So schreibe ich einen Gedichtvergleich

Grundsätzliche Anforderungen an einen Gedichtvergleich

  • Beim Gedichtvergleich werden zwei Texte gegenübergestellt – ein Ausgangstext und ein Vergleichstext. Die Texte ähneln sich meist. Grundlage jeden Vergleichs sind Gemeinsamkeiten.
  • Bei der Auswahl der Texte werden deshalb oft drei Kriterien berücksichtigt: Sind die Texte motivgleich? Haben sie ein ähnliches Thema? Lassen sich Epochenunterschiede zeigen?
  • Ziel des Gedichtvergleichs ist üblicherweise, dass der Leser aus dem Vergleich Kenntnisse über die Texte gewinnt, die eine Einzelanalyse nicht erbracht hätte. Man sagt: Die Texte sollten sich gegenseitig erhellen.
  • Üblicherweise wird deshalb der Vergleich stärker gewichtet. Dies sollte sich auch im Umfang der Aufsatzteile zeigen.
  • Beim Vergleich kann ein Vergleichsaspekt genannt werden. Ansonsten muss man eigene Schwerpunkte
  • Die Interpretation der Einzeltexte muss insbesondere dann gestrafft werden, wenn beide Texte analysiert und interpretiert werden.
  • Deswegen ist ein gutes Zeitmanagement nötig. Man sollte sich auf das Wesentliche konzentrieren und rasch arbeiten.
  • Es empfiehlt sich, bei der Interpretation inhaltliche Fragen und besonders die Entwicklung des Themas in den Vordergrund zu stellen.
  • Es empfiehlt sich, die Texte beim Titel oder mit Autornamen aufzuführen (Das Gedicht „…“ ist … / Goethes Text ist …); unschön ist die Kennzeichnung als „Text 1“ und „Text 2“.
  • Wer von der Darstellung des einen Aspekts zum anderen übergeht, sollte dies sprachlich hervorheben: Ähnlich wie beim Aufbau gibt es auch bei der Perspektive deutliche Unterschiede / Gemeinsamkeiten.
  • Den Übergang beim Vergleich einzelner Aspekte markiert ein Satz, der die Texte kontrastiert: Im Gegensatz zu … ist …, Anders als …. , Genauso wie … ist … , Nicht anders als … ist … .

Konzept

Lies zunächst beide Texte. Ermittle das gemeinsame Thema oder Motiv!

Setze die üblichen Erschließungstechniken formaler und inhaltlicher Art ein. Weitere Informationen zur Analyse von lyrischen Texten findest du hier!

Überprüfe die ergänzenden Angaben. Ist ein Erscheinungsdatum genannt? Kannst du Epochenunterschiede erkennen?

Analysiere nun in aller Kürze beide Texte. Vorrang haben dabei inhaltliche Kriterien, die du in einer Tabelle gegenüberstellst:

  • Die Behandlung des Themas Reisen,
  • Und des jeweiligen Themas oder Motivs,
  • Die Aussage des Gedichts,
  • Die Sprechsituation,
  • Die Perspektive,
  • Der Aufbau,
  • Einzelne Motive.
  • Formale Kriterien sind sekundär. Sie müssen zur Einzelanalyse herangezogen werden. Auch zur Stützung inhaltlicher Vergleichskriterien eignen sie sich.

Ermittle nun die Gemeinsamkeiten. Nummeriere sie durch!

Ergänze zu jeder Gemeinsamkeit, worin der Unterschied bei der Behandlung dieser Gemeinsamkeit liegt! Stelle jeweils Text 1 und Text 2 gegenüber!

Ermittle weitere Unterschiede, die sich nicht aus einer Gemeinsamkeit ableiten lassen!

Überlege nun, wie sich diese Unterschiede begründen lassen!

Zur Vorbereitung des Schlusses:

  • Ergänze, welches unterschiedliche Bild des gemeinsamen Themas oder Motivs entsteht!
  • Zeige, worin die Gedichte jeweils Schwerpunkte haben!
  • Vergleiche die Zielsetzung beider Texte!
  • Weise Epochenbezüge nach!

