Dramaturgie im Theater

Spricht man von der Dramaturgie eines Stücks, dann meint man die Anlage der Handlungsbögen. Sie unterscheiden sich von Genre zu Genre, je nach den ästhetischen Forderungen der Epoche oder den künstlerischen Überzeugungen des Autors.

Warum Dramaturgie?

Dramaturgisches Wissen ist in vielerlei Hinsicht hilfreich:

  • Viele Handlungen im Alltag (insbesondere Veranstaltungen) folgen einer bestimmten Dramaturgie. Die Beschäftigung mit dramaturgischen Konzepten kann helfen, seine Fähigkeiten bei der Planung zu optimieren;
  • Die Beschäftigung mit Dramaturgie schult den Blick für dramaturgische Strukturen in Film, Werbung und Roman – dort dominiert durch den Einfluss der großen Medienhäuser eine konsumentenorientierte Dramaturgie.

Die Entwicklung der Dramaturgie

Die erste dramaturgische Schrift von Bedeutung ist die Poetik des Aristoteles (335 v. u. Z.), die das dramaurgische Wissen der Zeit grob zusammenfasst und die Vorlage abgibt zur Konzeption des geschlossenen Dramas. Der Begriff stammt jedoch von Gotthold Lessing, der ihn in seiner Hamburgischen Dramaturgie verwendet (1767-1769). Aristoteles‘ Modell des geschlossenen Dramas wird zwar durch Shakespeare und die Stürmer und Dränger aufgebrochen und in Frage gestellt, wird im Wesentlichen jedoch beibehalten.

Das gilt nicht für andere aristotelische Regeln: Die Ständeklausel wird bereits in den Dramen William Shakespeares aufgebrochen, ebenso das Verbot einer Vermischung des Tragischen mit dem Komischen und des Blankverses mit Prosa.

Eine Orientierung am klassischen Dramenmodell fordern die französischen Klassizisten um Nicolas Boileau (L’art poétique, 1674), insbesondere Pierre Corneille und Jean Racine. Die Einheiten von Ort, Zeit und Handlung werden beibehalten, die Handlung entwickelt sich symmetrisch, die Handlung gibt die Entwicklung der Figuren vor, was auf der Bühne geschieht, soll schicklich und folgerichtig sein. Dieser Strömung schließt sich in Deutschland Gottsched an, dessen Ideen seine Frau Caroline Neuber mit ihrer Truppe popularisiert.

An Shakespeare orientiert sich die Genieästhetik der Stürmer und Dränger an, die überlieferte Regeln brechen. Beispielhaft seien Johann Gottfried Herders Von deutscher Art und Kunst (1773) und Jakob Michael Reinhold Lenz’ Anmerkungen über das Theater (1774) genannt. Die Romantiker (A. W. Schlegel, Ludwig Tieck) schließen sich an.

Eine radikale Abkehr von den poetischen Konzepten des 19. Jahrhunderts markiert die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert. Die Naturalisten orientieren nun nicht mehr die Wirklichkeit des Stücks an der Dramaturgie, sondern folgen in ihrer Dramaturgie der beobachtbaren Realität. Die Dramen entwickeln sich nun analytisch, die geschlossene Dramenform öffnet sich zu einer losen Folge von Einzelbildern, zeigen die soziale Wirklichkeit, verwenden neben dem Sekundenstil auch Umgangssprache und umfangreiche Regieanweisungen. Einakter werden populär.

Die Expressionisten radikalisieren die Impulse der Naturalisten. Im Vordergrund steht nun nicht mehr die Handlung und die Figurenentwicklung, sondern das expressive Aussagen innerer Wirklichkeiten und Stimmungen. Der Dialog wird aufgewertet, auf der Bühne sind neben langen Monologen zunehmend freie Gebärde, Tanz und Pantomime zu sehen. Die Sprache löst sich von der Vorgabe, lediglich Vehikel für die Übertragung von Gedanken zu sein.

Das epische Theater Bertolt Brechts führt diese Ansätze weiter. Das nichtaristotelische Drama soll nicht berühren, sondern zur Reflexion einladen, nicht zur Identifikation verführen, sondern zur Distanzierung bewegen. Deshalb bevorzugt Brecht das Bauprinzip der Montage und setzt auf Verfremdungseffekte. Schauspieler treten aus der Rolle und verhindern den Aufbau von Spannungsbögen. Der Schluss des Dramas bleibt offen: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen“ (Der gute Mensch von Sezuan, Epilog).

Was Brecht für die Auflösung der äußeren Form leistet, leisten die Dadaisten und das absurde Theater Eugène Ionescos und Samuel Beckets für die innere Struktur. Ordnungsprinzipien wie psychologische Wahrscheinlichkeit und ein übergeordneter Sinn werden aufgegeben, stattdessen dominiert das Ritual. Die Figurenzeichnung öffnet sich und verzichtet auf klare Konturen. Dialoge entwickeln sich nicht mehr klar auf ein Ziel hin, sondern liefern Versatzstücke einer als komplex erfahrenen Wirklichkeit.

