Texterörterung im Abitur

Grundfragen zum Thema

Was ist eine Texterörterung?

Die Bedeutung des Operators „Erörtere!“ kennen Sie aus der Mittelstufe, die Textsorte ist also nicht vollkommen neu. Dennoch sollten Sie einige Eigenschaften und Ziele der Texterörterung beachten:

  • Eine Texterörterung ist eine schulische Schreibform, in der Sie zeigen, dass Sie sich argumentativ mit Texten auseinandersetzen können.
  • Ihr Ziel wird dabei sein, die zentralen Behauptungen oder Forderungen des Texts zuerst darzustellen und dann zu erörtern. Erörtern heißt hier zum einen, Aussagen als richtig oder falsch zu erweisen; Forderungen müssen anerkannt oder zurückgewiesen werden.
  • Es ist nicht Ziel einer Texterörterung, Besonderheiten des Stils herauszuarbeiten. Eingehen müssen Sie nur auf solche Strukturen, die den Text ordnen (z. B. die Aufzählung) und die Einstellung des Verfassers verraten (z. B. Ironie).
  • Grundlage einer Texterörterung sind journalistische Meinungstexte wie Kolumne, Kommentar, Leitartikel, Leserbrief und Glosse, aber auch andere Sachtexte.

Texterörterung im Abitur – Ihre beste Wahl?

  • Vielleicht sind Sie weder mit den Lektüren warmgeworden, noch liegt Ihnen die Analyse und Interpretation von Gedichten und auch mit der Kurzprosa haben Sie nicht viel am Hut.
  • Sie haben Stärken im Bereich der Argumentation und in der sprachlichen Darstellung ihrer Gedanken.
  • Sie belegen weitere gesellschaftswissenschaftliche Fächer wie Gemeinschaftskunde, Geschichte oder Wirtschaft.
  • Es fällt Ihnen leicht, den Aufbau von Texten zu durchschauen und das Wesentliche zu erfassen.
  • Sie sind gut darin, ihre Gedanken zu ordnen und strukturiert darzulegen.

 Womit müssen Sie im Abitur rechnen?

  • Im Abitur kommen Texte vor, die sich ins Rahmenthema einfügen – derzeit (2022) ist das „Sprache und Gesellschaft“.
  • Rechnen Sie vor allem mit Texten aus den größeren überregionalen Tageszeitungen FAZ („Frankfurter Allgemeine“, konservativ), ZEIT (bürgerlich-liberal) und SZ („Süddeutsche Zeitung“, linke Mitte). Es sind aber auch andere Quellen möglich.
  • Der Vorlauf für die Einreichung von Abiturthemen beträgt etwa ein Jahr. Häufig sind die Texte auch älter. Brandaktuelle Texte sind in der Regel nicht vorgesehen.
  • Sehr oft werden lange Texte ausgewählt, die in gekürzter Fassung abgedruckt werden. Dadurch kommt es nicht selten zu Brüchen und Sprüngen in der gedanklichen Entwicklung der Texte.

 Welche Vorkenntnisse besitzen Sie in der Oberstufe?

  • Zum einen sollten Sie sich mit verschiedenen Textsorten befasst haben – spätestens in Klasse 10 werden oft Kommentar, Leitartikel, Stellungnahme und Kolumne eingeführt.
  • Das Erörtern lernen Sie bereits früh. Oft werden in der Mittelstufe bereits lineare und dialektische Erörterungen verfasst, auch Vorformen der Texterörterung sind verbreitet. Dadurch kennen Sie auch den Unterschied zwischen den Gliedern der Argumentation: Behauptung, Begründung und Beleg.
  • In den geisteswissenschaftlichen Fächern und in den Gesellschaftswissenschaften erwerben Sie ein breites Fundament von Weltwissen. Darauf können Sie aufbauen. Halten Sie sich online über aktuelle Diskussionsthemen auf dem Laufenden.
  • Spätestens in der Mittelstufe wird die Inhaltsangabe Sie haben erlernt, wie man Texte inhaltlich erfasst. Sie können eine fremde Position mit den Mitteln der indirekten Rede darstellen.

Warum ist es wichtig, eine Texterörterung schreiben zu können?

  • Die meisten Studienabschlüsse setzen die Fähigkeit voraus, sich kritisch mit Texten zu befassen.
  • In vielen Berufen im Bereich des Rechts, der Medien, der Verwaltung und der Wirtschaft müssen Sie argumentative Text verfassen, in denen sie sich kritisch mit einer Gegenmeinung befassen und ihre eigene Position vertreten.
  • Als mündiger Staatsbürger sollten Sie in der Lage sein, fremde Gedanken nachzuvollziehen, kritisch zu bewerten und ihre eigene Auffassung dagegenzuhalten.

Zeitplanung

Je nach verfügbarer Arbeitszeit sollten Sie sich Ihre Aufgaben gut einteilen:

10%

Texterschließung: Beginnen Sie zügig! Machen Sie sich mit dem Text vertraut!

25%

Konzept: Ihr Konzept ist die wichtigste Aufgabe Ihrer Bemühungen. Ohne tragfähiges und gut gegliedertes Konzept ist es schwer, eine gut strukturierte Texterörterung vorzulegen. Arbeiten Sie mit Stichwortsätzen, formulieren Sie Sätze nur ausnahmsweise aus.

5%

Einleitung: Hier beweisen Sie Ihre Professionalität im Umgang mit dem Leser. Gravierende Fehler und stilistische Ungeschicklichkeiten können Sie sich nicht erlauben.

20%

Strukturierte Inhaltsangabe: Hier zeigen Sie, dass Sie priorisieren und abstrahieren können. Konzentrieren Sie sich auf die Hauptgedanken des Texts. Bewahren Sie Distanz zum Text, verwenden Sie das Präsens – gegebenenfalls im Konjunktiv. Zitieren Sie nur, wo es zwingend notwendig ist.