Struktur des Aufsatzes

Beim Gedichtvergleich gibt es im Grunde drei verschiedene Modelle:

  • Modell 1 (sukzessiv): „Interpretiere A, interpretiere B und vergleiche!“ Zunächst wird das Ausgangsgedicht interpretiert. Das Vergleichsgedicht wird ebenfalls interpretiert, es folgt ein Vergleichstext, der die Unterschiede und Gemeinsamkeiten herausstellt. Gefahr: Der Vergleichsteil wiederholt nur, was in den Einzelinterpretationen ohnehin schon steht.
  • Modell 2 (diachron): „Interpretiere A, vergleiche B mit A!“ Im Vergleichsteil wird das Kontrastgedicht in Bezug auf das Ausgangsgedicht analysiert und interpretiert. Es interessieren also vorrangig relevante Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die jeweils mit Textbelegen dokumentiert werden. Diese werden im Kontext des Vergleichstexts erläutert und gedeutet. Gefahr: Der Vergleichsteil endet im Chaos.
  • Modell 3 (synchron): „Vergleiche A mit B in Bezug auf X!“ Meist reduziert auf einen Aspekt des Vergleichs werden Ausgangs- und Vergleichstext synchron in einem Text abgehandelt. Gefahr: Beide Texte werden nicht interpretiert,

Sukzessive Methode: „Interpretiere A, interpretiere B und vergleiche!“

I - Einleitung: Gedicht 1

Die Einleitung entspricht weitgehend der Einleitung bei der Einzelinterpretation.

  • Zweiteilige Überschrift: Gedichtvergleich zu Autor[s] „Text 1“ und Autor[1] „Text 2“;
  • verbindender Einstieg, der die Gemeinsamkeit beider Texte aufgreift und das Thema für den Leser entfaltet;
  • Basissatz zu Gedicht 1: Autor, Titel, Textsorte, Entstehungsjahr; falls bekannt: Erstdruck mit Jahr und Medium (Zeitschrift, Sammelband);
  • Inhalt; Thema = Deutungshypothese.

II - Formale Analyse: Gedicht 1

  1. Aufbau des Gedichts nach Strophen und Versen;
  2. Reimschema, dessen Funktion zur Gliederung des Texts;
  3. Versmaß und Anzahl der Hebungen, Kadenzen, dessen Wirkung;
  4. Weitere Beobachtungen zur Gesamtanlage des Texts (Verbindungen zwischen den Strophen, Kehrreime).

III - Interpretation: Gedicht 1

  • Inhaltlicher Aufbau des Gedichts (Überblickssatz, Abschnitte, jeweils mit Zeilennennung);
  • Herausarbeiten zentraler inhaltlicher und formaler Ergebnisse im Hinblick auf den Vergleich: Inhaltsanalyse, Stilanalyse, Klanganalyse, ggf. Aufgreifen rhythmisch-metrischer Befunde;
  • Überleitung mit Nennung des gemeinsamen Themas oder Motivs.

IV - Schluss: Gedicht 1

  • Gesamtaussage des Gedichts;
  • Schwerpunkte in der Behandlung des Themas oder Motivs;
  • Zielsetzung des Texts;
  • Epochenzuweisung.

V - Einleitung: Gedicht 2

  • Basissatz: Autor, Titel, Textsorte, Entstehungsjahr;
  • Inhalt; Thema = Deutungshypothese;

VI - Formale Analyse: Gedicht 2 (nur bei Modell 1)

  1. Formaler Aufbau des Gedichts nach Strophen und Versen;
  2. Reimschema, dessen Funktion zur Gliederung des Texts;
  3. Versmaß und Anzahl der Hebungen, Kadenzen, dessen Wirkung;
  4. Weitere Beobachtungen zur Gesamtanlage des Texts (Verbindungen zwischen den Strophen, Kehrreime).

VII - Interpretation: Gedicht 2 (nur bei Modell 1)

  • Inhaltlicher Aufbau (Überblickssatz, Abschnitte);
  • Herausarbeiten zentraler inhaltlicher und formaler Ergebnisse im Hinblick auf den Vergleich.

VIII - Schluss: Gedicht 2

  • Gesamtaussage des Gedichts;
  • Schwerpunkte in der Behandlung des Themas oder Motivs;
  • Zielsetzung des Texts;
  • Epochenzuweisung.

