Handys in der Schule: Essay

„Blackberry??“ An meine erste Begegnung mit einem Smartphone kann ich mich lebhaft erinnern. Die Besitzerin dieses Wunderwerks besuchte die achte Klasse und war ungehörig stolz auf das Ding. Ich war ein medial zurückgebliebener Junglehrer, sie Trendsetterin im digitalen Brombeerhag. Vorher hatte es nur Tastenhandys gegeben, im Format großer Müsliriegel, mit winzigem Display: Nerdige Nokiaprügel, mit denen man telefonieren konnte oder SMS versenden. Man hätte auch Nägel in die Wand schlagen können damit. Waren sie ordentlich geladen, hielten sie eine ganze Woche. Zehn Jahre ist das jetzt her, und meine Schüler waren mir schon damals technologisch um Lichtjahre voraus.

Zugegeben: Ich fand Gefallen am Chic des medial Musealen. Ab einem gewissen Alter muss man auch als Lehrer nicht mehr jede Sau durchs Dorf treiben, und hätte sie auch einen Äppel im Maul. Retro kann nämlich durchaus vergnüglich sein! Immer wieder konnte ich mich am Entsetzen meiner Kursstufler weiden, wenn ich das klobige, graue Ding vorzeigte. Was die Schüler nicht wussten: Ich hatte mich keineswegs frei dafür entschieden. Eine ganze Traditionsreihe von Althandys hatte ich einfach geerbt, abgelegte Exemplare meines Bruders. Für den Kauf eines Neuhandys war ich einfach zu geizig oder schlicht zu bequem. Und außerdem – die Kobaltminen!

Ganz gegen alle Erwartung stieß mein erstes eigenes Smartphone keineswegs auf Begeisterung beim Publikum. Vor mir saßen bereits einige iPhonetiker und viele Androiden, die teils fassungslos und teils befremdet mein antiquiertes Windows Phone registrierten. Immerhin: Ich war nun in der glücklichen Lage, Apps zu installieren (was ich nicht tat) und zu googeln (wovor ich mich zierte). Die Kamera schien brauchbar, kam aber selten zum Einsatz. Was ich nicht wusste: Nicht nur das Handy zählte, sondern auch, wie man wischte, wie man es aus der Tasche flippte. Bis heute sehe ich fasziniert dem rasenden Zickzack zu, das meine Schüler auf ihre Displays zeichnen.

Vergessen wir nicht: Ganze Bereiche des öffentlichen Lebens waren damals, zu Anfang, noch handyfrei. Handys im Gottesdienst? Undenkbar! Beim Essen? Barbarisch! In der Schule: Bewahre! Es schien, als könnte man die Macht der Medien noch begrenzen; der gute Ton verbot den Klingelton, Selfies galten als abgeschmackter Brauch jugendlicher Narzissten. Wer telefonierte, führte das Handy ans Ohr; wer auf der Straße damit umherging, riskierte strafende Blicke.

Und heute - wie anders! Neulich: Auf der Suche nach einem herrenlosen HDMI-Kabel komme ich ins Zimmer der Elfer. Tiefe Stille! Erst aufblickend sehe ich: Der Raum ist besetzt, wie sortiert. Aber keiner spricht. Alle tippen, alle wischen. Widerschein von Blaulicht im Gesicht. Ich räuspere mich, einfach, um mich meiner selbst zu vergewissern – einer schaut hoch, flugs ein entseeltes Lächeln, dann versinkt er wieder im Sog digitaler Fernen. Bei einigen liegt das Handy inzwischen am Platz, ganz selbstverständlich, unverhohlen beansprucht es den Raum, den es längst okkupiert hat. Selbst ausgeschaltet schlägt ein Handy im Kampf um die Aufmerksamkeit den Lehrer um Längen.

Es wäre nicht schwer, mit Handys etwas Sinnvolles anzustellen. Pflanzen bestimmen. Dialoge aufnehmen – oder Videoclips. Recherche, vielleicht. Brauchbare Apps gibt es genug. Nur: Soziale Netzwerke wie Snapchat und TikTok ringen in einer anderen Gewichtsklasse. Und der Datenschutz. Naja! So bleibt uns oft das Verbot als probates Mittel, durchzudringen im Reigen der Bilder, im Tanz der Clips. Leichter wird’s nicht, die Lage ist kompliziert. Im Ernst: Glaubt ihr, wir sehen nicht, wenn ihr wischt unter den Tischen und hinter den Taschen? Nur die Ängstlichen gehen noch aufs Klo, um zu schreiben. Längst ist die Zeit vergangen, als Handys konfisziert wurden, um am Ende des Schultags demütigen Bittstellern ausgehändigt zu werden. Ihr klebt an den Handys. Konfiskation wäre Amputation.