35%

Hauptteil: Erörterung: Nun verfassen Sie das Kernstück des Aufsatzes – differenziert, strukturiert, lesergerecht. Hier prüfen Sie die Aussagen, die Sie in der Inhaltsangabe herausgearbeitet haben.

10%

Schluss: Der Schluss bietet Ihnen die Gelegenheit zu einem ausgewogenen Fazit, das den Text auf seine Stichhaltigkeit prüft.

5%

Korrekturdurchgang: Ein Korrekturdurchgang ist sinnvoll. Strukturell haben Sie den Aufsatz bereits vorgeplant, aber sprachlich und stilistisch werden Sie noch einiges glätten müssen.

Zum Vorgehen bei der Erschließung

Die Texterschließung findet auf dem Arbeitsblatt statt. Im Idealfall bereiten Sie damit Ihr Konzept bereits mustergültig vor.

Teil 1: Kritische Lektüre und Texterschließung

  1. Was genau verlangen die Operatoren? Achten Sie auf folgende Formulierungen: „erörtern Sie!“ oder „Setzen Sie sich kritisch damit auseinander!“
  2. Was verrät der Titel?
  3. Um welchen Themenkreis geht es ganz allgemein?
  4. Lesen sie den Text.
  5. Welche Position vertritt der Verfasser? Was soll der Text erreichen? Geht es um eine Feststellung? Geht es um eine Forderung?
  6. Auch Ihre Meinung ist gefragt: Wie stehen Sie dazu?
  7. Welche Leitfrage gibt der Text vor?
  8. Achten Sie auf die Verfasser! Wer urteilt hier? (In der Klausur geht das nicht, aber sonst – gerne googeln!)
  9. Welche Art von Sachtext liegt vor, welche Textsorte?
  10. Heben Sie das Erscheinungsjahr hervor: Wann ist der Text erschienen?
  11. Was wissen Sie über das jeweilige Medium?

Teil 2: Gliederung zur Vorbereitung einer Inhaltsangabe

  1. Bilden Sie grobe Abschnitte! Markieren Sie! Nummerieren Sie! Abschnitte erkennen Sie beispielsweise dort, wo Textsignale auf ein neues Thema verweisen, wo thematische Brüche erkennbar sind, wo neue Beispiele oder Belege eingeführt werden!
  2. Achten Sie auf die Bildung von Absätzen!
  3. Typographische Signale wie Kapitälchen, Kursiv- und Fettdruck können ebenfalls wichtig sein!
  4. Achten Sie auf die Topik des Texts: Welche typischen Aufgaben erfüllen vor allem Einstieg und Schluss des Texts?
  5. Achten Sie auf strukturierende Textsignale wie „erstens“, „zweiten“, „zum einen“, „zum anderen“! Heben Sie diese hervor! Nummerieren Sie!
  6. Achten Sie auf distanzierende Textmuster wie Ironie und indirekte Rede!
  7. Achten Sie auf Signale der Meinungspreisgabe!

Teil 3: Weitere Ergänzungen

  • Halten Sie fest, wo Sie zustimmen (!). Ergänzen Sie gegebenenfalls eigene Beispiele.
  • Markieren Sie, wo Sie eine gegenteilige Auffassung vertreten!
  • Halten Sie Konsequenzen fest, die sich aus der Position des Verfassers ergeben;
  • Zeigen Sie auf, welche Folgen sich für Sie aus dem Text ergeben.

Teil 3: Konzept

Erstellen Sie nun das Konzept. Im Abitur verwenden Sie dafür üblicherweise eigene (meist grüne) Konzeptbögen, die Sie mit Ihrer Reinschrift einreichen. In den gewöhnlichen Klausuren verwenden Sie ein eigenes Blatt. 

Folgen Sie dem Aufbauschema der Texterörterung: Unterscheiden Sie: a) Einleitung, b) Inhaltswiedergabe, c) Erörterung, d) Schluss.

Einleitung

Oft werden Sie nicht alle Elemente vorstrukturieren, immerhin müssen Sie Ihre Zeit sinnvoll nutzen. In jedem Fall sollten der Einstieg und die Leitfrage skizziert werden. Die folgenden Elemente sollte ihre Einleitung enthalten:

  1. Idee zum Einstieg, Relevanz des Themas: Aktualität, Vielzahl Betroffener, Zukunftsbedeutung etc.
  2. Textsorte: Kommentar, Glosse, Kolumne, Stellungnahme, Rede …
  3. Autor: Rolle und Position, Vorname, Name
  4. Genauer Titel: Zitieren Sie den Titel!
  5. Erscheinungsdatum
  6. Medium, Ressort
  7. Leitfrage: Entscheidungsfrage: ja oder nein?
  8. Position des Autors
  9. Problematisierung dieser Position, z. B. in Frageform

Strukturierte Textwiedergabe

Auch bei der strukturierten Inhaltszusammenfassung können Sie vom Arbeitsblatt ausgehen. Sollten Sie genug Zeit haben, spricht nichts gegen eine Darstellung im Konzept, z. B. als Flussdiagramm oder strukturierte Liste. In jedem Fall benötigen Sie:

  1. die Anzahl der Abschnitte;
  2. Für jeden Abschnitt: a) Funktion des Abschnitts (Was soll erreicht werden?), b) zentrale Aussagen (Thesen), c) Begründungen und d) Belege.

Hauptteil

Schreiben Sie untereinander nummeriert alle strittigen Thesen auf – und das Für und Wider! Eine Tabelle wäre eine übersichtliche Darstellungsform.

  1. Notieren Sie die These mit Textbeleg und Zeilenangabe!
  2. Halten Sie fest, was dafürspricht!
  3. Ergänzen Sie, was dagegenspricht!
  4. Finden Sie jeweils mehrere Begründungen für eine These!
  5. Bilden Sie ein Fazit! Wie lautet ihr Prüfergebnis: Stimmen Sie zu: a) voll? b) nur eingeschränkt? c) gar nicht?

