Probleme der Ortsgeschichte

Ortsgeschichte! Zeitzeugen öffnen ihr bewegtes Leben, versiegte Quellen sprudeln, stumme Monumente lernen das Sprechen. Kurz und gut: Ortsgeschichte ist ein Vergnügen, ist bildend und heilsam. Man darf jedoch nicht verschweigen, dass ortsgeschichtlich Suchende oft auf Mauern stoßen und auf Gräben. Geschichte ist selten so vergangen, dass sich nicht jemanden findet, der gerne daran mitgeschrieben hätte – im eigenen Interesse. Das erschwert ortsgeschichtliche Forschung, die ausgewogen sein soll und ehrlich, überparteilich und objektiv. Ihr drohen verschiedene Gefahren – sie zu kennen, schützt vor Manipulation.

Ortsgeschichte wird oft von weißen Männern erzählt, von wohlhabenden zumal. Ihre Texte übersehen Frauen, ignorieren die Armen, schauen an Einwanderern vorbei. Das liegt auch an der Quellenauswahl. Stützt man sich überwiegend auf Gemeinderatsprotokolle, dann wird man höchstens finden, was Männer über Frauen sagen, Frauen kommen nicht zu Wort. Pflegschaftsurkunden verraten viel über das Selbstverständnis der Begüterten, wenig über die Selbstsicht von Armen.

Ortsgeschichte ist voller falscher Rücksichten auf Familiendynastien. Das Fehlverhalten der eigenen Ahnen wird oft verschwiegen, und allzu neugierige Ortshistoriker fürchten bald die erbitterte, aber oft substanzlose Gegenrede der Nachkommen. Das betrifft vor allem ortsansässige Unternehmer und Funktionäre, deren Familiensaga die moralische Makellosigkeit des Spitzenahns immer wieder betonen muss.

Gerade große Unternehmen haben in kleinen Ortschaften ein gewisses Drohpotenzial mit ihren Gewerbesteuern und der hohen Beschäftigtenszahl. Oft müssen Anwälte und History Manager gar nicht tätig werden – äußerst wirksam ist die Schere im Kopf. Bestimmte Themen sind in besonderem Maß betroffen: Eines davon ist Zwangsarbeit. Auch dann, wenn keine Forderungen an das Unternehmen gestellt werden können, wehren Unternehmen kritische Recherchen oft vehement ab. Man fürchtet eine Schädigung der Marke.

Ein ähnliches Verhalten zeigen Vereine. Auch hier ist man bestrebt, Geschichte zu bereinigen und Vereinsgeschichte als Innovationsgeschichte zu erzählen. Man müht sich, wichtige Vereinsväter und Vereinsmütter vor Diffamierung zu schützen. Dabei zeigt sich eine schwach ausgeprägte Grauzonentoleranz und ein munteres Weißwaschen der eigenen Vereinshistorie.

Besonders emsig im Vertuschen sind auch Glaubensgemeinschaften. Nicht die einfachen Gläubigen sind es, die auf ihre Kirche nichts kommen lassen - es sind Mandatsträger, die sich der zersetzenden, aber auch befreienden Diskussion entziehen. Wer uns moralisch erzieht, muss selbst unfehlbar sein: Ein solcher Anspruch ist nicht nur unmenschlich, er verhindert auch kritisches Nachdenken über die eigene Geschichte.

Ortsgeschichte wird oft von den bürgerlichen Parteien dominiert – sie haben in Württemberg die besten Verbindungen in die Verwaltung, sie können in der Regel auf die Unterstützung des örtlichen Mittelstands zählen. Insbesondere konservative Parteimitglieder findet man häufig in ortshistorischen Vereinen. Daraus ergibt sich eine Verzerrung nach Parteipräferenz: Kommunisten kommen schlecht weg, Bankiers und Kaufleute dafür viel zu gut.

Damit geht das verständliche Bedürfnis einher, sich die Geschichte schönzufärben als gute alte Zeit der Postkutschen und Dampfrösser. Insbesondere Konservative neigen dazu, die sozialen Abgründe der Vergangenheit zuzuschütten.

Ortsgeschichte leidet insgesamt unter Schweigekartellen und einem chronischen Mangel an Zeitzeugen. Nicht selten kommen Nestbeschmutzer kaum gegen die Wand des Schweigens an. Wenn es um Missbrauch, Euthanasie oder Zwangsarbeit geht, werden die Zeitzeugen rar und die Nachkommen äußerst schmallippig.

Ein weiteres Problem sind professionelle Vielschreiber, die wenig Ortspezifisches beizutragen haben, dafür aber seitenlang historischen Kontext. Sehr gerne holen sich Verwaltungen Akademiker, die in Serienfertigung für dankbare Honoratioren blasse Vorwörter schreiben, in denen sie längst Bekanntes ausbreiten.

Ortsgeschichte wird außerdem oft von Fachleuten aus dem Blickwinkel ihres jeweiligen Hobbys betrieben oder unter dem Aspekt ihrer Profession; ihren Texten gebricht es oft an Kontext. So entstehen Artikel über die Geschichte des Heizungsbaus in X oder der Pferdezucht in Y, während umfassende Texte zur Ortsgeschichte fehlen.

Nicht selten ist Ortsgeschichte zudem ein Steckenpferd von Genealogen, von denen man schöne Stammbäume erwarten kann, am liebsten der eigenen Ahnen. Aber - Interesse an Strukturen? Kaum! Familienforscher beschäftigen Archive, ohne dass die Allgemeinheit viel davon hätte.

Ein schwerwiegendes Problem sind Nutzungsgebühren, die den interessierten Laien abschrecken und auch dem Fachmann eine genaue Bedarfsprüfung abverlangen; gerade Privatarchive, die sich selbst tragen müssen, verlangen zum Teil horrende Stundensätze für die Nutzung des Bestands. Das führt lediglich dazu, dass Externe ausgesperrt werden und das Material Internen vorbehalten bleibt, die damit nach Gutdünken verfahren. Auch bei öffentlichen Einrichtungen siegt nicht selten das Wirtschaftlichkeitsprinzip über den Auftrag des Bildens und Bewahrens. Das liegt auch an Freischaffenden, die das Archivmaterial monetarisieren und kommerziell ausbeuten.

Gebühren sind nicht das einzige Problem kommunaler Archive. Das größte Problem ist die Wurstigkeit der Verwaltung. Wer das Erbe nicht sichert, wer Archive nur pflichtgemäß als Aktendepot betreibt, der riskiert eine ortsgeschichtliche Demenz ungeahnten Ausmaßes. Kommunen stehen moralisch und ökonomisch in der Pflicht, sich der historischen Identität ihres Ortes anzunehmen. Archive gehören gut besetzt, gut ausgestattet und gut finanziert. Sie sollten in der Lage sein, echte Bildungsarbeit zu betreiben.

Viele Gefahren also drohen den Historiographen kleiner Städte. Ihnen hilft die Zeit: die Klarheit siegt zuletzt, parteiisches Begehren verblasst. Auch Transparenz kann helfen: Wenn der Griff nach Clios Griffel allzu offenkundig ist, kann die Empörung der Öffentlichkeit die Unbefangenen unterstützen. Und noch eines hilft den ortsgeschichtlich Interessierten – die Digitalisierung. Wenn Dokumente jedem zur Verfügung stehen, lässt sich Geschichte nicht mehr umschreiben. Die stärkste Helferin der Ortsgeschichte ist jedoch eine diverse, eine aufmerksame und interessierte Öffentlichkeit, die Partikularinteressen zurückweist. Es gibt also Hoffnung!