Vom Gang: Fortbewegung auf der Bühne

Welche Bedeutung hat der Gang für unser Leben?

  • Der Gang ist ein Kommunikationsmittel. Anders als bei anderen Formen körpersprachlicher Verständigung übermittelt er Signale oft unbewusst. Unser Gang spiegelt unseren Status, unsere Geschlechterrolle, unsere Stimmung, unser Selbstbewusstsein.
  • Der Gang macht uns unverwechselbar, prägt unsere Identität. Damit kann er zum Gegenstand biometrischer Analysen werden. Noch im Fußabdruck, in der Spur, finden sich Anhaltspunkte: Schrittlänge und Profil des Fußabdrucks geben Auskunft über den Gehenden.
  • Unsere Fähigkeit zu gehen ermöglicht uns Mobilität im Nahraum. Dabei ist oft nicht nur das Ziel wichtig: Im Gehen durch unsere Umwekt kommen wir zu uns selbst, Gehen in Gesellschaft schafft Gemeinschaft.

Carl Spitzweg: Der Spaziergang. 1841, Ö/H

Warum spielt das Gehen eine wichtige Rolle auf der Bühne?

  • Der Gang ist ein Ausdrucksträger: Er spiegelt die emotionale Verfassung der Bühnenfigur. Ausgangspunkt für die Charakterentwicklung ist der neutrale Gang mit leicht vorgeschobener Hüfte, zurückgezogenen Schultern und aufrechter Kopfhaltung.
  • Das Gehen lenkt die Aufmerksamkeit auf das Ziel der Bewegung.
  • Gehen und Status sind verknüpft: Langsames, gravitätisches Scheiten prägt Figuren im Hochstatus, nervöses Trippeln ist charakteristisch für Figuren im Tiefstatus.
  • Durch ihre Fortbewegungsform werden Figuren wiedererkennbar – der Gang trägt zur Charakterisierung von Figuren bei.

Wier kann man den Fuß beim Gehen aufsetzen?

  • Hackengang: Beim Hackengang setzt die Ferse zuerst auf.
  • Zehengang: Beim Zehengang ruht die Hauptlast des Körpers zunächst auf den Zehen.
  • Ballengang: Beim Ballengang setzen zuerst die Fußballen auf.
  • Seiltänzer- oder Passgang: Bein Seiltänzergang setzen wir die Füße in einer gedachten Linie voreinander.

Welche Kulturformen des Gehens gibt es?

  • Marsch. Das Marschieren dient beim Militär logistischen Zwecken (Heeresteile werden hin- oder herbewegt, es hat jedoch auch demonstrative und repräsentative Funktion. Typisch sind Gleichschritt und Stechschritt. Beim Gleichschritt zielen die Marschierenden auf Synchronizität der Bewegung und gleiche Schrittlänge; der ursprünglich preußische Stechschritt ist ein Marschieren mit dem gestreckten Bein, als Paradeschritt (hüfthoch) oder als Exerzierschritt (kniehoch).
  • Walken: Das Walken ist ein schnelles Gehen im Breitensport mit aktivem Armschwung.
  • Sportliches Gehen: Beim Gehen darf im Gegensatz zu den läuferischen Disziplinen kein für das menschliche Auge sichtbarer Verlust des Bodenkontakts vorkommen. Das ausschreitende Bein muss beim Aufsetzen auf den Boden gestreckt sein, darf also im Knie nicht abknicken.
  • Promenade: Die Promenade ist öffentliches Spazierengehen in der Gruppe, wobei man zudem repräsentiert und gesellschaftliche Kontakte pflegt.
  • Spaziergang: Der Spaziergang ist ein betrachtendes Gehen zur Erholung, zum Zeitvertreib und zur Erbauung, in der Regel in freier Natur.
  • Flanieren: Das Flanieren ist planlos Umherschweifen, das dem Genuss dient. Oft dient es auch zur Demonstration verfügbarer Zeit und Muße. Flaneure führten im 19. Jahrhundert gelegentlich Symboltiere der Langsamkeit mit sich. Baudelaire soll eine Schildkröte ausgeführt werden, Gérard de Nerval einen Hummer.
  • Wandern: Das Wandern ist eine Form weiten Gehens über mehrere Stunden. Gewandert wird in der Regel mit festem Ziel auf festen Strecken.
  • Catwalk-Gehen: Das Gehen auf dem Catwalk erfolgt oft, aber nicht immer, in einem angedeuteten Passgang, der die Hüften betont; weil die Bekleidung im Vordergrund steht, sollen Mimik und Gestik neutral sein. Oft schließt der Gang mit einer Pose.
  • Meditatives Gehen: Meditatives Gehen gibt es etwa im Zen-Buddhismus: Kinhin ist ein gleichmäßiges, achtsames Gehen im Atemrhythmus, die Hände werden dabei in Shashu-Stellung gehalten (die Faust ruht in der gewölbten Hand). Schreitmeditationen gibt es auch in anderen Religionen. Beispielsweise werden Labyrinthe (wie in Chartres) zur Schrittmeditation genutzt.
  • Tänzerisches Gehen: Das Gehen kann im Ballett und im Modern Dance Teil der Darbietung sein, etwa, um den Bühnenraum zu nutzen oder um Bewegungen zu rhythmisieren.

