66 Gründe, warum man Literatur und Theater belegen sollte

Vorbemerkung

Es gibt viele schlechte und viele gute Gründe, ein Fach wie "Literatur und Theater". Es ist legitim, Theaterkurse zu belegen, weil man sich davon bessere Noten erhofft, angenehm erspielt in guter Gesellschaft. Es ist nicht falsch, sich auf der Bühne einen Ausgleich zu schaffen, zu Mathe, zu Deutsch, zu Englisch, vielleicht in der Hoffnung, Gleichgesinnte zu finden. Aber Theater kann mehr. Wer Theater macht, hat die einmalige Möglichkeit, sich und andere zu verändern.

Wer Theater macht,

  1. wird Teil der Szene: wer sich mit Theater auseinandersetzt, erwirbt Einsichten, die ihn beim Theaterbesuch in die Lage versetzen, kundig darüber zu sprechen – er lernt magische Bräuche und andere ungeschriebene Gesetze des Theaterlebens kennen;
  2. weiß, wie Welt der Bretter beschaffen ist, die die Welt bedeuten: Schauspiel heißt, sich mit der Wirklichkeit des Theaterbetriebs auseinanderzusetzen; er lernt Theater und Set als Arbeitsplatz kennen, wo unterschiedliche Berufsgruppen aufeinandertreffen; er kennt die Bauten, kennt die Räume, vom Schnürboden bis zum Orchestergraben;
  3. dringt in neue Kulturen vor: Kathak, Nô, Jīngjù – Theater spiegelt die Kultur, aus der es entstanden ist; wenn wir uns fremde Spielkulturen erarbeiten, gewinnen wir Einblicke in kulturelle Muster; unnötig zu sagen, andere Epochen und Geschlechterrollen stehen plötzlich offen;
  4. kann lügen wie gedruckt: In vielen Lebenslagen muss man lügen, mogeln, mystifizieren: Gefühle vortäuschen, die man nicht hat, um andere nicht zu verletzen; sich verstellen, um sich Vorteile zu verschaffen – auch das lernt man auf der Bühne;
  5. spielt besser Poker: auch Impulskontrolle lernt man im Theater: sich nichts anmerken lassen;
  6. durchschaut die Lügen der anderen: Lügen ist anstrengend – die Wahrheit bricht durch, im Ton unserer Stimme, im Ausdruck unseres Gesichts, in unserer Körpersprache: Wer im Theater lernt, auf Echtheit im Ausdruck zu achten, bemerkt leichter, wenn gelogen wird;
  7. ist ein besserer Verkäufer: Wortgewandtheit und Überzeugungskraft lernt man auf der Bühne – das hilft jedem, der sich bewirbt, der um etwas wirbt, der für etwas wirbt;
  8. spielt auch im Leben auf Anschluss: Wer in einem Ensemble auf das Spiel der anderen achten lernt, ihre Zeichen deutet und selbst lernt, Signale zu senden, der hat es auch im Alltagsleben leichter, Anschluss zu finden;
  9. findet und verliert sich: Wer vortäuscht, ein anderer zu sein, wird auf die Frage zurückgeworfen: Wer bin ich? Damit ist Theaterspielen ein Weg zur Selbstfindung. Allerdings kann man sich auch verlieren – sich lösen von starren Gewohnheiten und Denkmustern;
  10. erlebt eine Katharsis: Theaterspiel kann dazu führen, dass man sich mit angestauten und verdrängten Emotionen befasst, Unbewältigtes auslebt – ein Vorgang, der gesund ist für die Psyche;
  11. kann tanzen, obwohl er nicht tanzen kann: Tanz ist ein wichtiges Ausdrucksmittel auf der Bühne – oft sind es Hemmungen und Mangel an Erfahrung, die uns glauben lassen, wir könnten nicht tanzen. Auf der Bühne baut man solche Hemmungen erwirbt solche Erfahrungen;
  12. singt, obwohl er nicht singen kann: Auch beim Singen gilt: Übung und Mut sind wichtig, sich lösen von seiner Alltagsstimme;
  13. redet nicht nur – sondern spricht: Beim Sprechen auf der Bühne konzentrieren wir uns darauf, Wesentliches zu sagen – wir schlagen nicht nur Zeit tot, sondern wissen, dass es (wenn auch nur in der Welt des Stücks) auf unser Wort ankommt;
  14. spricht mit dem Körper (und antwortet): Wer den Körper als Ausdrucksmittel verwendet, muss ihn genau beobachten, seine Signale aufgreifen – das kann helfen, auch körperlich gesund zu bleiben:
  15. erweckt Tote zum Leben: Ist es nicht fantastisch? Auf der Bühne sprechen längst verstorbene Autoren durch dich – das Medium! – zum Publikum;