IX - Vergleich

  • Überleitung mit Verweis auf die Vergleichbarkeit: Gemeinsamkeiten und Unterschiede;
  • Herausarbeiten von aussagekräftigen Gemeinsamkeiten und der jeweiligen Unterschiede in der Behandlung dieser Gemeinsamkeiten:
  1. die Behandlung des Themas (z. B. Reisen, Natur, Liebe…);
  2. die Sprechsituation;
  3. die Perspektive;
  4. der Aufbau;
  5. einzelne Motive;
  6. Besonderheiten der Form.
  7. des jeweiligen Themas oder Motivs;
  8. die Aussage des Gedichts;

X - Schluss

  • Besonderheiten bei der Darstellung des gemeinsamen Themas oder Motivs;
  • Schwerpunkte beider Gedichte;
  • Zielsetzung beider Texte;
  • Begründung der Unterschiede (z. B. durch Epochenbezüge).

Diachrone Methode: „Interpretiere A, vergleiche B mit A!“

Bei der diachronen Methode ist der Vergleichstext (Gedicht 2) nur insofern darzustellen, dass er Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Ausgangstext bietet (Gedicht 1).

I - Einleitung: Gedicht 1

Die Einleitung entspricht weitgehend der Einleitung bei der Einzelinterpretation.

  • Zweiteilige Überschrift: Gedichtvergleich zu Autor: „Text 1“ und Autor: „Text 2“;
  • verbindender Einstieg, der die Gemeinsamkeit beider Texte aufgreift und den Vergleichsgrunds (Motiv, Thema…) herausarbeitet.
  • Basissatz zu Gedicht 1: Autor, Titel, Textsorte, Entstehungsjahr; falls bekannt: Erstdruck mit Jahr und Medium (Zeitschrift, Sammelband);
  • Thema = Deutungshypothese.

II - Formale Analyse: Gedicht 1

  1. Aufbau des Gedichts nach Strophen und Versen;
  2. Reimschema, dessen Funktion zur Gliederung des Texts;
  3. Versmaß und Anzahl der Hebungen, Kadenzen, dessen Wirkung;
  4. Weitere Beobachtungen zur Gesamtanlage des Texts (Verbindungen zwischen den Strophen, Kehrreime).

III - Interpretation: Gedicht 1

  • Inhaltlicher Aufbau des Gedichts (Überblickssatz, Abschnitte, jeweils mit Zeilennennung);
  • Herausarbeiten zentraler inhaltlicher und formaler Ergebnisse im Hinblick auf den Vergleich: Sprechsituation, Perspektive, Aufbau, Motive (integriert sind sprachliche oder stilistische Befunde);

III – Schluss: Gedicht 1

  • Besonderheiten bei der Darstellung des Themas oder Motivs;
  • Schwerpunkte des Gedichts;
  • Zielsetzung des Texts;
  • Epochenbezüge.

IV - Einleitung: Gedicht 2

  • Überleitung mit Verweis auf die Vergleichbarkeit: Unterschiede, trotz der Gemeinsamkeiten
  • Basissatz: Autor, Titel, Textsorte, Entstehungsjahr;
  • Thema = Deutungshypothese

V – Hauptteil: Vergleich

Herausarbeiten von aussagekräftigen Gemeinsamkeiten und der jeweiligen Unterschiede in der Behandlung dieser Gemeinsamkeiten, und zwar in derselben Reihenfolge, in der diese Elemente in der Interpretation des Ausgangstexts behandelt werden:

  1. Die poetische Form von Gedicht 2 im Vergleich zu Gedicht 1;
  2. der inhaltliche Aufbau von Gedicht 2 im Vergleich zu Gedicht 1;
  3. die Behandlung des Themas (z. B. Reisen, Natur, Liebe, etc. …) in Gedicht 2 im Vergleich zu Gedicht 1;
  4. die Sprechsituation in Gedicht 2 im Vergleich zu Gedicht 1;
  5. die Perspektive in Gedicht 2 im Vergleich zu Gedicht 1;
  6. der Aufbau von Gedicht 2 im Vergleich zu Gedicht 1;
  7. einzelne Motive in Gedicht 2 im Vergleich zu Gedicht 1;
  8. Besonderheiten der Form in Gedicht 2 im Vergleich zu Gedicht 1.
  9. des jeweiligen Themas oder Motivs in Gedicht 2 im Vergleich zu Gedicht 1;
  10. die Aussage von Gedicht 2 im Vergleich zu Gedicht 1.

VI - Schluss

  • Besonderheiten bei der Darstellung des gemeinsamen Themas oder Motivs;
  • Schwerpunkte beider Gedichte;
  • Zielsetzung beider Texte;
  • Begründung der Unterschiede (z. B. durch Epochenbezüge).

