Über Rassismus in der Schule

Bebend steht er vor mir, mein Schüler, schäumend vor Wut, mit Mühe nur kann ich ihn zurückhalten. Den werde er schlagen, zischt er, zusammenschlagen. Wen? Den untersetzten, schlohweißen Lateinlehrer, kurz vor der Pensionierungsgrenze. Woher der Hass? Der Pädagoge habe ihn aufgefordert, den Vorhang zuzuziehen, schließlich wisse er ja, was ein Sklave sei. Der Vater des Jungen stammt aus Nigeria.

Mein Schüler, damals siebzehn, ist längst erwachsen. Dass er dieses Erlebnis vergessen hat, glaube ich nicht. Allgegenwärtig ist in unserer Gesellschaft die Unterscheidung nach Herkunft und Hautfarbe. Allgegenwärtig ist das Schwarzweißdenken, unentrinnbar das Stirnrunzeln, wenn einer zu laut und zu fröhlich, aber weder blond noch hellhäutig ist.  In der Schule wissen alle deinen Namen, qua Abstammung bist du plötzlich Experte für ferne Vaterländer, und wenn du sagst, du kämst aus Öschelbronn, glaubt dir keiner. Wer später eine Wohnung sucht oder einen Job, durchläuft nicht selten einen beschämenden Spießrutenlauf.

Ich werde nicht müde, meinen Schülern zu erklären, dass wir alle aus einem vergleichsweise winzigen Teil Ostafrikas stammen. Dass unsere Menschheit – the human race – einmal durch einen Flaschenhals geschlüpft ist, der schmal genug war, uns allesamt zu nahen Verwandten zu machen, ob wir von den Salomonen kommen oder aus dem Saarland. In unseren Klassen sitzen Migranten, aber nur, weil wir eben alle Migranten sind. Schwarze Schwaben, weiße Schwaben, Alman-Schwaben, Allmachtsschwaben - alle dürfen gleichermaßen mitschreiben beim Vokabeltest. Wäre es nicht auch erstrebenswert, sie bekämen dieselben Noten, ob sie nun Murat, Mukesh oder Max heißen?

Es darf nicht sein, dass Fünftklässler ihre Klassenkameraden um die Erlaubnis bitten, sie Nigger zu nennen. Es darf nicht sein, dass Menschen sich daran gewöhnen müssen, beleidigt zu werden – und daran, sich schuldig zu fühlen, wenn sie wütend sind. Es darf nicht sein, dass Oberstufenschüler von den Türstehern der Republik am Zugang gehindert werden – zum Club, zum Job, zum Wir. Nichts davon darf sein! Und doch ist es so.

Bestenfalls in der Sprache ist der Rassismus weitgehend beseitigt. Diktate kommen heute wunderbar ohne Mohrenköpfe und Zigeunerschnitzel aus, wir lesen vom Südseekönig und freuen uns über kulturelle Vielfalt. Der gesellschaftliche Wandel hat auch die Schule zur Selbstreflexion gezwungen. In der Geographie sind Inuit immerhin keine Eskimos mehr, im Kunstunterricht wurden Lehmhütten zu Häusern. Die verbale Kolonialisierung des vermeintlich Fremden findet im Grundkurs Geschichte keiner mehr verständlich, nicht einmal ansatzweise. Dass Mörder wie Lettow-Vorbeck, Victor Franke und Carl Peters keiner mehr kennt – es ist vermutlich besser so.

Immer wieder lese ich, als „Privilegierter“ dürfe ich mir nicht anmaßen, über Rassismus zu schreiben. Ich schreibe dennoch - vielleicht liegt es daran, dass ich langsam zum alten weißen Mann werde, schwach an Einfühlung, stark im Vorurteil. Vielleicht liegt es auch am Widerwillen gegen Diskriminierung, und am Zweifel gegen all jene, die das Vorrecht beanspruchen, über die Schwere aller Benachteiligung und deren Bösartigkeit allein zu entscheiden. Schuld und Vergebung sind keine Ressourcen.

Mich stört es, naturgemäß, wenn sich jemand das Recht anmaßt, dass die Bevölkerung in Deutsche und Passdeutsche aufzuteilen; mich stört es genauso, wenn jemand meine Schüler zu Kartoffeln ernennt, um ihnen rassistische Affekte abzuerziehen, nur, damit auch wirklich jeder weiß, wie sich Rassismus anfühlt. Ich finde Rassismus abscheulich, an und für sich. Warum jemand diskriminiert wird, ist mir dabei gleichgültig. Als ob man Diskriminierung vermindert, indem man diskriminiert! Als ob die Erfahrung, gehasst zu werden, zu etwas anderem führte als zu Hass!

Der historische Rassismus, wie wir ihn aus den dummdreisten Schriften der Antisemiten und Sklavenhalter kennen, ist zweifellos die fassbarste Form der Diskriminierung. Mehr Menschen sind ihr zum Opfer gefallen als jeder anderen Form von Diskriminierung, nimmt man Sexismus aus. Der koloniale Rassismus ist hervorragend dokumentiert. Man kann ihn leugnen, nicht ungeschehen machen. Er verpflichtet zur Verantwortung. Auf den Schultern Europas lasten Ausbeutungskriege, Völkermorde und die nachhaltige Zerstörung blühender Kulturen. Das ändert nichts daran, dass Rassismus immer falsch ist – der Rassismus der Mächtigen, aber auch der Rassismus der Ohnmächtigen, der Rassismus dort und der Rassismus hier. Ausgleichender Rassismus ist Unsinn. Ius respicit aequitatem, es gibt keine Gleichheit im Unrecht. Öffnet man dem Rassismus die Tür, zieht er ein, will nicht mehr hinaus. Wer müsste das im Grunde besser wissen als wir – die Deutschen?

So wichtig es ist, Rassismus beim Namen zu nennen, so töricht ist es allerdings, neue Schubladen zu zimmern, neue Grenzen zu ziehen. Der historische Rassismus entwarf Grenzen, die wissenschaftlich auch damals schon unhaltbar waren. Es war Mühe genug, sie einzureißen, und es gibt keinen vertretbaren Grund, sie neu zu besetzen. Ob diese Grenzen ein heimatliches Wir umgrenzen oder ob diese Grenzen andere ausgrenzen – es bleiben Grenzen. Wo Grenzen sind, finden sich bald auch Grenzwächter, lautstark und selbstgerecht. Wir brauchen weder Grenzen noch Grenzer, weder weiße, schwarze oder farbige. Wer sich als „Schwarzer Mensch“ oder „Person of Color“ eine Subkultur schafft, die sich einer rassistischen Farbenlehre bedient, bestätigt die Methodik seiner eigenen Ausgrenzung. Es gibt keine weißen Menschen, es gibt keine Schwarzen Menschen. Es gibt Menschen! Wer ethnische Grenzen zieht, ist und bleibt Rassist!

Jede rassistische Tat, jedes rassistische Wort trifft nicht einen Menschen allein – es trifft den Menschen an sich. Und damit uns alle. Es gibt für Rassismus keine Rechtfertigung. Kein Recht gewährt die Freiheit, anderen ihr Menschsein abzusprechen, sie herabzusetzen, auszugrenzen, zu verletzen. Das versteht jeder Erst-, Fünft- oder Zwölftklässler. Und manchmal sogar die Lehrer.

Der Kampf gegen Rassismus ist bitter nötig, nach wie vor. Es ist ein gemeinsamer Kampf um Gleichheit und Gerechtigkeit, den wir alle – Schüler, Lehrer, Eltern – gemeinsam führen müssen. Denn: Rassismus schadet uns allen.

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