein gemeißelt ist, fast herausgekämpft; hinter manchem tun sich Falltüren auf und labyrinthische Keller. Deswegen erscheint es mir sinnvoll, Kafka laut zu lesen, zumindest zwischendurch, um die sinnlichen Qualitäten seines Stils zu erleben. Auch das Vorlesen kann ein Vergnügen sein! Selten spürt man besser die beschwörende Kraft von Kafkas eigenartigem Duktus. Vor allem aber sollte man vorurteilsfrei lesen, sollte Max Brod und seinen Epigonen nicht zu viel Gewicht beimessen. Wer immerzu Kafkas Biographie oder die Zeitgeschichte bemüht, übersieht allzu leicht die Wendungen und Windungen seines Erzählens, eines Erzählens, dessen Wurzelwerk tief in die verborgensten Wunden unserer Existenz reicht.

Es ist wichtig, dass man sich von Kafka-Bildern befreit. Dass man sich keine Verfilmungen ansieht. Dass man keine Sekundärtexte liest. Es gab Zeiten, da war Kafka eine Ikone der Unverstandenen, der Entfremdeten, war Teil der Jugendkultur. Ich glaube, das ist nicht mehr so. In einer Zeit, in der man seines Glückes Schmied sein will, möchte man Kafkas strapaziöse Verweigerungsprosa nicht mehr lesen. Der Schwindsüchtige mit sperrigen Sätzen geistert umher im Fundus des Deutschunterrichts, kaum mehr als ein Gespenst. Es ist, als sollte die Scham ihn überleben.

Kurz nach Mitternacht. Nur noch unregelmäßig brandet das Geräusch fahrender Autos herauf. Die Schatten sind länger geworden. Jetzt könnte ich eine jener Gestalten sein, die bei Kafka mit großer Geste, die Hände ausgestrecken, in die Nacht hinauswachsen, als wollten sie etwas verschweigen. Aber – das ist die Kafkawelt! Kafka hätte sicher weitergeschrieben, meine Kafkazeit jedoch ist um. Vielleicht begegnet er mir wieder – in verwinkelten Träumen.