Synchrone Methode: „Vergleiche A mit B [in Bezug auf X]!“

I - Einleitung

Die Einleitung ist in diesem Aufsatztyp auf beide Texte ausgerichtet.

  • Zweiteilige Überschrift: Gedichtvergleich zu Autor[s] „Text 1“ und Autor[s] „Text 2“;
  • verbindender Einstieg, der die Gemeinsamkeit beider Texte aufgreift (und dabei ggf. den vorgegebenen Vergleichsaspekt X hervorhebt);
  • Basissatz zu Gedicht 1: Autor, Titel, Textsorte, Entstehungsjahr; falls bekannt: Erstdruck mit Jahr und Medium (Zeitschrift, Sammelband);
  • Inhalt, Thema = Deutungshypothese;
  • Überleitung zu Gedicht 2, die den Vergleichsgrund benennt: Gemeinsamkeiten und Unterschiede;
  • Basissatz zu Gedicht 2: Autor, Titel, Textsorte, Entstehungsjahr;
  • Inhalt, Thema = Deutungshypothese.

II - Hauptteil: aspektgeleiteter Vergleich

  • In einem Überblickssatz werden die zum Vergleich herangezogenen Aspekte genannt: Vergleichbar sind [Gedicht 1] und [Gedicht 2] im Hinblick auf ihr gemeinsames Thema, die Sprechsituation und die Perspektive. Parallelen und Unterschiede gibt es auch im Aufbau, im motivischen Bereich und in der jeweiligen Form der Texte. Bei der Untersuchung der Aspekte sollte man sich an die Reihenfolge im Überblickssatz halten.
  • Der Text ist in Abschnitte gegliedert, die den Vergleichskriterien entsprechen.
  • Der Einstiegssatz benennt das Vergleichskriterium: Im Hinblick auf den Aufbau beider Texte fällt auf…
  • Zunächst wird jeweils das Gemeinsame herausgestellt, dann die Unterschiede. Gemeinsam ist beiden Texten ihre metrische Form: … / Allerdings …
  • Ist Gemeinsames nicht erkennbar, werden nur Unterschiede herausgearbeitet: Im Hinblick auf ihre Zielsetzung unterscheiden sich beide Texte fundamental: …
  • Zunächst wird Gedicht 1 dargestellt, dann immer Gedicht 2.

Diese Aspekte bieten sich für einen Vergleich besonders an:

  1. Die poetische Form von Gedicht 2 im Vergleich zu Gedicht 1;
  2. der inhaltliche Aufbau von Gedicht 2 im Vergleich zu Gedicht 1;
  3. die Behandlung des Themas (z. B. Reisen, Natur, Liebe, etc. …) in Gedicht 2 im Vergleich zu Gedicht 1;
  4. die Sprechsituation in Gedicht 2 im Vergleich zu Gedicht 1;
  5. die Perspektive in Gedicht 2 im Vergleich zu Gedicht 1;
  6. der Aufbau von Gedicht 2 im Vergleich zu Gedicht 1;
  7. einzelne Motive in Gedicht 2 im Vergleich zu Gedicht 1;
  8. Besonderheiten der Form in Gedicht 2 im Vergleich zu Gedicht 1.
  9. des jeweiligen Themas oder Motivs in Gedicht 2 im Vergleich zu Gedicht 1;
  10. die Aussage von Gedicht 2 im Vergleich zu Gedicht 1.

III - Schluss

  • Besonderheiten bei der Darstellung des gemeinsamen Themas oder Motivs;
  • Schwerpunkte beider Gedichte;
  • Zielsetzung beider Texte;
  • Begründung der Unterschiede (z. B. durch Epochenbezüge).

Beispielaufsatz (Modell 2: diachron)

Analysieren und interpretieren Sie Schillers Gedicht. Vergleichen Sie damit Georg Heyms „Columbus“. Der Schwerpunkt liegt auf der zweiten Teilaufgabe.

