Hermann Hesse in Winnenthal

Bild: Photographie des jungen Hermann Hesse

Hermann Hesse: Zur Vorgeschichte

Als der 14-Jährige Hermann Hesse aus dem Klosterseminar Maulbronn flieht, empfiehlt Hausarzt Georg Zahn die Einweisung in eine Nervenheilanstalt. Zunächst versuchen es die Eltern mit ihrem Glaubensbruder Blumhardt in Bad Boll, der versucht, seelische Störungen durch Gebete und Exerzitien zu kurieren. Doch als sich Hesse dort nach einer unglücklichen Liebe zu einer älteren Frau mit einem Revolver umbringen will, wird er in die Heil- und Pflegeanstalt Stetten im Remstal gebracht. Dort will sich Anstaltsarzt Habermaas nicht recht festlegen: Leidet Hesse an „primärer Verrücktheit“ oder nur an „moral insanity“? Auch der Stettener Pfarrer Schall scheint die Zweifel zu des Anstaltsarzts zu teilen. Jedenfalls wendet er sich später an Obermedizinalrat Dr. Ernst Zeller in Winnenthal und gibt zu bedenken: „Ist die Diagnose ‚primäre Verrücktheit‘ richtig, so gibt es oft allerdings zur Zeit der Pubertät einen Stillstand. Ich gebe zu, dass manche Erscheinungen bei ihm dafür sprechen. Aber auf der anderen Seite spricht auch manches dagegen. Vorerst möchte ich doch an moral insanity festhalten – und diese ist heilbar“ (Balcar, S. 70). Hesse sieht sich jedoch weder als verrückt noch als schwachsinnig. Voller Bitterkeit beschwert er sich bei seinem Vater über die Umstände seines Aufenthalts in Stetten. In einem verstörenden Briefwechsel bittet Hesse seinen Vater erneut um eine Pistole. Der Vater gibt nach. Hesse wird entlassen, nimmt Abschied von Stetten und zieht zu Pfarrer Pfister nach Basel. Als er am 4.11.1892 aus der Schweiz zurückkehrt, schreibt der junge Hesse sich am Gymnasium in Bad Cannstatt ein. Es geht nicht lange gut.

Zur Diagnose bei Ernst Zeller in Winnenthal

Die Familie des Präzeptors Geiger in Bad Cannstatt, wo Hesse untergebracht ist, klagt gegenüber Johannes Hesse bald über das problematische Freizeitverhalten des Sohnes. Er sei renitent, verkaufe seine Schulbücher und trinke. Als Hesse erklärt, ein Revolver liege vor ihm, fährt die verzweifelte Marie Hesse nach Cannstatt. Hesse empfängt sie abweisend, die besorgte Mutter kehrt unverrichteter Dinge zurück nach Calw. Nun muss der Vater handeln. Am 15.10. wird Hermann nach Calw zurückgeholt. Schon am 25.10. unterschreibt Hesse einen Ausbildungsvertrag als Lehrling der Buchhandlung S. Mayer in Esslingen. Nach nur fünf Tagen verschwindet Hesse und schlüpft bei Stuttgarter Verwandten unter. Johannes Hesse hat nun endgültig genug und setzt sich mit Dr. Zeller in Verbindung, dem Sohn Albert Zellers, Direktor der Heilanstalt in Winnenthal und Vertreter der Einheitspsychose. „Mein Sohn Herrmann ist 16 ½ Jahr alt, scheint an ‚moral insanity‘ zu leiden“, schreibt Johannes Hesse, „Wir wissen nicht wohin mit ihm.“ Und: „Ich hoffe, morgen mit ihm nach Winnenthal zu kommen im Gedanken, daß Sie ihn dann vielleicht zur Beobachtung dort behalten.“ Am 2.11.1893 bringt Hesse seinen Sohn zur Untersuchung seines Geisteszustands nach Winnenden. Medizinalrat Zeller jedoch lehnt eine Aufnahme in seine Anstalt Winnenthal jedoch ab. Er empfiehlt Zurückhaltung, es handle sich um eine pubertäre Krise, man möge den Jungen nicht in eine Berufslaufbahn drängen, sonst drohe eine dauernde Geistesstörung. Johannes Hesse erschrickt und folgt Zellers Empfehlung, Hermann solle eine Zeitlang in Calw bleiben. Noch am selben Abend kehren Vater und Sohn Hesse nach Hause zurück. Am 5. Juni 1894 bewirbt er sich bei der Calwer Turmuhrfabrik Perrot. Schriftstellerisch geht es für Hesse erst 1904 mit dem „Peter Camenzind“ aufwärts. Seine Eigenwilligkeit jedoch und die Melancholie, die ihn nach Winnenden gebracht hat, legt er lebenslang nicht ab.