Schluss

  1. Bilden Sie ein Fazit: Können Sie zustimmen?
  2. Können Sie erklären, weswegen diese Position vertreten wird?
  3. Welche Thesen und Forderungen sind sinnvoll und begründbar?
  4. Wo müssen Sie widersprechen?
  5. Halten Sie den Text insgesamt für einen wichtigen Beitrag zur Debatte? Warum? Warum nicht?
  6. Was für Folgen hätte es, wenn der Autor Recht behielte? Welche dieser Folgen wären wünschenswert? Welche nicht?
  7. Was folgern Sie daraus?
  8. Was kann man empfehlen? Wie lautet ihr Appell?

Verfassen des Aufsatzes

Da Sie auf dem Blatt und im Konzept gut vorgearbeitet haben, können Sie sich nun auf die sprachliche Form konzentrieren und letzte argumentative Schwächen beseitigen.

Einleitung

Die Einleitung wirbt um die Aufmerksamkeit der Leserschaft, versucht an Bekanntes anzuknüpfen und ins Thema einzuführen.

  • Die Tragweite der behandelten Frage soll deutlich werden.
  • Ferner müssen im Basissatz alle Angaben zum Text enthalten sein.
  • Außerdem müssen Sie die Leitfrage formulieren und die Position des Autors deutlich machen.
  • Ihre eigene Position ist hier noch nicht gefragt.

Textgebundene Erörterung: Gendergerechte Sprache

Seit Jahren wird um gendergerechte Sprache gestritten, die Fronten scheinen oft verhärtet. Die einen beklagen die sprachliche Diskriminierung der Frau, die anderen beschwören den Ruin der deutschen Sprache herauf. Letzteres treffe zu, glauben die Unterzeichner des Aufrufs „Schluss mit dem Gender-Unfug!“, der am 8.3.2019 in „Der Standard“ veröffentlicht wurde. Vier Sprachexperten sprechen sich darin gegen das Gendern aus: die Schriftstellerin Monika Maron; der Journalist Wolf Schneider; Walter Krämer, Vorsitzender des Vereins Deutsche Sprache; und Josef Kraus, langjähriger Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Wie stichhaltig ist Ihre Argumentation? Können wir wirklich davon ausgehen, das Deutsche nehme Schaden, wenn gegendert wird?

Strukturierte Inhaltsangabe

Die strukturierte Inhaltsangabe schafft die Grundlage dafür, dass Sie und Ihr Publikum sich mit den zentralen Aussagen und Forderungen auseinandersetzen können. Sie müssen:

  • Distanz zum Text gewinnen, indem sie distanzierende Formulierungen und die indirekte Rede verwenden;
  • sich vom Stil und dem Wortlaut der Vorlage zu lösen;
  • den logischen Aufbau des Texts deutlich machen;
  • bewerten, welche Thesen wichtig sind (und diese Auffassung sinnvoll begründen);
  • Wiederholungen sichtbar machen, ohne ganze Argumentationsblöcke erneut wiederzugeben;
  • Strukturen im Text deutlich sichtbar machen (z. B. Antithesen, Aufzählungen);
  • die Abschnitte zusammenfassen;
  • die Funktion der Abschnitte beschreiben;
  • Thesen, Belege und Begründungen unterscheiden und benennen;
  • insbesondere namentlich genannte Autoren oder Beweismittel benennen;
  • geeignete Redemittel anwenden, um das sprachliche Verhalten des Verfassers herauszuarbeiten;
  • Ihre Aussagen sinnvoll am Text belegen.
  • Abschnitte unterscheiden und flüssig überleiten;
  • Übersicht zu gewähren, indem sie einen Überblickssatz über die Zahl der Absätze formulieren.

Folgende Formulierungen können Sie dazu verwenden:

Der Autor des Artikels…

  • argumentiert, dass ...
  • begründet seine Ansicht damit, dass ...
  • behauptet, es sei …
  • belegt seine Behauptung damit, dass ...
  • beurteilt die Situation als …
  • bewertet diese Haltung /Einstellung als…
  • bezieht dazu Stellung, inwieweit...
  • bezieht Position, indem …
  • erklärt, weshalb …
  • erläutert, unter welchen Umständen,
  • erörtert, ob …
  • fordert / stellt die Forderung auf, nun müsse...
  • geht von der Frage aus, ob …
  • gibt zwar zu, das s…
  • kommt zum Schluss, dass ...
  • kritisiert die Auffassung, dass ...
  • schränkt seine Forderung zwar ein, indem …
  • setzt sich damit auseinander, inwiefern …
  • stellt verschiedene Positionen vor und wägt sie gegeneinander ab, indem er ...
  • stützt seine Behauptung / Forderung auf die Tatsache / auf eine Expertenmeinung:...
  • unterstreicht die Schwierigkeit, ...
  • untersucht die Frage, ob…
  • veranschaulicht die Bedeutung des Sachverhalts...
  • vertritt die Ansicht, …
  • weist darauf hin, dass ...
  • wiederholt seine Forderung nach ...
  • zeigt die Trageweite der Entwicklung, indem...

Die vorliegende Stellungnahme lässt sich in sechs Abschnitte gliedern. Der erste Abschnitt (Z. 1-4) weckt Zweifel daran, ob das Gendern tatsächlich „geschlechtergerechte Sprache“ erzeuge. Vier Thesen werden aufgereiht, die in den folgenden Abschnitten konkretisiert werden.

Im zweiten Abschnitt (Z. 5-8) unterstellen die Verfasser den Vertretern des Genderns einen „Generalirrtum“ (Z. 5). Hier werde zwischen dem „natürlichen und dem grammatischen Geschlecht“ nicht hinreichend unterschieden. Das belegt das Autorenkollektiv mit dem Hinweis auf Tierarten, die ohne Berücksichtigung des natürlichen Geschlechts einem grammatischen Geschlecht zugeordnet werden. Auch sei das „Weib“ traditionell ein Neutrum, ohne dass daran jemand Anstoß nehme.