„Kolumbus“ und „Columbus“: Gedichtvergleich zweier Columbus-Gedichte von Friedrich Schiller und Georg Heym (Texte im Anhang)

[EINSTIEG] Entdeckungsreisende faszinieren: Ihr Aufbruch ins Ungewisse, die lange Fahrt in die Ferne und das Ankommen in der Fremde haben Lyriker über Jahrhunderte inspiriert. [ÜBERLEITUNG ZUM THEMA] Der bekannteste unter den Entdeckern ist zweifellos Christopher Columbus, der Entdecker Amerikas. Es liegt nahe, dass sich sein Bild in den Jahrhunderten seit seinem Tod stetig gewandelt hat. [AUTOR] Friedrich Schillers [ERSCHEINUNGSJAHR] im September 1795 entstandenes [TEXTSORTE] Epigramm [TITEL] „Kolumbus“ entwirft das Bild eines wagemutigen Entdeckers. [DEUTUNG] Sein Columbus ist ein überdimensionales Vorbild, dessen Genie sich mit der Natur verbündet.

Das [STROPHEN] einstrophige Epigramm besteht aus [VERSE] acht Versen setzt sich traditionsgemäß aus [REIM] ungereimten [STROPHENFORM] elegischen Distichen zusammen, weshalb auch [KADENZEN] die Kadenzen alternieren. [FUNKTION] Schiller bedient sich also eines klassischen Metrums, beschwört also die Dichter der römischen Antike, um Columbus Würde zu verleihen. [PAUSEN] Zwei Wirkungspausen im ersten und dritten Vers verleihen den Imperativen, die Columbus antreiben, nachdrückliche Wirken. Weitere Pausen trennen das erste Verspaar von den vier folgenden Versen ab, das seinerseits durch eine erneute Pause vom Schlusspaar abgegrenzt ist.

[ÜBERLEITUNG] Diese Gliederung spiegelt sich im Inhalt. [INHALT: ABSCHNITTE] Schillers Epigramm lässt sich in drei Abschnitte aufteilen. Der erste Abschnitt (Z,. 1-2) fordert Columbus auf, sich von den Widrigkeiten nicht beeindrucken zu lassen. Im folgenden Abschnitt (Z. 3-6) wird angedeutet, dass Columbus kurz vor der Entdeckung Amerikas steht. Der letzte Abschnitt (Z. 7-8) kommentiert die vorderen: Die Natur steht mit dem „Genius“ des „in ewigem Bunde“ und verhilft ihm zu seinem Erfolg.

[KURZE INTERPRETATION] [SPRECHSITUATION] Es fällt auf, dass der Sprecher Columbus in der ersten Zeile direkt anspricht, ohne in direkt beim Namen zu nennen: „Steure, mutiger Segler!“. Columbus soll gegen den Hohn der Vernünftigen bestehen, die hier als „Witz“ personifiziert sind (Z. 2). Bestehen soll er auch gegen seine Matrosen, die „Schiffer“ (Z. 2), die ihre Dienste verweigern. Angesprochen wird er auch im elliptischen dritten Vers: Columbus soll „[i]mmer, immer“ nach Westen Segeln. Die Repetitio unterstreicht die Eindringlichkeit dieser Mahnung.

Dem genuesischen Kapitän erscheint das nahe Ziel schon vor dem inneren Auge, „schimmernd“ liegt es im Westen. Das Verb „schimmern“ verweist metaphorisch auf die Hoffnung, mit der das „aus den Fluten“ (Z. 6) steigende Land erwartet wird. Während der „leitend[e] Gott“ den Seefahrer sicher führt, liegt das bedrohlich „schweigende Meer“ vor Columbus, der sich angesichts des personifizierten Ozeans auf Gottes Beistand verlassen darf.

Der dritte Abschnitt ergänzt eine Deutung des Geschehens, die zugleich als Ansporn wirkt. Solange der „Genius“ des Columbus, sein durchdringender Geist, mit der „Natur“ im Bund steht (Z. 7), hat er sichere Aussichten auf die Entdeckung. Die Hyperbel vom „ewige[n]“ Bunde unterstreicht, dass hier besondere Kräfte am Werk sind.

[SCHLUSS DES INTERPRETATIONSTEILS] Das klassische Metrum, die rhetorische Zuspitzung und der Genie-Gedanke prägen Schillers Text. Columbus erscheint in Übergröße, die Entdeckung ist nur ein Schimmer im geistigen Blickfeld des Entdeckers. Das Gedicht betont den Wagemut des Genuesers und fordert dazu auf, Genie und Natur als Verbündete zu begreifen.

