All the World’s a Stage: Literatur und Theater

Erster Akt, erste Szene: „Soso, ihr seid der Literatur- und Theaterkurs! Soso, ihr wollt schauspielern.“ Ich weiß nicht mehr genau, was ich gesagt habe, damals, in der allerersten Stunde meines allerersten Theaterkurses. Ich dachte nur: Du Hochstapler! Du Seiltänzer! Das dürfen sie nicht merken! --- Soll ich ehrlich sein? So kommt einer wie ich zum Theater.

Ich unterrichte fachfremd, wie viele andere Lehrer auch. Wer fachfremd unterrichtet, hat keine formale Ausbildung absolviert für sein Fach. Natürlich kann man Theaterpädagogik studieren. Nur: Üblicherweise beschäftigt ein Wald- und Wiesen-Gymnasium wie unseres keine Theaterpädagogen. Man könnte auch eine Fortbildung machen; oder sogar mehrere. Das habe ich nicht getan. Stolz bin ich nicht auf meine Stümperei. Aber – es geht auch so!

Man braucht für gutes Theater keine Bühne, wie sie einige Schulen besitzen, mit Deckenstrahlern und samtenen Vorhängen. Man braucht keine Probenwochen, kein Bergfest, keinen Spielplan. Alles Humbug, alles Firlefanz. Wir machen auf Grotowski. Armes Theater. Nicht, weil wir es so wollten. Nein, weil es anders nicht geht, in unserer Kleinstadtwelt.

Erste Stunde, also. Sie sitzen in den hintersten Reihen. Einige kenne ich noch, aus der Mittelstufe. Zwölf Mädels, zwei Jungs. Große Augen, zaghafte Münder. Tische als schützende Barrieren. Bambi-Augen, aus denen mir ein zaghaftes „Bitte nicht!“ entgegenleuchtet. Das könnte eine Herausforderung werden. Einfach anfangen?

 „Okay. Legt euch auf die Tische. Ja, so!“ - Sie sehen mich irritiert an. Offenbar hatten sie tatsächlich gehofft, ich würde ihren Grenzwall akzeptieren. Dann gibt sich der Kurs mehr oder minder kollektiv einen Ruck. Sie schieben sich auf die Tische. Sie liegen. Es wird still. Naja, bis auf mich. Ich bringe dem Kurs Bauchatmung bei. Luft einholen – sich ihrer entladen. Die Hand auf zukunftsfrohen Jugendbäuchen hebt und senkt sich im ruhigen Rhythmus des Atems.

Inmitten der Pandemie durften wir erst gar nicht, dann nur mit Maske spielen. Man darf sagen: Die Begrenzung hat uns frei gemacht. Was haben wir nicht alles ausprobiert in zwei kurzen Schuljahren! Wir haben gehechelt, sind gehüpft, haben Lösch-Chöre gesprochen und gespielt mit unsichtbaren Requisiten. Wir haben die Augen gerollt wie im Kathakali und sind gestolpert wie Clowns. Ich habe Bekanntschaft gemacht mit Augusto Boal und Konstantin Stanislawski; ich stand mit meinen Schülern auf italienischen Stegreifbühnen und im Cabaret Voltaire.

Ich glaube nicht, dass man ernsthaft Theater spielen kann, ohne sich tiefgreifend zu wandeln. Und mein Kurs hat sich gewandelt; jeder für sich, alle zusammen. Bemerkenswert: Nach wenigen Stunden haben sie einander vertraut. Und was noch erstaunlicher war: Sie haben mir vertraut. Ich konnte mir selbst die verwegensten Exerzitien ausdenken – und wurde kein einziges Mal enttäuscht. Offenbar war ihnen bald klar, dass der Thespiskarren kein allzu komfortables Gefährt ist. Es war ihnen ernst mit dem Spaß. Lass machen. Lass spielen.

An dieser Stelle sollte ich wohl erläutern, nachholend, was Literatur und Theater ist. LiT oder LuT (die Wahl der Abkürzung ist Geschmackssache) ist ein Beifach der Oberstufe, ein musisch-literarisches. Zwei magere Stunden die Woche müssen reichen für eine grundlegende Wandlung des eigenen Ichs. Anscheinend „leistet es“, so befindet der Bildungsplan, „einen Beitrag zur kulturellen Bildung“. Soweit die Theorie! In der Praxis ist Literatur und Theater etwas anderes. Hier veratmet man Matheklausuren. Hier entdeckt man sich selbst – und kommt anderen näher. Manchmal – hautnah. Man macht sich frei.

Denn ohne Freiheit ist alles nichts. Es kann schon sein, dass Regisseure zuweilen Despoten sind. Aber im Umgang mit Schülern darf es Zwang nicht geben – nicht im Schauspiel; Zwang erfahren sie schon genug. Jeder muss sich selbst aufmachen. Die Landschaft der eigenen Seele erkunden, mit den Sternen in Blick. Schon deshalb ergänzt LiT die beliebten Orchideenfächer Astronomie und Psychologie. Der Weg zum Ich ist steinig jedoch und lang. Und zur Rolle geht es noch einmal doppelt so weit. Aber geht man nicht leichter, wenn man seine Kräfte kennt und seine Grenzen?

