Schule und Homophobie

Hundertzwanzig Namen. Hundertzwanzig Persönlichkeiten. Hundertzwanzig Menschen, und drei oder vier passen nicht ins heteronormative Schema. Drei oder vier? Vermutlich! Genau weiß ich es nicht, ich kann es nur ableiten aus den Befunden des Robert-Koch-Instituts. Würdest du deinem Klassenlehrer erzählen, dass du schwul bist, oder lesbisch, oder trans? Na also! Ein Coming-Out ist riskant, immer noch.

Homophobie ist überaus verbreitet an Schulen; so sehr, dass manche sogar das Grundgesetz auf den Kopf stellen, nur, um nicht in den Ruch zu kommen, man toleriere Homosexualität. Ich habe an einer Schule unterrichtet, an der man beim Demokratie-Planspiel das Standesamt schloss, weil Jungs ihre Kumpels heirateten und Mädchen ihre besten Freundinnen. Der Fall führte zu transatlantischem Kopfschütteln.

Natürlich wird niemand mehr hingerichtet, der nach herrschender Meinung falsch geliebt hat. Man muss keine Pillen schlucken gegen verderbliche Neigungen, ins Gefängnis kommt man auch nicht mehr. Zumindest nicht in Deutschland. Es gibt schwule Politiker, Pfarrer und Fußballspieler. Es gibt schwule Lehrer und lesbische Lehrerinnen, und das ist gut so. Jugendliche müssen lernen, dass sich Menschlichkeit nicht in Normwerten ausdrückt. Die Individualisierung hat auch ihr Gutes – wenn alle verschieden sind, ist keiner mehr anders.

Es ist also besser geworden. Aber noch gibt es sie: Schmallippige Fundamentalist*innen, die sich aus ihrer Norm eine Normalität basteln, an der sie alle anderen messen. Wer sich dieser Normalität nicht fügt, rüttelt an den Grundfesten ihrer Identität. Überhaupt: Warum hat die Normalität einen so guten Ruf? Jahrhundertelang wurden Menschen gedemütigt, herumgezeigt, bezichtigt, gehängt – nur, weil sie nicht der Norm entsprachen, weil sie ein bisschen zu groß, ein wenig zu dunkel, etwas verrückt oder einfach nur eigensinnig waren.

Das unermessliche Leid, das Menschen erlitten, die früher vom bürgerlichen Sexualkanon abwichen, ist hinreichend dokumentiert. Wir kennen die Lebensgeschichten von Oscar Wilde und Alan Turing, wir wissen, was Leibfeindlichkeit und Normierungsdruck anrichten. Dennoch: Mit dem Kindeswohl vor Augen (und einem soliden Brett vor dem Kopf) erklären uns erzkonservative Familienapokalyptiker, die „Pädagogik der Vielfalt“ sei eine Verschwörung: Man habe sich aufgeschwungen, den Lauf der Natur zu verändern. Immer wieder heißt es, akzeptierende Sexualerziehung mache Jungs schwul und Mädchen lesbisch. Sie kehre Normalität unter den Tisch. Sie sexualisiere Kinder. Sie begünstige Übergriffe. Homosexualität sei – heilbar.

Was für ein ausgemachter Quatsch. Was hier geschieht, ist uns allen wohlbekannt: Die Mehrheit fühlt sich durch die bloße Existenz des Anderen bedroht, herausgefordert durch ein vermeintliches Anderssein, das der Minderheit oft genug als Stigma aufgezwungen wird. Niemand möchte schamlos sexualisiert werden – es sind die selbsterklärten Normalen, die immerfort über Geschlechter reden, nicht über Persönlichkeiten. Wir müssen nicht immerfort alle lieben, aber wir sollten es niemandem schwer machen, sich selbst zu lieben. Letztlich geht es darum, das Selbstverständliche zu tun: Menschen anzuerkennen; ihre Normalität nicht in Frage zu stellen.

Einige meiner Schulkameraden waren schwul. Ihnen hat man ziemlich zugesetzt. Auf dem Jungsklo, beispielsweise, lagen Heftchen einer Missionsgesellschaft aus. Plot: Zwei Jungs lernen einander kennen. Ein Junge wird vom anderen verführt. Der erste scheue Kuss führt geradewegs in die Hölle. Der andere, das war der Teufel. Zweifellos: schlimm. Aber wie heiß ist manchem die Hölle schon im Diesseits? Wer kann ermessen, wie viel Leid starre Geschlechterrollen ausgelöst haben? Wer zählt die Opfer von transphobem und homophobem Hass?