Der dritte Abschnitt (Z. 9-14) greift die „lächerlichen Sprachgebilde“ auf (Z. 9), die angeblich durch das Gendern entstünden. Anhand verschiedener Lebensbereiche verdeutlicht der Text, dass beispielsweise Gerundien wie „die Studierenden“ (Z. 10) überhandnähmen. Auch weibliche Formen im Duden finden keine Gnade, ebensowenig wie „der seltsame Genderstern“ (Z. 14).

Anschließend wendet sich der vierte Abschnitt (Z. 15-22) den zusammengesetzten Wörtern zu. An Beispielen aus verschiedenen Berufen und Lebensfeldern versuchen die Autoren zu zeigen, dass das Gendern „[n]icht durchzuhalten“ sei. So fehle im Duden das „Christinnentum“ (Z. 22).

Am schwersten wiegt jedoch der Vorwurf, den Wolf Schneider und seine Mitstreiter im fünften Abschnitt (Z. 23-29) erhebt: Das Gendern ändere nichts an der Benachteiligung der Frau. Am Aufstieg Angela Merkels und einer weiteren Kanzlerkandidatin, wohl Annalena Baerbock, werde deutlich, dass auch die Verwendung des generischen Maskulinums ihren Aufstieg nicht behindert habe. Als Beleg angeführt wird die dominante Verwendung maskuliner Formeln im Grundgesetz.

Aus dieser Argumentation leiten im letzten Abschnitt (Z. 30-32) die Unterzeichner einen Appell ab, der sich an Personengruppen und Institutionen des öffentlichen Lebens richtet: „Setzt die deutsche Sprache gegen diesen Gender-Unfug wieder durch!“ (Z. 31-32).

Hauptteil

Der Hauptteil bietet Raum für Ihre kritische Auseinandersetzung mit dem Text. Hier müssen sie:

  • die Thesen aus dem Text einführen und belegen;
  • sagen, ob Sie zustimmen, ob sie dem Autor teilweise recht geben, ob die jeweilige These nicht zutrifft;
  • Ihre Auffassung sorgfältig begründen;
  • geeignete Redemittel für Ihre Auseinandersetzung mit dem Text verwenden;
  • hinreichend viele eigene Belege anführen;
  • gegenteilige Auffassungen miteinbeziehen (und gegebenenfalls widerlegen);
  • auf sinnvolle Übergänge achten.

Diese Redemittel können Sie einsetzen:

  • Absichten darlegen: Mit dem Ziel, … , damit … , um...zu … , womit erreicht werden soll, dass ...
  • Ansicht: Meinung, Einstellung, Auffassung, Überzeugung, Standpunkt, Position, Haltung …
  • Bedingungen nennen: Falls … , für den Fall, dass ... , wenn, sofern, andernfalls, unter der Bedingung, dass ..., vorausgesetzt, dass …
  • Begründen: denn, weil, da, deswegen, darum, nämlich, aus diesem Grund
  • Beispiele anführen: Es gibt zum Beispiel … , beispielsweise sind … , dies lässt sich am Beispiel von … zeigen, erinnert sei hier an … , dies zeigt … , dies belegt …
  • Betonen: hervorheben, bekräftigen, unterstreichen, mit besonderem Nachdruck darauf hinweisen, herausstellen, in den Vordergrund stellen, …
  • Einschränken: Obwohl … , obgleich … , trotzdem, … , jedoch … , zwar … , aber … , man muss jedoch einräumen, dass… , allerdings wird ebenso deutlich, dass … , dennoch…
  • Folgen aufzeigen Folglich … , zudem … , demzufolge … , dadurch … , infolgedessen … , daher … , damit … , somit … , auf dieser Grundlage … , daraus folgt … , daraus ergibt sich, dass … , daraus resultiert, dass …
  • Nachteile aufzeigen: Erschwerend kommt hinzu, als durchaus lästig wird...empfunden, unerfreulich ist, dass ... , ein Ärgernis ist jedoch, … , besonders gravierend ist … , besonders fällt ins Gewicht, dass …
  • Vorteile darlegen: Es erscheint sinnvoll, … , es liegt nahe, … , aussichtsreich Ist insbesondere… , es scheint empfehlenswert, …
  • Zeigen: Aufzeigen, zum Ausdruck bringen, darlegen, deutlich machen, erläutern, erfassen, …
  • Zur Argumentation überleiten: Drei Argumente sprechen dafür / dagegen: … , Es gibt eine ganze Reihe von Argumenten, die eine solche Forderung plausibel erscheinen lassen: … , Eine solche Forderung lässt sich gut vertreten: … , Gegen eine solche Forderung könnte man einwenden, dass ...
  • Zustimmen: Ich teile die Meinung des Autors insofern, als … , Man muss akzeptieren, …. Hier hat der Autor durchaus Recht, denn… , Man muss dem Autorin darin beipflichten, dass …
  • Ordnung schaffen: Erstens …, zweites … ; zum einen … , zum andern … ; einerseits … , andererseits …
  • Ergänzen: Außerdem … , ferner … , überdies … , des Weiteren … , im Übrigen … , darüber hinaus …

Kann diese Argumentation einer kritischen Überprüfung standhalten?