  16. hat seine Auftritte (aber nicht irgendwie): Auftritte sind auch im Leben von entscheidender Bedeutung: Wie komme ich an? Wer sich mit den verschiedenen Wegen auf die Bühne befasst, wird sensibler für seinen Auftritt;
  17. versteht sich auf Nähe und Ferne: Proxemik ist ein Ausdrucksmittel – Theaterspielen schult das Bewusstsein für Nähe und Distanz und ihre soziale Bedeutung;
  18. findet seine innere Stimme: Unserer eigenen Stimme ist unverwechselbar wie unser Fingerabdruck und die DNA. Die Auseinandersetzung mit diesem fundamentalen Ausdrucksmittel kann uns herausfordern – weswegen wir im Alltag oft auf diese Mühe verzichten. Es ist aber wichtig, seine Stimme zu kennen, sie zu entwickeln und zu schulen;
  19. ist ein Bauchredner: Im Theater lernt man entspanntes und kräftiges Sprechen mit der Bauchstimme, das uns ermöglicht, länger und lauter zu sprechen, ohne Heiserkeit zu riskieren;
  20. macht sich zum Affen (oder zum Eierkarton oder – egal was): Wenn wir spielen, können wir alles sein! Außerhalb der Bühne werden wir oft von anderen darauf festgelegt, wer oder was wir sind. Im Theater lernen wir, uns von solchen Zuschreibungen zu befreien, indem wir lernen, Sanktionen hinzunehmen – auch dann, wenn wir uns sprichwörtlich zum Affen machen;
  21. füllt Räume: Auf der Bühne lernen wir, alle Blicke der Umgebung auf uns zu vereinigen – was im Alltag äußerst nützlich sein kann;
  22. schafft Räume aus Träumen: Das Großartige am Schauspiel ist, dass wir oft nicht nur uns selbst verwandeln, sondern auch die Räume um uns; gleichzeitig lernen wir, in Texten verborgene Raumkonzepte mit ihren Öffnungen und Wegen in die Tat umzusetzen;
  23. kann leise donnern oder laut wispern: Varianten des Sprechens gezielt einsetzen zu können – das erhöht unsere kommunikativen Möglichkeiten. Auch hier hilft das Theater weiter;
  24. spricht Blankverse wie Plauderei: Dass wir Verse herunterleiern, hat oft zwei Gründe: Angst davor, dass Lyrik peinlich ist, und den Zwang, dem Metrum zu folgen – von beidem befreit das Theaterspiel;
  25. gibt Wörtern Würde: In Alltagssituationen sprechen wir oft Wichtiges aus, als ob es belanglos wäre – im Theater lernen wir, Wichtiges (und auch Unwichtiges) wichtig wirken zu lassen;
  26. kann die Zeit anhalten – oder dehnen – oder raffen – oder zurückdrehen: Die Darstellung von verrinnender, verfliegender oder sich hinschleppender Zeit beeinflusst unser Bewusstsein davon, wie rasch oder wie langsam die Zeit vergeht – und auch das Bewusstsein unserer Zuschauer;
  27. kann auf zehn verschiedene Arten schweigen: Schweigen ist Gold – und Gold kann man in bare Münze verwandeln. Im Theater lernt man, während des Nicht-Redens etwas zu sagen und im richtigen Augenblick die Klappe zu halten;
  28. verkleidet sich am Ende noch als sich selbst: Die Voraussetzung für Selbstreflexion ist Selbstdistanz: Wir kennen uns selbst am besten und haben doch einen blinden Fleck. Die Arbeit mit Spiegeln, Videoaufnahmen und dem geschulten Blick der anderen hilft uns, diese Blindheit für unsere Eigenheiten zu überwinden;
  29. demaskiert und maskiert sich: Das Spiel mit Masken will gelernt sein; ebenso wichtig kann es sein, andere zu demaskieren, indem man auf der Bühne ihre Hintergründe ausleuchtet, ihre Täuschungstechniken offenbart;
  30. bricht mit Brecht und sticht mit Stanislawski: Die Auseinandersetzung mit den großen Theoretikern der Bühne hilft uns, kundiger ins Theater zu gehen und wirkungsvoller zu inszenieren;
  31. kann mit einem Hühnerknochen Duelle fechten: Die Arbeit mit Requisiten ist komplex – oft übersehen wir im Alltag das Potential eines Dings, weil wir es auf seine offensichtliche Funktion beschränken. Theaterspiel macht uns frei, Dinge kreativ umzudeuten – und vielleicht dabei neue Funktionen zu entdecken;