Welche Formen des Gehens gibt es in Bezug auf den Bühnenraum?

  • Auftritt
  • Abgang
  • Bühnenquerung
  • Unterbrochenes Gehen
  • Paarweises Gehen
  • Kreisförmiges Gehen

Was kann man am Gang erkennen?

Die Beobachtung des gehenden Menschen erlaubt eine intensive Diagnostik und Charakterisierung der Gehenden.

  • Beispielsweise kann die Stimmung an der Haltung, an der Schrittgeschwindigkeit und an der Dynamik des Gehens abgelesen werden.
  • Das Alter beeinflusst das Gehen: Gelenkverschleiß und andere Beeinträchtigungen können sich auf das Gehen auswirken. Kinder setzen zunächst den ganzen Fuß auf, später rollen wir auf dem Ballen ab.
  • Körperliche Beschwerden können zu einer Schonhaltung führen oder das Gehen direkt beeinflussen (Hinken). In der Medizin dient die Beobachtung des Gehens in verschiedenen Fachrichtungen zur Diagnose, unter anderem in der Orthopädie.
  • Neurologische Erkrankungen haben ebenfalls Folgen, die sich beim Gehen zeigen, z. B. bei Lähmungen.
  • Medikation und Vergiftung: Medikamente können das Gehen beeinflussen. Beispielsweise lösen manche Psychoparmaka einen extrem kleinschrittigen, wächsernen Gang aus. Auch Rauschmittel wirken sich auf den Gang aus – typisch ist der schwankende Gang von Betrunkenen.
  • Fehlstellungen: Fehlstellung der Knie (O-Beine, X-Beine) wirken sich ebenfalls auf das Gesamtbild des Gangs aus.
  • Die Fußbekleidung: In Stöckelschuhen geht man naturgemäß anders als beim Barfußgehen.
  • Die Kultur: Kulturelle Faktoren wie Geschlechtervorstellungen und Sittlichkeitsegeln können sich ebenfalls am Gang zeigen.
  • Ästhetik: Vorstellungen über Schönheit bestimmen unsere Art, uns zu bewegen. Goethe beispielsweise empfand das Schwingen der Arme beim Gehen als vulgär.
  • Geschlechterstereotype: Von Männern und Frauen werden in vielen Kulturen jeweils spezifische Bewegungsformen erwartet. Das Einbinden von Mädchenfüßen im alten China führte zu einem Trippelschritt, der junge Frauen verletzlich und kindlich erscheinen ließ und auf Männer anziehend wirkte.
  • Den Untergrund: Selbstverständlich ist auch der Untergrund bedeutsam: Im Morast bewegt man sich anders als auf Asphalt, ein Hochseil führt zu anderen Bewegungsformen als eine Ringermatte.
  • Das Körpergewicht: Auch das Körpergewicht und die Körperform prägen unsere Art zu gehen, insbesondere im Zusammenspiel mit dem Untergrund.
  • Mitgeführte Gegenstände: Das Gewicht und die Form von getragenen Gegenständen führt zu einer jeweils unterschiedlichen Art zu gehen.