Die Autoren behaupten zum einen, die Befürworter des Genderns verwechselten grammatisches und natürliches Geschlecht. Diese hätten nichts miteinander zu tun. Das mag oft stimmen, gerade bei Menschen verschwimmen die Grenzen von Gender und biologischem Geschlecht: Maskulina werden oft auf Männer und Frauen bezogen („Liebe Lehrer“), während Feminina nur Frauen bezeichnen („Lehrerinnen“). Das zeigt sich auch an den Feminina unter den Schimpfwörtern, die zudem oft geschlechtsspezifisch sind: „Schlampe“ ist beispielsweise ein herabsetzender Begriff, der nur auf Frauen angewandt wird, ebenso „dumme Ziege“ und „blöde Gans“. Außerdem übersehen die Kritiker des Genderns, dass es vor allem um die Wirkung der generischen Maskulina geht. Hier deuten zahleiche Studien darauf hin, dass Frauen sich weniger angesprochen fühlen, wenn nur maskuline Formen verwendet werden. Schon deshalb gibt es rechtliche Vorgaben, dass bei Stellenanzeigen alle Geschlechter zu berücksichtigen sind.

Ob man Gerundien, weibliche Formen im Duden und Gendersternchen als „lächerlich“ empfindet (Z. 9), ist durchaus subjektiv. Dass Gerundien keineswegs exotisch sind und seit Jahren etabliert, belegt die häufige Verwendung bestimmter Gerundien wie „Gewerbetreibende“. Was die Feminina im Duden angeht, die außerdem beanstandet werden, so sei darauf hingewiesen, dass auch ein amtlich genutztes Wörterbuch keinen Anspruch darauf erhebt, Sprachstandards vorzugeben. Der Duden bildet ab, was im Gebrauch ist – und das ändert sich. Überdies ist der Duden ein Nachschlagwerk; naturgemäß werden die Benutzer nach Begriffen wie „Luftpiratinnen“ suchen, wenn sie wissen wollen, wie er geschrieben wird. Auch die Ablehnung des Gendersternchens ist ahistorisch, denn „seltsam“ ist der Asterisk nur solange, bis man sich an ihn gewöhnt hat. Auch Komma, Fragezeichen und Ausrufezeichen mussten erst eingeführt werden.

 Die dritte Behauptung, das Gendern lasse sich nicht durchhalten, trifft zu. Niemand kann alle Komposita mit maskulinen Wortteilen ersetzen. Allerdings ist eine flächendeckende Umgestaltung des Deutschen auch gar nicht beabsichtigt. Es geht lediglich darum, in relevanten Bereichen geschlechtsneutral zu formulieren und so Teilhabe für alle zu ermöglichen. Außerdem sollte die Unmöglichkeit, alle Formulierungen anzupassen, nicht dazu führen, dass gar keine Anstrengungen unternommen werden.

Trifft es ferner zu, dass Genderschreibungen nichts an der Benachteiligung von Frauen und Transpersonen ändert? Es sei zugestanden, dass symbolische Gleichstellung auch als Ausrede dienen kann, weiter nichts für Gleichstellung zu tun. Nach wie vor verdienen Frauen weniger als Männer und leisten mehr Familienarbeit, ohne dass Doppelschreibungen diese Ungleichheit beseitigt hätten. Dennoch ist zu bedenken, dass realen Veränderungen oft ein Bewusstseinswandel vorausgeht. Wenn Frauen und Männer sichtbar in öffentlichen Texten erscheinen, lernen Kinder die gemeinsame Nennung als Normalität kennen. Sexistische Abweichungen sind damit deutlich stärker markiert. Der Hinweis, Angela Merkel habe es trotz unvollkommener Genderschreibungen geschafft, Kanzlerin zu werden, führt in die Irre. Sowohl Angela Merkel als auch Annalena Baerbock sind ungeeignete Beispiele dafür, dass man auf das Gendern verzichten könne. Ihr Aufstieg ist aufgrund persönlicher Befähigung und trotz sexistischer Strukturen möglich gewesen; Angela Merkel hatte die Unterstützung männlicher Netzwerke, Annalena Baerbocks Kandidatur ist eine Folge grüner Parteidisziplin. Was in der Bundespolitik möglich ist, lässt sich zudem nicht auf alle Bereiche des öffentlichen Lebens übertragen. Hier kann geschlechtergerechte Sprache durchaus dazu beitragen, dass männliche Domänen zuerst sprachlich aufgebrochen werden und dann in der Realität.

Muss man also „die deutsche Sprache“ tatsächlich „durchsetzen“ (Z. 31)? Dieser Appell ist problematisch. Denn zum einen gibt es keine feststehende Sprachnorm, an der man sich orientieren müsste; zum anderen werden Sprachnormen nicht von „Politikern“ oder „Gewerkschaften“ durchgesetzt, sie spiegeln die gerade übliche Sprachverwendung und unterliegen ständigem Wandel. Sprache passt den sich ändernden Realitäten an und gestaltet sie mit. Eine Rücknahme inklusiver Schreibweisen privilegiert das ältere Publikum, während die Jüngeren den „Gender-Unfug“ (Z. 32) längst akzeptiert haben.

Der Schlussteil

Im Schlussteil geht es vor allem um eine kritische Bestandsaufnahme der Argumentation. Begründen Sie, zu welchem Ergebnis Sie insgesamt gekommen sind. Dazu müssen Sie:

  • deutlich machen, dass Sie nun am Ende Ihrer Überlegungen angekommen sind;
  • die zentrale These noch einmal nennen;
  • Zugeständnisse machen;
  • Kritik formulieren;
  • begründet Position beziehen.
  • Durch einen Ausblick zeigen, wohin die Position des Autors führen würde;
  • darlegen, was sie davon halten;
  • einen Kompromiss vorschlagen.
  • Handlungsvorgaben entwickeln.