Klein und Wagner

Nach einer schweren Krise im Jahr 1916 wird Hesse psychiatrisch behandelt. 1917 entsteht der Demian, im Frühling und Sommer 1919 folgt die Novelle Klein und Wagner. Dass Hesse schon 1913 Wagners Tat durch die Presse erfahren hat, ist wahrscheinlich - der Fall hat die Öffentlichkeit besonders aufgewühlt. Möglicherweise hat ihm auch der Philosoph Christoph Schrempf davon berichtet, dem Wagner einen seiner Abschiedsbriefe schickte. Die Handlung von Klein und Wagner ist schnell erzählt: Der Beamte Friedrich Klein, erfasst von tiefer Verunsicherung, hat seine Familie verlassen. In einem „Hotel Milano“ irgendwo in Italien nimmt er sich ein Hotelzimmer. Unruhig schläft er ein, um wenige Stunden darauf wieder zu erwachen:

„Plötzlich fand er den Namen ‚Wagner‘ auf seinen Lippen. Wie bewußtlos sprach er ihn aus: ‚Wagner – Wagner.‘ Wo kam der Name her? Aus welchem Schacht? Was wollte er? Wer war Wagner? Wagner? Er biß sich an dem Namen fest. Er hatte eine Aufgabe, ein Problem, das war besser als dies Hangen im Gestaltlosen. Also: Wer ist Wagner? Was geht mich Wagner an? […] Wagner – so hieß jener Unheimliche, jener wahnsinnige Verbrecher, der seine ganze Familie umgebracht hatte. War nicht mit diesem Wagner irgendwie sein ganzes Leben verknüpft gewesen? Hatte nicht dieser üble Schatten ihn überall verfolgt? Nun, Gott sei Dank, der Faden war wieder gefunden. Ja, und über diesen Wagner hatte er einst, in langvergangener besserer Zeit, sehr zornig und empört gescholten und ihm die grausamsten Strafen gewünscht. Und doch hatte er später selber, ohne mehr an Wagner zu denken, denselben Gedanken gehabt und hatte mehrmals in einer Art von Vision sich selber gesehen, wie er seine Frau und seine Kinder ums Leben brachte. Und war denn das nicht eigentlich sehr verständlich? War es nicht richtig? Konnte man nicht sehr leicht dahin kommen, daß die Verantwortung für das Dasein von Kindern einem unerträglich wurde, ebenso unerträglich wie das eigene Wesen und Dasein, das man nur als Irrtum, nur als Schuld und Qual empfand?“ (S. 225 f.)

Klein wird von Todesbildern heimgesucht, beschließt aber zu leben und taucht tief in den Zauber des Südens ein. Eine rätselhafte Frau tritt in sein Leben. Schließlich ertrinkt er bei einer Ausfahrt auf einem See. Wie sein Protagonist Friedrich Klein verlässt Hesse im selben Jahr ebenfalls seine Familie und flieht in den Süden, ins Tessin. Weitere Parallelen sind offenkundig.

Quellen

  • Neuzner, Bernd; Brandstätter, Horst: Wagner: Lehrer, Dichter, Massenmörder. Frankfurt am Main: Eichborn, 1996 (Die Andere Bibliothek; 143)
  • Balcar, Nina: Kinderseelenforscher: „Psychopathische“ Schuljugend zwischen Pädagogik und Psychiatrie. Wien e. a. l.: Böhlau, 2018 (Beiträge zur Historischen Bildungsforschung; 51)