Der vorerst letzte Schritt in der Entwicklung der Dramaturgie im postdramatischen Theater ist die Aufgabe der Autorschaft zugunsten des Kollektivs und des Werks zugunsten des Prozesses. Zunehmend beeinflusst ist die Dramaturgie im 21. Jahrhundert durch die Dominanz des Films und den Aufstieg neuer Medien, die zu einer Demokratisierung des künstlerischen Prozesses führen. 

Grundmodelle

Nach einer grundlegenden Einteilung durch Volker Klotz (Geschlossene und offene Form im Drama, 1959) unterscheidet man:

Geschlossene Dramaturgie: Das Stück folgt im Wesentlichen den Handlungsvorgaben des aristotelischen Dramas: Auf eine Exposition folgen Peripetie und Katastrophe oder Happy End; alle Handlungsbögen werden konsequent weiterentwickelt und zum Schluss zusammengeführt. Die im deutschsprachigen Raum maßgebliche begriffliche Einteilung des klassischen Dramas in fünf Akte mit den dazugehörenden Szenen stammt von Gustav Freytag (Die Technik des Dramas, 1863).

Offene Dramaturgie: Bei einer offenen Dramaturgie wird der Handlungsverlauf nicht streng linear entwickelt; an die Stelle der Einteilung in Akte und Szenen kann eine lockere Handlungsentwicklung von Szenen und Tableaus treten.

Handlungsentwicklung im geschlossenen Drama

Üblicherweise setzt das Stück mit einer Exposition ein: Das Publikum lernt die maßgeblichen Handlungsträger kenne, macht sich mit dem Ort und den Umständen der Handlung vertraut.

Im zweiten Akt, der steigenden Handlung, wird deutlich, welche Ziele die Figuren verfolgen. Ihre Interessen prallen aufeinander und lösen einen Konflikt aus.

Auf dem Höhepunkt des Dramas folgt in der Regel eine Entdeckung (oder Anagnorisis), die eine Schicksalswende (oder Peripetie) auslöst: Der Konflikt spitzt sich zu.

In der fallenden Handlung greifen nun unerwartet andere Kräfte in die Handlung ein (das retardierende Moment): Die Lösung verzögert sich.

Am Ende ist der Konflikt gelöst, so oder so: Es kommt zu Happy End oder Katastrophe.

Komposition

Für die Binnengliederung der dramatischen Struktur gibt es folgende Kompositionsprinzipien:

Bruch

Der Handlungsgang bricht ab oder wird unterbrochen oder anders fortgesetzt als vorausgedacht. Musterbeispiele für kalkulierte Brüche, die das Publikum zum Denken bringen sollen, sind Brechts V-Effekte.

  • Eine Figur tritt aus der Rolle.
  • Eine Figur wendet sich plötzlich ans Publikum.
  • Schauspieler erheben sich im Publikum und spielen dort.
  • Eine Figur tritt zu einem Monolog an und fängt plötzlich an zu singen.
  • Ein Ballsaal voller Tänzer mit Rokokokostümen tanzt plötzlich Rock’n’Roll.
  • Das Licht geht plötzlich aus.
  • Die Kulissen fallen um, darunter verbirgt sich eine gänzlich andere Szene.

Parallelmontage

Bei einer parallelen Bauweise werden zwei Elemente synchron oder alternierend angeboten.

  • Szenen mit dem Helden wechseln mit Szenen des Schurken.
  • Held und Schurke stehen auf der Bühne und tun zeitgleich dasselbe.
  • Die Bühne ist geteilt. Zwei Handlungsfiguren werden in dem, was sie tun, synchron gezeigt.
  • Dunkle Szenen wechseln mit hellen, laute mit leisen.

Reihung

Eine Reihung veranschaulicht verschiedene Möglichkeiten, indem sie Handlungs- oder Inszenierungselemente in eine thematische Folge bringt.

  • Mehrere Figuren treten nacheinander auf und geraten in dieselbe Situation.
  • Mehrere Figuren tun nacheinander auf der Bühne dasselbe (machen z. B. eine bestimmte Geste).
  • Die Darsteller stellen sich auf der Bühne in eine Reihe.
  • Alle Szenen des Stücks beginnen mit demselben Handlungselement, aus dem sich die Lage entwickelt.

Kontrast

Kontraste auf der Bühne schaffen Spannung, helfen aber auch, die Gegensätzlichkeit zweier Elemente stärker herauszuarbeiten. Kontraste schaffen Dynamik, können aber auch komisch wirken.