Bin ich denn besser? Immer griffbereit liegt das Samsung Galaxy neben dem Stapel mit Korrekturen; es weckt mich, es schläft mit mir ein. Auf jedem Ausflug ist es dabei. Im Unterricht brauche ich es kaum, als Stoppuhr vielleicht. Aber auch hier, immer wieder: Griff zur Tasche, gewischt, hingeschaut – war das die Uhrzeit oder WhatsApp? Manche sagen ja, Onlinesucht sei eine Erfindung, ausgedacht von Professor Spitzer. Ich bin vielleicht nicht süchtig, nicht völlig, aber doch kann ich sagen: Ich bin konditioniert. Der einzige bin ich nicht. Ich möchte niemanden verpfeifen: Aber es gibt genug Lehrer, die in Stillarbeitsphasen genüsslich ins Handy schauen. Wie steht’s im Fußball? Wie heißt die Hauptstadt von Kamerun? Was macht Oma? Und – ja, wir sind froh über den Kalender, der auch Taschenlampe sein kann oder Spiegel.

Offenkundig nimmt der Beruf mehr Raum ein als bei euch die Schule: Schulcloud hier, Moodle da, DSB, PHV und GEW. Aber sind wir nicht nah herangerückt an unsere Digital Immigrants? Auch wenn wir es selten zugeben: Nicht wenige Lehrer daddeln am Handy und zocken, sind genervt vom Kreuzfeuer der Nachrichten. Macht das sympathisch? Keine Ahnung! Ich weiß nur, dass nicht einmal der Tod meines Vaters so herzliches Mitgefühl ausgelöst hat wie meine erste Spider-App: „Och, Herr Baier! Wie ist denn das passiert?“

Manchmal fragt man sich, mit Blick in die unteren Klassen: Wozu die flächendeckende Ausstattung mit hochwertigen Smartphones? Wozu das Gespinst aus Siliziumfasern, in das wir unsere Kinder einweben wie in Kokons? Wir sind ein Landgymnasium, im Nachbarort ist viel passiert, wenn sich der Turmhahn dreht. Dennoch regiert die Angst, und das universelle Anxiolytikum ist das Handy, eine digitale Nabelschnur, die alles Böse der Welt in Bann schlägt. Zugeben würde das niemand. Es gehe nur darum, höre ich stattdessen, dass man zu Hause anruft, wenn man den Bus verpasst. Wenn Unterricht ausfällt. Tja! Es mag sein, dass Handys solche Unwägbarkeiten komfortabel abmildern. Allerdings: Man könnte ja warten, bis der nächste Bus kommt, bis die folgende Stunde beginnt, und währenddessen feststellen, wie sich verlorene Zeit vergoldet zu verfügbarer Zeit. 

Ich komme aus einer Zeit, in der es weder Handys gab noch das Netz: Wir trafen Absprachen, die galten, die nicht im Viertelstundentakt geändert wurden. Auf öden Partys saß man fest, bis sie gut wurden. Photographische Selbstporträts? Schwer möglich. Man konnte sich verirren. Man konnte sich langweilen. Man war auf eine ganz andere Weise einsam. Probleme waren diffus, im Analogzeitalter, schwer greifbar. Natürlich gab es auch damals schon Mobbing, es hatte nur keinen Namen. Die Welt war ja nicht besser. Auffällig ist jedoch schon: Heute laufen viele Konfliktlinien im Handy zusammen.

Seit einigen Jahren beobachte ich, dass sich fast alle Verwerfungen in meinen Klassen ins Netz verlagern, falls sie nicht dort erst entstehen. Soziale Netzwerke wirken wie Katalysatoren für Konflikte. Während früher ein Wochenende genügte, um Ruhe zu schaffen, geht es nun weiter – Nachricht für Nachricht, hundertfach. Aus Missverständnis wird Missvergnügen; aus Unbehagen wird Wut. Ein Mädchen kündigt dem anderen die Freundschaft, per Handy, geht nicht mehr ran. Die Verlassene weint ein Wochenende lang. Am Montag, in der Schule, heißt es: War nur Spaß! Ein Junge, Klasse sieben, verschickt Oben-Ohne-Bilder seiner Freundin. Eine Sechstklässlerin bekommt WhatsApp-Nachrichten von älteren Männern. Kinder können nicht schlafen wegen Kettenbriefen. Fünftklässler bekommen die Augen kaum auf, weil es zu Hause keine Zeitgrenzen gibt. Enthauptungsvideos und Gewaltpornographie sind kein Mythos. Ich zucke schon zusammen, wenn Jungs mit pubertätsbedingt reduzierter Empathie sich an Fail-Videos weiden.