Diese Redemittel können Sie dazu einsetzen:

  • Abschließend kann festgehalten werden, dass ...
  • Auf der Grundlage dieser Untersuchung bestätigt sich, dass ...
  • Die Untersuchung hat außerdem gezeigt, dass ...
  • Es trifft zwar zu, dass…
  • Der Verfasser hat zwar nicht ganz Unrecht, wenn er… . Aber …
  • Man kann nicht völlig abstreiten, dass…
  • Kaum jemand wird leugnen, dass …
  • Einerseits ist kaum abzustreiten, dass …
  • Man kann jedoch zu Recht einwenden, dass …
  • Nach meiner Ansicht / Auffassung ist …
  • Setzt man die Forderungen des Verfassers um, …
  • Hat der Verfasser mit seinen Aussagen recht, dann…
  • Ein Kompromiss liegt nahe: … / drängt sich auf: …
  • Was ist zu tun? Drei Handlungsmöglichkeiten ergeben sich nun: …

Man darf insgesamt mit Recht fragen: Ist das Gendern tatsächlich so schädlich für unsere Sprache? Bedarf es eines Zurücknehmens gendergerechter Schreibweisen? Es ist schon richtig, dass viele Ansätze geschlechtsunspezifischen Scheibens nach wie vor nicht akzeptiert sind. Sie wirken auf viele oft umständlich und ungewohnt. Andererseits: Grundsätzlich sollte der Grundsatz der Gleichberechtigung auch für symbolische Gleichberechtigung gelten. Genderschreibweisen tragen dazu bei, uns in unserem Alltag daran zu erinnern, dass wir unsere Sprache auf alle Personen ausrichten sollten. Hätten die Genderkritiker Erfolg, müssten zahleiche Rechtsnormen geändert werden. Die neuen Regelungen müssten vermittelt und akzeptiert werden. Das ist nicht zu erwarten. Denn Frauen und transidente Personen erwarten Teilhabe – ganz zurecht. Das Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes gilt auch für die Sprache. Allerdings sollten stilistische Bedenken ernstgenommen werden; oft gibt es geschlechtsneutrale Formulierungen, die keinen Anstoß erregen. Aus meiner Sicht muss stärker für inklusive Sprache geworben werden; zudem müssen endlich rechtssichere Vorgaben für Ämter und Schulen gelten. Vor allem bedarf es einer sprachwissenschaftlichen Aufarbeitung des Themas.

 

Musterbeispiel einer Texterörterung

Dieses Beispiel einer Texterörterung bezieht sich auf einen Beitrag von Matthias Warkus in seiner Kolumne „Warkus’ Welt“, die im populären Wissenschaftsmagazin „Spektrum der Wissenschaft“ erscheint: https://www.spektrum.de/kolumne/beeinflusst-die-sprache-unser-denken/1699686. Es handelt sich zwar um einen Meinungstext, jedoch behandelt Warkus nicht gesellschaftliche Phänomene, sondern ein wissenschaftliches Problem aus der Linguistik.

Überschrift und Einleitung

Textgebundene Erörterung zu Matthias Warkus’ „Das enge Band zwischen Sprache und Denken“

Es ist ein großer Unterschied, ob ich „Flüchtling“ oder „Geflüchteter“ sage – denn Begriffe sind für unsere Sicht der Welt von besonderer Bedeutung: Sie beeinflusst unsere Einstellungen und Gefühle. Die Sapir-Whorf-Hypothese geht über diese Beobachtung hinaus. Der amerikanische Sprachforscher ging davon aus, dass unsere Muttersprache unser Denken bestimmt. In seiner Kolumne „Das enge Band zwischen Sprache und Denken“, erschienen am 18.01.2020 in „Bild der Wissenschaft“, setzt sich der Philosoph und Publizist Matthias Warkus kritisch mit Whorfs These auseinander. Wenn er Whorfs Ansatz auch nicht grundsätzlich verwirft, führt er doch einige Einwände gegen die immer noch populäre Lehrmeinung an. Inwieweit sind Warkus’ Einwände gegen Whorf berechtigt?

 Strukturierte Inhaltsangabe

Warkus‘ Kolumne lässt sich in fünf Abschnitte gliedern.

Im ersten Abschnitt (Z. 1-6) verweist Warkus zunächst auf die verbreitete Ansicht in den Inuitssprachen gebe es hundert verschiedene Begriffe für Schnee; das sei eine „Unsinnsbehauptung“ (Z. 5). Er hebt hervor, dass sogar das Online-Lexikon Wikipedia sich mit dieser These bereits befasse.

Im zweiten Abschnitt (Z. 7-13) arbeitet er den Grundgedanken der Sapir-Whorf-Hypothese heraus: Das Denken hänge von der Sprache ab, in der man aufwachse. Zwei Dimensionen unterscheidet Warkus: Erstens nähmen wir die Welt deshalb unterschiedlich wahr, zweitens dächten wir anders darüber.

Anschließend (Z. 14-22) referiert er zwei oft zitierte Belege für diese Auffassung. Beispielsweise gebe es im Italienischen zwei Farbbegriffe für „blau“, während das Deutsche lediglich über die Grundfarbe Blau verfüge. Das zweite Beispiel, das er für irreführend hält, ist Whorfs Überzeugung, im Hopi gebe es keine Zeitbegriffe.

Obgleich er Whorfs Hypothese grundsätzlich ablehnt, überprüft er sie im dritten Abschnitt (Z. 23-33) seiner Kolumne durch ein Gedankenexperiment. Wenn unser Weltverständnis tatsächlich eng an unsere Muttersprache gebunden wäre, könnten wir uns Sprechern anderer Sprachen nicht mitteilen. Daraus würde resultieren, dass in bestimmten Sprachen „schlechtere Philosophie gemacht“ werde (Z. 29). Er verweist in diesem Zusammenhang auf Samuel R. Dilanys Roman „Babel-17“: Darin erwerben Sprecher der fiktiven Sprache Babel 17 nur aufgrund ihrer Sprache übermenschliche Fähigkeiten.

Im letzten Abschnitt (Z. 34-45) geht er auf zwei Versionen der Sapir-Whorf-Hypothese ein: Auf eine „harte“ und eine „weichere“. Die harte werde in der Forschung seit etwa 1970 nicht mehr verfolgt, weil man sich einig sei, dass es in allen Sprachen „gemeinsame Grundstrukturen“ gebe. Durchaus noch beliebt sei dagegen die „weichere“ Fassung, dass die Sprache unser Denken beeinflusse. Er belegt dies mit dem Verweis auf die „Eurokrise“ ab 2010. Es sei darüber nachgedacht worden, ob die Verwandtschaft der Begriffe „Schuld“ und „Schulden“ die Abneigung der Deutschen gegen das Geldausgeben erklärt.