  • Kontraste können äußerlich oder charakterlich zwischen zwei Figuren bestehen.
  • Kontraste können aber auch durch gegensätzliches Verhalten ein und derselben Figur in verschiedenen Situationen oder Szenen entstehen.
  • Tempounterschiede können ebenfalls Kontraste bilden: Einer langsamen folgt eine schnelle Szene.
  • Häufig sind auch visuelle Kontraste, die durch Farbcodes und Beleuchtungen getragen werden – innerhalb einer Szene der zwischen zwei Szenen.
  • Leise und laute Szenen können kontrastieren.

Steigerung

Steigerungen können beliebig viele Stufen haben. Dreistufig sind Klimax und Antiklimax. Eine Klimax baut Handlungselemente so auf, dass ihr Gewicht oder Dynamik zunimmt. Nimmt Spannung oder Intensität ab, spricht man von Antiklimax.

  • Die Dynamik des Bühnengeschehens nimmt zu.
  • Die Handlungen der Bühnenfiguren werden immer drastischer.
  • Die Bühne wird im Verlauf der Handlung immer heller oder bunter.
  • Die Lautstärke der Szenen nimmt zu.

Verdichtung

Werden Szenen verdichtet, dann treffen viele Schlüsselmotive oder Figuren zusammen - das schafft Dynamik und Spannung.

  • Wichtige Motive eines Stücks werden in einer Szene zusammengeführt.
  • Die zentralen Handlungsträger treffen in einer Ensembleszene zusammen.
  • Figuren werden auf engem Raum zusammengedrängt.
  • Ein Zeitlimit muss eingehalten werden.
  • Themen des Stücks werden in einer symbolischen Handlung verwoben.

Variation

Bei der Variation wird nicht wiederholt, sondern abgewandelt, um so die Komplexität einer Figur oder Situation hervorzuheben

  • Eine Figur versucht ihr Ziel auf verschiedene Weise zu erlangen
  • Einer Figur widerfährt dieselbe Sache in mehrerlei Weise (wie in „Täglich grüßt das Murmeltier“ mit Bill Murray)
  • Derselbe Text wird in unterschiedlicher Weise gesprochen.
  • Dieselbe wird unterschiedlich beleuchtet.

Wandlung

Die Wandlung oder Umkehrung erscheint in antiken Dramen oft als Schicksalswende oder Peripetie – was sich zunächst so darstellt, erscheint später anders. Häufig ist es die Einsicht (Anagnorisis), die zur Handlungsumkehr beiträgt.

  • Ein Konflikt löst sich in Wohlgefallen auf – oder Harmonie wird Zerwürfnis.
  • Ein verstockter Bösewicht wird geläutert – oder ein Held offenbart sich als Schurke.
  • Aus einem sanften Song wird ein federnder Marsch – oder umgekehrt.
  • Aus einer hellen Sommerstimmung wird kaltes Winterlicht, das wieder ins Frühlingshafte umschlägt.
  • Eine Waldlandschaft wird in eine Stadtszene überführt.

Wiederholung

Wiederholungen innerhalb eines Stücks können Schlüsselmomente des Dramas hervorheben oder durch die Wiederholung des Gleichen Änderungen sichtbar zu machen.

  • Einzelne Handlungselemente werden wiederholt oder bei der Wiederholung variiert (z. B. am Ende wird der Anfang wieder aufgenommen)
  • Einzelne Strukturelemente (z. B. Zwischenspiel, Chor) wird wiederholt
  • Rollentext wird (mehrfach) wiederholt
  • Akustische Elemente begleiten leitmotivisch immer dasselbe Element des Stücks
  • Visuelle Elemente werden wiederholt (z. B. Requisiten, Beleuchtung)

Bibliographie

  • Wiese, Benno von (Hg.): Deutsche Dramaturgie, Bd. 3: Deutsche Dramaturgie vom Naturalismus bis zur Gegenwart. Tübingen: Niemeyer, 1970 (Deutsche Texte; 15)
  • Stegemann, Bernd: Dramaturgie. Berlin: Verl. Theater der Zeit, 2009 (Lektionen; 1)
  • Mothes, Ulla: Dramaturgie für Spielfilm, Hörspiel und Feature. Konstanz: UVK Verl.-Ges., 2001 (Praxis Film; 1)
  • Eschke, Gunther: Bleiben Sie dran! Dramaturgie von TV-Serien. Köln: Herbert von Halem Verlag, 2018 (2. Aufl.)
  • Hacks, Peter: Das Poetische: Ansätze zu einer postrevolutionären Dramaturgie. Hamburg: Ed. Nautilus, 2001
  • Meyer, Petra Maria: Intermediale Dramaturgie: Fallbeispiele aus Theater, Tanz, Film und Video. Paderborn: Brill / Wilhelm Fink, 2020
  • Hasche, Christa; Kalisch, Eleonore; Weber, Thomas (Hgg.): Der dramaturgische Blick: Potenziale und Modelle von Dramaturgie im Medienwandel. Berlin: Avinus Verl., 2014