Übungen

  • Fußvariationen: Die Spielenden nutzen den Zehen-, Hacken oder Ballengang.
  • Exerzieren: Das Ensemble geht im Gleichschritt, wechselt auf Kommando zwischen Exerzier- und Stechschritt.
  • Überkreuz: Die Arme werden zuerst im Rhythmus der Beine auf derselben Körperseite mitgeschwungen, dann folgen sie dem Bein auf der anderen Körperseite.
  • Achtsames Gehen: Die Spielenden gehen langsam und bewusst, achten auf das Abrollen des Fußes. Jeder Schritt füllt einen Atembogen. Variante: Kinhin, im Kreis.
  • Kellner: Die Spielenden nehmen ein Buch auf die gespreizten Finger der Hand, auf dem ein Becher (o. ä.) steht. Dann bewegen sie sich in umgrenztem Raum möglichst schnell und elegant, ohne dass das Objekt fällt.
  • Gouvernante: Wie beim Einüben der aufrechten Haltung in früheren Zeiten nehmen die Spielenden ein Objekt (z. B. ein Buch) auf den Kopf auf den Kopf. Bei einer Begegnung grüßen sich die Spielenden und verneigen sich leicht.
  • Catwalk: Die Spielenden gehen auf einer improvisierten (oder imaginären) Bühne auf die Gruppe zu, dann werfen sie sich in Pose, nehmen Kontakt zum Publikum auf und gehen wieder zurück.
  • Rückwärtsgehen: Die Spielenden erhalten ein Thema zum Dialog und flanieren rückwärts durch die Umgebung.
  • Cancan: Das Ensemble hakt sich ein und übt im Stehen einen synchronen Stechschritt. Der Kopf wird abwechselnd nach links und rechts gedreht. Dann setzt sich die Gruppe in Bewegung.
  • Gehvariation: Verschiedene Alterstypen, Untergründe oder Gehstile werden ausprobiert.
  • Seiltänzer: Die Spielenden treten im Schnürgang gegeneinander an, bei dem ein Fuß direkt vor den nächsten gesetzt wird.
  • Gehschlange. Das Ensemble geht im Gänsemarsch, der Vorderste gibt den Gehstil vor.
  • Entgegengehen: Zwei Spielende stehen Rücken an Rücken. Dann gehen sie bis zum Ertönen des Signals blind nach vorne, drehen sich um und gehen einander wieder entgegen.
  • Siamesischer Zwilling: Die Spielenden gehen so, als ob sie an einer Stelle zusammengewachsen wären.
  • Labyrinth: Die Spielenden bewegen sich auf einem vom Spielleiter mit Kreide geklebten Labyrinth und versuchen den Abstand zu halten.
  • Punktegehen: Alle Spielenden markieren ihren Standpunkt. Das Ensemble steht und beobachtet einander. Wenn genug Blicke getauscht sind, geht jeder zu einem neuen Punkt.
  • Gegengehen: Zwei Spielende stehen einander gegenüber. Ein Spielender läuft vorwärts, einer rückwärts. Dabei müssen die Beine eng aneinander geführt werden.
  • Gehen zu Musik: Lieder zum Thema Gehen werden gespielt. Jeder improvisiert dazu eine Art des Gehens.

Bibliographie

  • Jung, Thomas: Homo viator: Vom Gehen und von den Gehenden. Berlin: sine causa, 2020
  • Holzheimer, Gerd: Wanderer Mensch: Studien zu einer Poetik des Gehens in der Literatur. München: Literatur in Bayern, 1999 (Kulturgeschichtliche Forschungen; 25)
  • O’Mara, Shane: Das Glück des Gehens: Was die Wissenschaft darüber weiß und warum es uns so guttut. Hamburg: Rowohlt, April 2020
  • Sauer, Christian: Draußen gehen: Inspiration und Gelassenheit im Dialog mit der Natur. Mainz: Verlag Hermann Schmidt, 2019
  • Kagge, Erling: Gehen. Weiter gehen: Eine Anleitung. Berlin: Insel Verlag, 2020
  • Le Breton, David: Lob des Gehens. Berlin: Matthes & Seitz, 2019 (Matthes & Seitz Berlin Paperback; 016)
  • Weisshaar, Bertram: Einfach losgehen: Vom Spazieren, Streunen, Wandern und vom Denkengehen. Köln: Eichborn, 2018
  • Mayer, Andreas: Wissenschaft vom Gehen: Die Erforschung der Bewegung im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2013
  • Wendler, Detlef: Vom Glück des Gehens: Ein Weg zur Lebenskunst. München: Claudius, 2010
  • König, Johann-Günther: Zu Fuß: Eine Geschichte des Gehens. Stuttgart: Reclam, 2013 (Reclam Taschenbuch;20297)
  • Solnit, Rebecca: Wanderlust: Eine Geschichte des Gehens. Berlin: Matthes & Seitz, 2019
  • Gros, Frédéric: Unterwegs: Eine kleine Philosophie des Gehens. München: Riemann-Verl., 2010
  • Thoreau, Henry David: Vom Wandern. Ditzingen: Reclam, 2019
  • Mumot, André: Irrwege zum Ich: Eine kleine Literaturgeschichte des Gehens. Marburg: Tectum-Verlag, 2008