Für Schulen sind Theater-Ensembles beste Werbemittel. Womit lockt man besser das Publikum als mit dem fiebrigen Glanz im Auge, das die Bühne beschert? Aber darum geht es nicht, darum darf es nicht gehen. Große Theatermacher haben bei ihrer Arbeit nie auf Premieren geschielt. Applaus? Unnötig! Am wichtigsten im Schauspiel, erst recht im Schultheater, ist Selbsterkundung – die eigene Stimme spüren, dem eigenen Atem folgen; die Möglichkeiten des Körpers empfinden, von der Geste zur Gebärde kommen.

Irgendwann: Praktisches Abitur. Fast unwesentlich ist es geworden. Aber nun gilt’s. Gottlob wählt nur ein Bruchteil der Schüler Literatur und Theater als Prüfungsfach. Die es dennoch tun, sollen glänzen. Lektüre wird annonciert, Aufgaben werden erstellt, die Fremdprüferin kündigt sich an. Ab jetzt bist du auf dich gestellt. Du – und der Text. Du – und das Requisit. Du – und die Bühne. Dann ist es soweit: Zehn Minuten, die sich anfühlen wie zwanzig. Lampenfieber, Ohrenrauschen, Herzgeschmetter! Du stehst neben dir, schaust zu, wie du jemanden spielst, der jemanden spielt, der Lenau spielt. Als es vorbei ist, hörst du die Frage nur halb, erklärst aber dennoch dein Bühnenkonzept. Mit etwas Glück: All’s well, that ends well. Die theoretische Prüfung, zwei Monate später, ist keine Herausforderung mehr. Brecht? Dürrenmatt? Stanislawski? Pah! Kein Problem!

Das Schöne am Schultheater ist die wunderbare Gelegenheit, verborgene Worte wiederzuentdecken, Bilder auf die Bühne zu bringen, von denen man dachte, sie wären verloren. Natürlich darf man Klassiker spielen, Oscar Wilde, Shakespeare, Faust, man soll es sogar. Aber es gibt viel in unmittelbarer Nähe, das uns Schulen dringender braucht.

Ein Beispiel? Letzte Klausur, Alte Kelter, örtliche Laienbühne. Kein Publikum, so war es verabredet. Der Kurs spielt nur für sich. Dennoch: Im Halbdunkel flattern die Nerven. Tim gibt Ernst Wagner, den Amokläufer, schockierend mit sich selbst befasst, in der Zwangsjacke seine Standeskollegen verhöhnend. In Juliet wird Ilse lebendig, die Fabrikarbeiterin, die ihrem französischen Liebhaber Jean ihre Angst gesteht vor der Entdeckung durch die Gestapo. Leons Lenau lässt eine Flasche über die Bühne rollen: ’s ist eitel nichts, wohin mein Aug ich hefte! Und in Jaskins Augen verglimmt im Dunkel der Nacht die letzte Sehnsucht des Soldaten Ernst Schnizler, bevor er am folgenden Tag in den Vogesen fällt. Nichts von alledem ist fürs Theater geschrieben. Es ist gespieltes Leben.

Die Möglichkeiten eines Theaterkurses sind faszinierend. Man reist mit dem Requisit in die Ferne, lernt alles umdeuten. Man lernt, nichts in Frage zu stellen, um eigene Fragen zu hören. Du bist Hamlet, Antigone, Faust. Du kannst fliegen, sterben, auferstehen. Du spürst Worte wie Sterne in deine Brust fallen – und plötzlich weinst du. Solche Verzauberung ist allerdings selten. Die Sachlichkeit des Mobiliars lässt nicht zu, dass man sich fallen lässt. Die Blicke der Anderen, die Hemmnisse, die uns das eigene Ich in den Weg stellt. Und immer: Nach neunzig Minuten ist alles vorbei.

Fünfter Akt. Soviel steht fest: Applaus wird es hier kaum geben. Das Abitur entlässt das Ensemble ins Leben. Auch wenn sie nie auf einer Bühne stehen, werden sie ums Schauspielern trotzdem nie ganz herumkommen. Im besten Fall haben sie gelernt, im Wandel der Kulissen bei sich selbst zu bleiben. Im großen Historienstück der Zeitgeschichte spielen die allermeisten nur bescheidene Nebenrollen – aber in den bunten Tragikomödien unseres Lebens sind wir die Protagonisten. Wenn wir abgehen, eines Tages, wenn der letzte Vorhang fällt, dann werden wir die allerletzten Monologe verpassen. Aber seien wir nicht allzu traurig! All the world’s a stage, and we are more than players.