In den Medien gab es keine Vorbilder, damals. Schwulsein – das hieß: Federboa, AIDS und Leder. Und vielleicht die Village People. Der Kings Club. Außerhalb der Szene sprach man nicht über Homosexualität, geschweige denn, dass man Transsexuellen oder Intersexuellen das Wort erteilt hätte. Was heute Identitäten prägt, wurde früher klassifiziert. Nach ICD-10. Psychiatrie. Ein Abweg, kein Ausweg. Nicht divers, sondern pervers.

Es war im Grunde AIDS, das die LGBQT-Bewegung sichtbar gemacht hat – zum ersten Mal starben verdienstvolle Musiker, Künstler und Wissenschaftler an einer Krankheit, die nach allgemeinem Dafürhalten vor allem Schwule befiel. Plötzlich wurde sichtbar, welche grandiosen Leistungen von Menschen erbracht wurden, die ihre Identität verstecken mussten, weil sie nicht dem kirchlich sanktionierten Konzept der Mehrheit entsprachen: Hubert Fichte, Keith Haring, Freddy Mercury. 1971 kaum Rosa von Praunheim. Der Weg war noch weit, besonders an den Schulen. Aber Vernunft ist unaufhaltsam.

In der unteren Mittelstufe erarbeiten sich Jungs und Mädchen ihre geschlechtliche Identität. Dazu gehört auch Abgrenzung. Was man als gegengeschlechtlich wahrnimmt, auch an sich selbst, wird bekämpft. Viele dieser Kämpfe sind völlig unnötig. Hören wir auf, uns wechselseitig in Schubladen zu stecken. Wir können ohne Schubladen auskommen. Wir brauchen langfristig weder Mädchentage noch Jungspädagogik, wir brauchen eine Pädagogik der Menschlichkeit. Was uns am meisten ausmacht, ist weder unser Geschlecht noch unsere sexuelle Orientierung. Es ist unsere Fürsorge für andere, unsere Schöpfungskraft, unsere Trauer, unser Glück, vielleicht: das Maß und das Wesen unserer Liebe. Liebe ist keine Praxis, keine Stellung, kein Geschäft. Liebe ist Hingabe und Vertrauen; Liebe ist Anerkennung des Andersseins und Akzeptanz des So-Seins.

Homosexualität ist so natürlich wie Polyamorie oder Transsexualität. Der menschlichen Natur fällt es nicht ein, ordinär binär zu sein. Sie schert sich nicht um künstliche Vorstellungen von Natürlichkeit. Und die Berufung auf die Natur ist ein Gemeinplatz unter Homophoben: „Biologisch betrachtet!“ „Die Evolution!“ – Ist es nicht sonderbar, wie sich eben jene auf Darwin berufen, die ihn noch kürzlich am liebsten verbrannt hätten? Wir Menschen ziehen uns wechselseitig an, zumindest ein wenig; ein bisschen schwul, ein bisschen lesbisch sind wir alle.

Wieder und wieder stützen sich Homophobe auch auf Bibelstellen. Etwa auf den 1. Mose 19, 5: „Wo sind die Männer, die zu dir gekommen sind diese Nacht? Führe sie heraus zu uns, daß wir sie erkennen.“ Offenkundig geht es den Männern von Sodom nicht um Liebe, sondern um Macht; es geht um Unterwerfung, nicht um Partnerschaft. Lust ist dabei höchstens sekundär. Dennoch wurden kurzsichtige Theologen nicht müde, daraus das Zerrbild des homosexuellen Mannes zu zimmern, der haltlos seinem Trieb nachgeht. Auch Transphobe werden bei Moses fündig: Aus dem Schöpfungsakt leiten sie ab, es gebe nur Mann und Frau und nichts dazwischen. Das gibt der Text nicht her, aber ich bin Germanist, nicht Theologe. Andere Textstellen sind eindeutiger. Meistens geht es um Sex. Aber – im Ernst: Wer wollte dafür noch die Todesstrafe fordern?

Wenn kann man tun, als Lehrkraft, damit alle Schüler*innen in ihrer Identität zu stärken? In Deutsch kämen auch Autor*innen zu Wort, die Liebe nicht binär auffassen. In der Sexualerziehung würden auch Fragen der Inter- und Transsexualität angesprochen. In Politik spräche man auch über die Rechte von Homosexuellen. Vor allem aber sollte man klar sein, wenn homophobe oder transphobe Haltungen durchscheinen. Niemand steht über dem Grundgesetz. Unabhängig davon, wen wir lieben, welches Geschlecht wir haben und als wer wir uns fühlen: Es schützt uns alle.