Es ist offenkundig, dass Warkus der Sapir-Whorf-Hypothese zumindest skeptisch gegenübersteht. Ist seine Skepsis berechtigt?

Hauptteil der Texterörterung

Zunächst ist also zu prüfen, inwiefern unsere Muttersprache die Wahrnehmung beeinflusst oder sogar bestimmt. Das trifft insofern zu, als das Begriffsraster unserer Erstsprache unsere Aufmerksamkeit lenkt. Wenn wir Dinge begrifflich unterscheiden können, dann ist es wahrscheinlich, dass wir diese Unterschiede auch bemerken. Beispielsweise wird ein Same, der zahlreiche verschiedene Begriffe für Rentiere kennt, die teils verschwindenden Unterschiede eher wahrnehmen – viel eher jedenfalls als ein finnischer Großstädter. Andererseits beruht unsere Wahrnehmung auf unserer anatomischen Ausstattung und auf den Gesetzen der Physik, die unabhängig von sprachlichen Kategorien eine für uns verlässliche Wirklichkeit erzeugen. Wäre es so, dass unsere Muttersprache eine gänzlich andere Wahrnehmung erzeugte, hätte dies unweigerlich Auswirkungen auf unsere Überlebensfähigkeit. Außerhalb unseres gewohnten Umfelds wären wir sicher gegenüber den Bewohnern benachteiligt. Zudem ist nicht gesagt, dass ein Sprecher nicht sieht, was er nicht benennt. Dafür spricht, dass selbst dann, wenn wir für verschiedene Grüntöne weniger Wortstämme verwenden als etwa ein indigener Bewohner des Amazonasgebiets, unsere Sprache diese Nuancen durch Wortzusammensetzungen wie „lindgrün“ oder „smaragdgrün“ auszudrücken vermag. Die Annahme, dass unsere Sprache unsere Wahrnehmung beeinflusst, ist sicher nicht falsch; davon zu sprechen, dass sie unsere Wahrnehmungen bestimmt, ist angesichts dessen kaum haltbar.

Ähnliches gilt für Whorfs eigentliche Kernthese: Wir denken anders, wenn wir andere Sprachen sprechen. Dazu müsste zunächst geklärt werden, was wir uns unter „Denken“ vorstellen können. Wenn wir denken, bedienen wir uns eines Begriffsapparats, der uns bestimmte Kategorien an die Hand gibt; ferner kombinieren wir unsere Eindrücke nach logischen Regeln. Je nachdem, über welche Differenzierungsmöglichkeiten wir verfügen, teilen wir die uns umgebende Welt auf sortieren die Gegenstände unserer Wahrnehmungen. Im Deutschen hat die Existenz dreier Genera zur Folge, dass wir uns viele Objekte als weiblich vorstellen, die es biologisch betrachtet nicht sind. Ein bekanntes Beispiel sind die Gestirne – Untersuchungen zeigen, dass sich Deutsche den Mond eher männlich vorstellen und die Sonne eher weiblich, während es in den romanischen Sprachen genau anders herum ist. Im Gegensatz dazu müssen wir jedoch anerkennen, dass es zum einen Zeichensysteme gibt, die ohne sprachliche Codierung international verständlich ist. Die formal-logischen Denkoperationen in der Mathematik kann ich unabhängig von meiner Muttersprache erlernen und anwenden. Außerdem sind wir durchaus in der Lage, aus dem Vergleich unserer Sprachen zu lernen und nachzuvollziehen, dass andere Sprachen von anderen Voraussetzungen ausgehen. Sprecher vieler europäischer Sprachen neigen beispielsweise dazu, Objekte als „links“ oder „rechts“ zu verorten, immer vom Standpunkt des Sprechers betrachtet. Das hindert uns nicht daran, ein System zu verstehen, das wie in indigenen Sprachen Australiens die Objekte in ihrer Beziehung zu den Himmelsrichtungen einordnet. Dies spricht ebenso gegen Whorfs These wie die Ergebnisse der Forschung im Bereich der universellen Grammatik.

Damit ist, drittens, auch die Ableitung von Whorfs These hinfällig, dass Verständigung zwischen Sprechern unterschiedlicher Sprachen nicht möglich sei. Dies hebt auch Warkus hervor. Zugunsten der These, zwischensprachliche Kommunikation sei unmöglich, kann man das Problem des Übersetzens anführen. Nun ist es in der Tat so, dass sich übersetzte Gedichte nicht identisch in der Zielsprache widerspiegeln. Wir verbinden mit unterschiedlichen Begriffen bestimmte Konzepte, die kennzeichnend für die Kultur der jeweiligen Sprechergemeinschaft sind. Wir assoziieren Wörter also mit bestimmten Vorstellungen, Gefühlen, Werten und Einstellungen. Es ist schwierig, einem Deutschen zu erklären, was das dänische „hygge“ genau bedeutet – ein Däne verbindet dafür mit dem Begriff „gemütlich“ ganz andere Vorstellungen als sein deutscher Gesprächspartner. Wie soll echte Verständigung hier gelingen? Allerdings hat Warkus völlig echt, wenn er diese Erweiterung des Whorfschen Ansatzes als absurd zurückweist. Denn zum einen lernen wir beim Fremdspracherwerb die semantische Vielschichtigkeit eines Worts kennen. Beim Englischlernen lernen wir nicht nur das Wort „apple pie“, wir lernen auch dessen Gebrauchszusammenhang und dessen kulturspezifische Bedeutungen. Der zweite Grund, weswegen Whorfs Vermutung nicht zutrifft, ist ebenfalls vom Übersetzen abzuleiten. Nicht nur Muttersprachler unterschiedlicher Sprachen, auch Individuen derselben Sprachgemeinschaft tun sich schwer damit, einander zu verstehen. Jedes Individuum lädt ein Wort mit anderen Erfahrungen auf, gibt ihm einen spezifischen Sinn. Auch hier hat Warkus mit seiner Kritik an Whorf also nicht Unrecht. Was nicht ganz einleuchtet, ist Warkus’ Einwurf, die jeweils beim Philosophieren verwendete Sprache müsste, wenn dem so wäre, Qualitätseinbußen aufweisen.