[EINLEITUNG ZUM VERGLEICHSTEXT] Ganz anders als Schillers heroisches Columbus-Epigramm wirkt Georg Heyms expressionistisches Gedicht „Columbus“. Es erschien 1911 in Heyms Sammelband Der ewige Tag und beschwört das Bild eines Columbus herauf, der als träumender Odysseus vor den Sirenen ein Weltmeer durchfährt, das in magischen Bildern erscheint. Im Gegensatz zu Schillers „Kolumbus“ ermöglicht Heyms Gedicht dem Leser eine Versenkung in exotische Bildwelten.

[FORM] Zunächst fallen formale Unterschiede auf. Auf den ersten Blick wird deutlich, dass Heyms Gedicht in sechs Quartetten viel detailreicher sein kann als Schillers Text. Im Gegensatz zum gedanklich zugespitzten und stilistisch eher kargen Epigramm dominieren reiche Klänge. Der tänzerisch anmutende jambische Fünfheber reimt sich überkreuz und hilft bei einigen Strophen, die Pausierung am Satzende zu überspringen.

[STIL] Auch stilistische Kontraste lassen sich nicht übersehen. Die Klangfülle verdeutlicht die Anziehungskraft der nahenden Küste, die mit erlesenen Mitteln beschrieben wird. Während Schillers Columbus lediglich den Schimmer des Festlands erahnt, erträumt der „Genueser“ (Z. 13) bei Heym eine exotische Wunderwelt. Sie ist bevölkert von „Riesenschwäne[n]“, die Sterne werden in einer Spiegelung des Meers als „Fische“ personifiziert (Z. 10).

[SPRECHSITUATION] Prägend sind ferner Unterschiede in der Sprechsituation beider Texte. Im Kontrast zu Schiller, der seinen Sprecher den Entdecker ansprechen lässt, hält sich der Sprecher bei Heym im Hintergrund. Er beschreibt lediglich die Träume des Columbus, wobei er sich beschreibend in dessen Visionen versenkt. Insgesamt ist Heyms Gedicht im Vergleich mit Schillers Gedankenlyrik sinnlicher: Der Sprecher beschreibt nicht nur das „wie Harfen“ (Z. 4) klingende Gefieder der Schwäne, er riecht auch Winde „schwer von brennendem Jasmin“ (Z. 8).

[MOTIV] Der markanteste Unterschied betrifft jedoch das zentrale Motiv: die Figur des Columbus selbst. Bei Schiller ist er ein dynamischer Weltenentdecker, ist bei Heym ein passiver Träumer, dem lediglich aus der Ferne die „goldnen Tempeldächer Mexikos“ leuchten. Allerdings deutet Heym im Gegensatz zu Schillers Verherrlichung des Entdeckers bereits an, dass der Seefahrer nicht nur Heil bringt. In der Ferne „schlummert noch in Frieden Salvador“, eben „noch“, ehe die spanische Entdeckung den Unfrieden nach Amerika trägt.

[AUFBAU] Dieser ahnungsvolle letzte Vers steht im Gegensatz zu Schillers pointierter Schlussformel. Auch sonst unterscheiden sich die Gedichte hinsichtlich ihres Aufbaus beträchtlich. Während Schiller ohne Umstände Columbus an den Anfang seines Texts stellt, entwirft Heym zunächst ein Bild des nächtlichen Meeres. Erst in der vierten Strophe wird Columbus erwähnt, der aber lediglich als Visionär von Bedeutung ist: Seinem Traum entspringen bei Heym die prunkvollen Bilder, die auch die beiden letzten Strophen prägen.

[WEITERE MOTIVE]  Auch motivisch ergeben sich sowohl Übereinstimmungen als auch Gegensätze. Das Motiv des abweisenden Meeres findet sich allen Unterschieden zum Trotz in beiden Texten. Bei Schiller trotz der Seefahrer dem „schweigenden Weltmeer“ (Z. 5), bei Heym hat er es jedoch mit einer entfesselten See zu tun, die von Winden aufgetürmt wird, die synästhetisch mit „schwarzem Schall“ (Z. 2) gleichgesetzt wird. Die expressionistisch übersteigerte Innenschau bietet Personifikationen eines aus der Leere kriechenden Mondes, während der Himmel bei Schiller nicht erwähnt wird. Unterschiede gibt es auch hinsichtlich der Begleitfiguren. Sowohl bei Schiller als auch bei Heym sind die Gefährten des Columbus untätig, der einsame Columbus muss ohne sie auskommen. Bei Schiller verweigern sie sich, bei Heym jedoch schlafen die „müden Schiffer“ (Z. 11). Bei Schiller widersetzen sie sich der Gefolgschaft des Seehelden, bei Heym sind sie lediglich in tiefen Schlaf versunken und damit ebenso passiv wie Columbus selbst.

