Fachwissen zur Analyse von Kurzprosa
Über den Erfolg eines Interpretationsaufsatzes entscheiden viele Faktoren. Einer davon ist das Fachwissen des Interpreten. Diese Übersicht der wesentlichen Begriffe folgt dem Aufbau eines traditionellen Interpretationsaufsatzes. Für jeden Aufsatzteil ist das jeweils an weiterführenden Schulen unverzichtbare Fachwissen aufgeführt. Je nach Schulart und Klassenstufe sind die Erwartungen niedriger oder höher – diese Übersicht bezieht sich auf die Abschlussjahrgänge. Eine Übersicht zur Ausgestaltung des Interpretationsaufsatzes findet ihr hier.
Einleitung |
Die Einleitung stellt den Text vor und führt den Leser in die Interpretation ein. 1 – Unterscheidung von Kurzgeschichte und Parabel:
Hinweis: Gerade im 20. Jh. werden Texte gelegentlich als „Märchen“ oder „Fabel“ bezeichnet, was sie im Grunde nicht sind. 2 - Basissatz: Als Basissatz wird die Zusammenstellung der wichtigsten Angaben zum Text genannt. Autor, Titel, Entstehungsjahr, Textsorte. 3 – Bibliographische Angaben: Ob weitere Angaben zur Veröffentlichung verlangt werden, hängt von der Lehrkraft ab. Kurzgeschichten werden oft in Sammelbänden veröffentlicht; der Titel des Sammelbands sollte mit dem Erscheinungsjahr angegeben werden (, z. B. „erschien 1947 in Borcherts Sammelband An einem Dienstag"). Wenn ein Entstehungsjahr angegeben ist, sollte es vom Jahr der Veröffentlichung getrennt aufgeführt werden. 4 - Deutungshypothese: Die Deutungshypothese fasst zusammen, was der vorliegende Text erreichen soll und worauf er sich bezieht. Sie sollte sich schlüssig und ohne Widersprüche aus dem Text ergeben, zum Autor und zur Zeitgeschichte passen (wenn bekannt), den tatsächlichen Schwerpunkt des Texts zusammenfassen und Leitfaden der Interpretation sein. |
Strukturierte Inhaltsangabe |
Die strukturierte Inhaltsangabe stellt den Aufbau des Texts dar, außerdem zeigt sie die Entwicklung der inneren und äußeren Handlung: 1 – Gesamtaufbau: Rahmenhandlung und Binnenhandlung 2 – Abschnittsbildung, für jeden Abschnitt: A – Zeitgestaltung: Das Verhältnis von Erzählzeit (Erzähldauer) und erzählter Zeit (Handlungsdauer): dehnend – raffend – zeitdeckendes Erzählen – Zeitsprung – Erzählpause – Vorausdeutung – Rückblende B – Darstellungsformen Gedankenbericht – Handlungsbericht – Redebericht – Beschreibung – Charakterisierung – Erzählerkommentar – Erzählszene (mit Dialog und Redebegleitsätzen) C – Redeformen erlebte Rede – Bewusstseinsstrom – indirekte Rede – direkte Rede D – Bauformen Einstieg in medias res / Exposition – Spannungsbogen – Wendepunkt – offenes Ende / pointiertes Ende |
Erzählanalyse |
Die Erzählanalyse zeichnet nach, wie der Text erzählt wird. Sie untersucht das Erzählverhalten. 1 – Erzählsituation (Vorsicht, es gibt auch Übergänge!) Auktorialer Erzähler – neutraler Erzähler – personaler Erzähler 2 – Erzähler und Zeit: Der Erzähler schaut aus zeitlicher Distanz auf das Geschehen zurück (Verwendung des Präteritums) – Der Erzähler schildert das Geschehen als Zeuge 3 – Erzähler und erzählte Welt: Der Erzähler ist Teil der Handlung (homodiegetisch) – Der Erzähler blickt von außen auf die Handlung (heterodiegetisch) – der Erzähler wendet sich direkt an den Leser 4 – Erzählerverhalten: Der Erzähler betrachtet das Geschehen aus der Distanz – bewertet und kommentiert – ironisiert – wirkt wie ein mitfühlender Augenzeuge |