Ein letzter Bereich, den Warkus anspricht, ist das politische Framing. Der Grundgedanke bei der Anwendung der Sapir-Whorf-Hypothese ist auch im Bereich medialer Manipulation anwendbar. Ob Framing funktioniert, hängt von der Eigenart der Sprache ab, von semantischen Verbindungen zwischen Wörtern und von den im Wortschatz verwirklichten Kategorien. Man könnte annehmen, dass unsere politischen Entscheidungen von den Frames beeinflusst wird, die auf uns einwirken. Warkus‘ Beispiel, das auf die Verwandtschaft der Begriffe „Schuld“ und „Schulden“ einwirkt, ist jedoch fragwürdig. Es unterstellt, die deutsche Zurückhaltung beim Geldausgeben sei eine direkte Folge des Framing. Einiges spricht dagegen: Der Macht des Framing sind enge Grenzen gesetzt. Denn Politik kann die Wirklichkeit nicht unbegrenzt verbiegen, zumal die Macht der Begriffe auch mit der Kraft der Bilder konkurriert. Außerdem dürfen gerade im Beispiel des Schuldenmachens die gesamte Vorgeschichte des Landes, seine ökonomische Realität und die strategischen Überlegungen der Akteure nicht außer Acht gelassen werden. Warkus scheint diese Bedenken zu teilen, denn er deutet an, dass man diese Thesen als spekulativ deuten könne (Z. 42). Auch hier ist Whorfs bekannte Hypothese nur eine von vielen Erklärungsansätzen – man wird ihr nur eingeschränkt zustimmen. Ja, es trifft zu: Framing funktioniert vor allem innerhalb der Sprachgemeinschaft, dieselben Sprachbilder wirken aber auch in anderen Sprachen.

Insofern ist fraglich, ob unsere Muttersprache uns tatsächlich so sehr prägt, dass unsere Weltsicht unveränderlich ist. Darauf nimmt Warkus Bezug, wenn er andeutet, dass sich durch das Erlernen einer neuen Sprache „das Denken geändert“ werden könne (Z. 31). Zwei Möglichkeiten sind denkbar: Entweder liefert unsere Muttersprache den unabänderlichen Rahmen unseres Denkens oder unser Denken ist weitgehend unabhängig von Einzelsprachen. Letzteres ist der Fall. Denn erstens sind wir in der Lage, in Fremdsprachen zu träumen, wodurch man eine eine bewusste Steuerung durch das Bewusstsein ausschließen kann; zweitens kann die Zweitsprache die Muttersprache verdrängen und dermaßen überlagern, dass ein begriffliches Denken in der Erstsprache nicht mehr möglich ist. Offenbar sind wir in der Lage, mit unserem angeborenen Sprachvermögen sämtliche Sprachen kompetent zu sprechen und sämtliche Denkoperationen zu vollziehen. Wer als Muttersprachler des Deutschen Französisch lernt, kann beispielsweise die Siebzig (soixante dix) problemlos als Kombination von sechzig und zehn begreifen, ohne dass er sich jede Siebzigereinheit im Alltag so gruppieren müsste.

Schlussteil

Insgesamt hat Warkus durchaus Recht mit seiner Kritik an Whorf. Zumindest die „harte“ Variante der Sapir-Whorf-Hypothese findet nur noch wenige Anhänger. Auch die „weichere“ Variante des Gedankens, die Sprache forme unsere Weltsicht, kann nur noch bedingt überzeugen. Dass Sprache ein wirksames Mittel der Beeinflussung, insbesondere unsere Muttersprache – es ist nicht von der Hand zu weisen. Auch Warkus gesteht ein, dass es nicht völlig undenkbar ist, dass unsere Lexik und unsere Sicht der Dinge beeinflussen. Das ist allerdings weit weg vom Kern der Sapir-Whorf-Hypothese. Wenn Warkus inhaltlich auch Recht hat, er bleibt Erläuterungen zu seinem Urteil schuldig. Insbesondere seine Aussagen zur Sprache der Hopi ist kaum zu verifizieren, und im Hinblick auf andere Belege wünscht man sich mehr argumentative Details – auch und erst recht in einer wissenschaftlichen Kolumne. Letztlich stellt sich die Frage, welchen Nutzen die Sapir-Whorf-Hypothese gebracht hat. Nimmt man an, sie träfe vollkommen zu, dann wären wir keine freien Individuen – wir wären in der Tat Gefangene unserer Sprache, unfähig, die Welt anders zu sehen als nach der Maßgabe unserer Muttersprache. Dass dem nicht so ist, ist der beste Gegenbeweis: Wir können uns als mehrsprachige Menschen aus der Perspektive unserer Muttersprache lösen, Unterschiede reflektieren und eigenständige Entscheidungen zu fällen. Gerade das Wissen um Whorfs Hypothese ermöglicht es uns, ihre Grenzen zu sehen. Daraus ergeben sich für das Sprachenlernen interessante Perspektiven: Wir werden flexibler in der Anwendung sprachlicher Kategorien und können erleben die Welt bewusster als vielseitig. Insofern ist es kein Fehler, sich mit der Sapir-Whorf-Hypothese zu befassen. Sie macht uns deutlich, welche Macht die Sprache hat und welche Verständnishürden wir beim interkulturellen Kontakt überwinden müssen.