Man fragt sich: Wo sind die Eltern, die sich sonst so besorgt zeigen? Auf Elternabenden sind die Gräben oft tief, und Mediendebatten sind Tänze im Tretminenland. Im Großen und Ganzen stimmt das Plenum meist zu: Handys sind nützlich, wir haben’s im Griff. Theoretisch. Denn praktisch haben viele Eltern keine Lust, sich kostbare Freizeit mit Erziehungskämpfen zu versauen; keine Lust auf endlose Diskussionen, wann, wie, wozu man ein Handy nutzen sollte. Handys einsammeln, abends um neun? Hehrer Vorsatz, aber schnell abgeschliffen. Downloadkontrolle? Ja, schön, aber wie oft huscht da was durch? Den Klassenchat sichten? Der Lehrer fordert’s, aber – mal ehrlich!

Ich möchte nicht schwarzmalen. Keine Frage: Für manche ist das Handy ein Segen – für Schwermütige, zum Beispiel, für Sonderlinge, für Schwärmer. Jederzeit ist man endlich in Fühlung mit Menschen, denen man nichts beweisen muss, kann sich verhüllen und zeigen. Aber – was macht es mit all den anderen? Was macht es mit Herz und Haltung? Wir wenden uns ab von der Welt, die uns umgibt, und während uns nah wird, wer fern ist, entfernen wir uns vom Nächsten. Wir sind es gründlich gewohnt, unterhalten zu werden. Langweilig wird, was uns nicht reizt, was uns nicht weitertreibt. Unsere Neugier ermattet. Was wollen wir wissen, was unser Handy nicht weiß?

Kurioserweise sind wir nicht mehr bei uns, sondern weniger – kurios, weil nie die Biographien so detailliert vor unserem Auge vorbeiflogen: Das hast du gestern gemacht. Das bist du, vor einem Jahr. Das bist du – vor Jahren. Wir könnten alles durchblättern bis zur digitalen Geburt. Wir tun es nicht - oder selten, nur dann, wenn uns Melancholie überfällt. Die Speicher wachsen, die Bilder überwältigen uns, wir verlieren uns im Labyrinth unseres Lebens. Es bleibt keine Zeit für Rückschau. Immerzu ist unser Leben in unserer Hand, um uns permanent zu entgleiten. Wir dokumentieren, was uns wichtig erscheint – und bald ist uns nur noch wichtig, was sich dokumentieren lässt: When it’s not on Instagram, it doesn’t happen.

Das Handy beherrscht als erweitertes Ich den Identitätskampf. Schüler können aus dreißig Meter erkennen, welches Handy ich habe, mithin: Wer ich bin. Handys werden gepflegt und gekuschelt, gepampert, geschmückt und beklebt. Das Handy weiß mehr als die beste Freundin und die eigene Mutter – ein höchst intimer Gegenstand, der uns verletzlich macht. Nie zuvor waren wir in der Lage, unser Seelenleben spazieren zu tragen, waren nie in Gefahr, unser Selbstverständnis zu verlieren, wenn uns das superflache Sony unbemerkt aus der Gesäßtasche gleitet. 

Kein Weg führt zurück ins Prädigitale. Wir müssen nicht aufgeben, was uns nützlich erscheint, was uns hilft in vielerlei Hinsicht, was uns Lehrern so dienlich ist, was den Schülern im Alltag so taugt. Aber: Wir müssen begreifen, dass wir uns nichts vorlügen dürfen beim Reden über Möglichkeiten, die wir nicht nutzen, während wir uns verheddern im virtuellen Leimrutengeflecht unserer Handys. Wir dürfen uns nicht vorspiegeln, wir seien souverän in Nutzung und Zeit, während schon unsere Finger nach den kühlen Kanten unserer Handys tasten. Es kostet Kraft, aber: Lassen wir uns nicht konditionieren! Genießen wir die Unwägbarkeiten und Widerstände der Welt! Seien wir frei!