  32. ist ein König in Bauernkluft oder ein Bauer im Ornat: Kleidung hält nicht nur warm, sie hält uns auch reich oder arm – in einer entwickelten Gesellschaft, in der Mode Kommunikation ist, hilft es, im Theater durch Kostüm und Kostümierung ein Gespür für dieses Zeichensystem zu erwerben;
  33. macht Stille hörbar: Stille will inszeniert sein – wenn die gestaltete Rede auf der Bühne aussetzt, erleben wir die sich ausdehnende Stille viel intensiver;
  34. lehrt sich und andere das Zuhören: Oft genug gleiten die Finger der anderen zum Handy, wenn wir sprechen, fliegen unsere Blicke zum Horizont, wenn andere sprechen: Weil es im Theater wichtig ist, zuzuhören, lernen wir die vergessene Kunst, in einem Gespräch ganz dazusein;
  35. macht Töne sichtbar: Töne und Geräusche in Bewegung umzusetzen, Ton und Bild auf einander abzustimmen – auch das lernt man im Theater;
  36. kann zwischen den Zeilen lesen: Wer mit Theatertexten arbeitet, lernt zu interpretieren – das zu sehen, was der Text eben nicht sagt, sondern im leeren Raum zwischen den Zeilen nur andeutet;
  37. und zwischen den Zeilen schreiben: Wer für das Theater schreibt, lernt Leerstellen zu lassen, schreibt kompaktere und subtilere Texte, lässt Raum für Andeutung und Phantasie;
  38. macht Theater aus Texten: Die Fähigkeit der Adaption, des Medienwechsels, wird im Theater geschult: Das Theatralische an einer Novelle oder das Dramatische an einer Ballade zu sehen, vertieft unser Verständnis für Texte und erlaubt uns, vertraute Texte einem staubenden Publikum in neuer Form vorzustellen;
  39. macht aus Theater Texte: Die Auseinandersetzung mi den Techniken und Konventionen des Schreibens für die Bühne ermöglicht es uns, bessere Theatertexte zu schreiben, bessere Monologe und Dialoge;
  40. erkennt, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt: Unsere Verhaftung ans Materielle lässt uns Nebensachen für Hauptsachen halten und darüber unglücklich werden. Die Auseinandersetzung mit den großen Dramatikern der Vergangenheit macht uns bewusst, dass wir die wirklich wesentlichen Dinge des Lebens nicht aus dem Blick verlieren dürfen;
  41. leiht den Entrechteten den Schrei der Empörung: Theater schafft Aufmerksamkeit – wir können denen eine Bühne verleihen, die keine haben, die in unserer Gesellschaft an den Rand gedrängt werden und in die Unsichtbarkeit;
  42. collagiert für Kollektive: Das freie Zusammenstellen divergenter Materialien in der Collage für ein Kollektiv von individuell unterschiedlichen Schauspielern übt uns ein in die hohe Kunst der Diplomatie, der Kunst, jedem gerecht zu werden und dennoch sein Ziel zu erreichen;
  43. führt Selbstgespräche für alle: Im Theater lernt man, sich selbst beim lauten Denken zuzuhören, sein Denken im Sprechen zu entwickeln – eine unschätzbar wichtige Fähigkeit;
  44. ist Mona Lisa, Marilyn oder Madonna: Bilder nachzustellen ist kein veraltetes Freizeitvergnügen – wer andere kennen will, ihren Schmerz spüren und ihr Glück, muss ihre Haltung einnehmen, ihre Gesten und Blicke einnehmen;
  45. erscheint vor einer Leinwand sicher: Oft genug konkurriert man im Leben mit Projektionen – das richtige Zusammenspielen mit bewegten Bildern lernt man im Theater;
  46. so sicher wie auf einer Leinwand: Das Spiel mit der Kamera lässt sich lernen – ein großer Vorteil in unserer auf Bildwirkung bedachten Gesellschaft;
  47. lässt in der Odyssee die Winde los: Die Gewalt der großen Epen, der Grundlagen unserer Kultur, kann man auf der Bühne entfachen – die Gegensätze und Konflikte entfalten, die seit Gilgamesch und Homer zu Dante und Tasso Grundmuster unseres Daseins formulieren;
  48. erzittert mit Petrarca in eisiger Hitze: Gedichte verlangen nach Rezitation – erst dann entfalten sie ihre volle Wucht; wer Lyrik ins Spiel bringt, erlernt neue Möglichkeiten im sprachlichen Ausdruck;