[ZEIT] Übereinstimmungen finden sich auch in der Gestaltung der Zeit. Beide Texte schildern den letzten Moment vor der Ankunft. Allerdings legt sich Heym durch die Ergänzung des „10.12.1492“, des Tages der Ankunft vor den Bahamas, auf ein bestimmtes Datum fest.

[SCHLUSS] Insgesamt fällt auf, dass sich die beiden Gedichte trotz naheliegender Parallelen bei der Behandlung desselben Motivs stark unterscheiden. [SCHWERPUNKT] Das fällt insbesondere bei der Behandlung des Titelhelden auf, aber auch bei der Beschreibung des Meeres. [BEGRÜNDUNG DER UNTERSCHIEDE: EPOCHEN] Wie sind diese Unterschiede zu erklären? Schiller schreibt 1795 noch aus dem Geist des Sturm und Drangs. Sein „Kolumbus“ ist eines jener Kraftgenies, wie sie beim frühen Schiller oft vorkommen. Die klassische Form dagegen verrät Schillers Beschäftigung mit der Antike. Heyms „Columbus“ hingegen vermischt in expressionistischer Bildsprache Innenwelt und Außenwelt. Während Schiller sich auf die entdeckerische Glanzleistung des Seefahrers konzentriert, lässt Heym bereits die unheilvollen Folgen dieser Entdeckung anklingen. [BEGRÜNDUNG DER UNTERSCHIEDE: TZIELSETZUNG] Abgesehen von den Konventionen der Epoche ist auch die Zielsetzung beider Texte ein Grund für ihre Verschiedenheit. Während Schillers Text den Leser überzeugen soll, ermöglicht Heym seinen Lesern ein Eintauchen und Einfühlen in die Bildwelten eines träumenden Columbus. [SCHLUSSSATZ] Letztlich steht dem Optimismus des Klassikers Schiller die Skepsis des Expressionisten Heym entgegen.

Friedrich Schiller: Kolumbus (1795)

Steure, mutiger Segler! Es mag der Witz dich verhöhnen,

Und der Schiffer am Steur senken die lässige Hand.

Immer, immer nach West! Dort muß die Küste sich zeigen,

Liegt sie doch deutlich und liegt schimmernd vor deinem Verstand.

Traue dem leitenden Gott und folge dem schweigenden Weltmeer,

Wär sie noch nicht, sie stieg' jetzt aus den Fluten empor.

Mit dem Genius steht die Natur in ewigem Bunde,

Was der eine verspricht, leistet die andre gewiß.

Georg Heym: Columbus (1911)

12. Oktober 1492

Nicht mehr die Salzluft, nicht die öden Meere,

Drauf Winde stürmen hin mit schwarzem Schall.

Nicht mehr der großen Horizonte Leere,

Draus langsam kroch des runden Mondes Ball.

 

Schon fliegen große Vögel auf den Wassern

Mit wunderbarem Fittich blau beschwingt.

Und weiße Riesenschwäne mit dem blassern

Gefieder sanft, das süß wie Harfen klingt.

 

Schon tauchen andre Sterne auf in Chören,

Die stumm wie Fische an dem Himmel ziehn.

Die müden Schiffer schlafen, die betören

Die Winde, schwer von brennendem Jasmin.

 

Am Bugspriet vorne träumt der Genueser

In Nacht hinaus, wo ihm zu Füßen blähn

Im grünen Wasser Blumen, dünn wie Gläser,

Und tief im Grund die weißen Orchideen.

 

Im Nachtgewölke spiegeln große Städte,

Fern, weit, in goldnen Himmeln wolkenlos,

Und wie ein Traum versunkner Abendröte

Die goldnen Tempeldächer Mexikos.

 

Das Wolkenspiel versinkt im Meer. Doch ferne

Zittert ein Licht im Wasser weiß empor.

Ein kleines Feuer, zart gleich einem Sterne.

Dort schlummert noch in Frieden Salvador.