Hauptteil |
Im Hauptteil entsteht eine zusammenhängende Deutung. Außerdem wird die Darstellungsweise eingehend analysiert. Es geht also um Einzelfragen der Deutung, um Stil und Sprache. 1 – Satzbau hypotaktisch (Satzgefüge: Hauptsätze mit eingeklammerten Nebensätzen) – parataktisch (Satzreihe aus Hauptsätzen) – elliptisch (die Sätze sind auf bedeutungstragende Bestandteile reduziert) 2 – Tropen Metapher – Personifikation – Symbol – Synekdoche / Pars pro toto – Metonymie 3 – Figuren Antithese – Chiasmus – Klimax – Wiederholung (z. B. Repetitio) – Anapher – Alliteration – rhetorische Frage – Parallelismus – Akkumulation – Enumeratio (Aufzählung) – rhetorische Frage – Correctio 4 – Stil Stockender, bauender oder fließender Rhythmus; Häufung bestimmter Wortarten (z. B. Adjektive) oder deren jeweiliger Verwendung (z. B. Attribute), Verwendung bestimmter Sondersprachen (Fachsprache, Umgangssprache, Behördensprache…), Wortspiele, Neologismen, Anglizismen, Leitmotive, Schlüsselbegriffe, Wortfelder |
Schluss |
Im Schluss tritt der Interpret einen Schritt zurück und greift die Deutungshypothese auf. Hier interessiert das Gesamtbild, das man vom Text gewinnt. 1 – Interpretation: Drei Bedeutungsdimensionen: Wie soll ich die Welt jetzt sehen? Wie soll sich mein Fühlen verändern? Wie soll ich nun handeln? Bei der Parabel: Unterscheidung von Bildebene und Deutungsebene 2 – Gestaltung der Welt: realistisch und alltagsnah – enthält phantastische Elemente – wirkt grotesk / schematisch 3 – Epochen (Vorsicht im Umgang mit Epochen, hohes Fehlerpotenzial): Aufklärung (18. Jh.): Fabeln und Parabeln, Kritik an menschlichen Lastern, an Denkschablonen und Vorurteilen Jahrhundertwende (1890-1900), z. B. Rilke, Altenberg: Auseinandersetzung mit Vergänglichkeit, Armut, Schönheit und Tod Expressionismus (1910-1930), z. B. Georg Heym, Kafka: Skizzen und kurze Erzählungen, Auseinandersetzung mit Geschwindigkeit, Verstädterung und moderner Technik; Tod und Krankheit; Isolation und Entfremdung Während des Ersten Weltkriegs (1914-1918) und in der Weimarer Republik (1919-1932): Bearbeitung der Kriegsfolgen, Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft Im Dritten Reich (1933-1945) und während des Zweiten Weltkriegs (1939-1945): Überwiegend Texte aus dem Exil oder im Widerstand, z. B. Brecht: Keuner-Geschichten Ab 1945: Nachkriegszeit (Stunde Null), z. B. Borchert: Auseinandersetzung mit Kriegserlebnissen und den Kriegsfolgen in Deutschland (Trümmerliteratur); Heimkehr, Flucht, Vertreibung, Neuaufbau Ab 1950, z. B. Böll, Grass, Bichsel: Zeit des Wirtschaftswunders: Kritik an Verdrängung und Materialismus Ab 1960, z. B. Helga M. Novak, Wolf Wondratschek: Zeit der gesellschaftlichen Modernisierung und Liberalisierung, in den späten Sechzigern und Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus Ab 1970: Auseinandersetzung mit dem Medienzeitalter, mit einer zunehmend anonymen Großstadtwelt Ab 1980: Einflüsse der Friedens-, Frauen- und Umweltbewegung der Achtziger – Aufarbeiten der DDR Ab 1990: Entfremdung und Ich-Suche in den Neunzigern und Zweitausendern; Auseinandersetzung mit Rollenmodellen, mit Migration und Perspektive; Reflexion des Schreibprozesses |