  49. kann im Rampenlicht genauso stehen wie im Schatten: Schauspieler benötigen Feingefühl dafür, im richtigen Augenblick das richtige zu sagen – oder andere sagen zu lassen;
  50. kommt an Grenzen (und übertritt sie): Die intensive Auseinandersetzung mit uns selbst und anderen ermöglicht es uns, Schranken und Hürden in uns wahrzunehmen, auf sie zu achten, wo sie uns schützen, sie zu durchbrechen, wo sie uns hemmen;
  51. kann zwischen Welten wechseln: Wo gibt es das sonst? Gerade weilt man noch im antiken Aulis, Sekunden später steht man in der Garderobe und schlürft Eistee;
  52. verführt besser: Die Verführungskraft von Schauspielern beruht auf der Fähigkeit, unmerkliche Signale wahrzunehmen, sich blitzschnell auf die Bedürfnisse anderer einzustellen;
  53. schult sein Gedächtnis: Wer lange Textpassagen lernt, schult seine Fähigkeit, Dinge zu behalten;
  54. kann sich ausprobieren, wenn er probt: In der Probenarbeit hat man die Möglichkeit, mit sich zu experimentieren – auch sonst darf man das Theater als Ort der Probehandlungen betrachten, an dem man auch Dinge ausprobieren darf, die sonst verpönt sind;
  55. kann den Vorhang rauschen hören: Abgesehen davon, dass man rasch begreift: Applaus ist so wohltuend wie gefährlich – man erwirbt im Theater ein Gespür für Inszenierung, für Schein und Wahrhaftigkeit. Darüber hinaus: Wir durchschauen, wie Inszenierung funktioniert, auch in der Politik, in der Wissenschaft, in der Werbung;
  56. sieht Menschen, wo eben noch Leute waren: Theaterspiel führt zurück auf das, was jeden Menschen prägt: Leiblichkeit und Leidenschaften, Schmerz und Freude; es entkleidet uns (manchmal im Wortsinn).
  57. bringt Kunst auf die Straße: Das moderne Theaterstück in Bahnhofshalle und Einkaufszentrum verändert unsere Sicht auf diese Orte, durchbricht die besinnungslosen Routinen des Konsums, schafft bunte Inseln im Einerlei des Alltagsgraus;
  58. erhebt Schlaf zu einer Form der Kritik: Das Theater zwingt uns zum Verweilen, manchmal zum langen Verweilen, im Höchstfall zur Langeweile – es reißt uns aus der Hektik unaufhörlicher Beschäftigung;
  59. schreibt mitreißende Verrisse: Theater wirft uns etwas vor, dem wir – eingezwängt in Stuhlreihen – oft genug nicht entfliehen können, es lässt Filterblasen platzen und provoziert unser Urteil; dieser Prozess findet sein Ende in einer Meinung, an der sich andere reiben können, vielleicht in einer Rezension;
  60. lässt die Sau raus und fängt sie wieder ein: Schauspiel ist oft genug Ekstase, Aus-sich-Heraustreten – eine Möglichkeit, unterdrückte Anteile der Persönlichkeit zu entdecken und zu befreien, im geschützten Rahmen der Bühne der Vernunft eine Pause gönnen;
  61. sitzt auf verschiedenen Regiestühlen: Wer sich mit Regisseuren und Regiestilen befasst, gewinnt neue Ideen, wie Geschichten auf der Bühne erzählt werden können;
  62. hat viel Proviant für Improvisation: Improvisation erfordert, wie Schlagfertigkeit, eine reiche Sammlung rasch verfügbarer Ideen – dazu kommt das Wissen über abrufbare Handlungsschablonen für wiederkehrende Ereignisse;
  63. kennt den Unterschied zwischen Kammerspiel und Spiel für die Kamera: Wer sich mit Schauspiel für die befasst, erkennt es in anderen Kunstformen wieder: in der dramatischen Geste gemalter Heroinen oder in der Bewegungskultur der Kinohelden.
  64. kann einem Satz hundert Bedeutungen entlocken: Wer Theater spielt, erkennt, dass der Ton die Musik macht und die Betonung den Sinn – er betont bewusster und spricht präziser;
  65. geht mit Arlecchino, Hamlet und Wladimir einen heben (einen Schatz): Das Theater schaut auf eine dreitausend Jahre zurück, in die wir im Schauspiel eintauchen: Dort begegnen uns zu Charakteren verdichtetes Menschsein;
  66. spürt das Licht der Welt: Licht beeinflusst uns – das am meisten übersehene Gestaltungsmittel im Alltag, das Konsumgüter und Menschen inszeniert, wird uns im Theater neu bewusst.