Ernst Wagner - Lehrer, Autor, Amokläufer

Ernst Wagner: Lehrer und Amokläufer

„Der Stuttgarter Landesbibliothek wünsche ich dann das Schicksal ihrer Kollegin von Alexandria. Alles soll verbrennen, bis auf das, was von mir drin ist. Damit ich der einzige Klassiker bin.“ (Aus: Ernst Wagner: Auch einer. Zit. n. Neuzner / Brandstetter 1996, S. 97)

Der Hauptlehrer Ernst Wagner, der am frühen Morgen des 4. September 1913 seine Frau und seine vier Kinder im Schlaf ersticht und dann nach Mühlhausen bei Vaihingen fährt, um weitere Unbeteiligte zu erschießen, war vom Februar 1914 bis zu seinem Tod am 27.4.1938 Patient der Heilanstalt Winnenthal. Wagners Bluttat ist gut dokumentiert. Der Ermordung der Familie, Wagner zufolge aus Mitleid, folgt ein durch Brandstiftungen vorbereiteter Amoklauf, bei dem neun Menschen an Schussverletzungen sterben. Elf weitere werden zum Teil schwer verletzt. Schließlich wird Wagner überwältigt. Nach der Behandlung von Wagners Wunden (Schnitt- und Hiebwunden im Gesicht, die linke Hand wird amputiert) wird Wagner in Vaihingen, Heilbronn und Tübingen untersucht und schließlich nach Winnenden überstellt. Insbesondere das Verhalten des Psychiaters Robert Gaupp, der über Wagners Erkrankung forscht, wirft Fragen auf. An dieser Stelle sei angemerkt, dass Gaupp trotz seiner rassenhygienischen Publikationen 1952 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde.

Ernst Wagner als Autor

Bereits vor seiner Tat war Wagner als Dramatiker aufgetreten, jedoch ohne den ersehnten Erfolg. In den vier Jahren vor der Tat verfasste Wagner seine dreiteilige Autobiographie Auch einer, deren Titel er dem gleichnamigen Roman Friedrich Theodor Vischers entlehnt. Das Werk ist fragmentarisch überliefert – das Manuskript verbrannte bei Fliegerangriffen auf Heilbronn, wo es sich in den Gerichtsakten befand. Wagners Amoklauf in Mühlhausen orientiert sich, wie Horst Brandstätter in seiner Monographie überzeugend nachweist, an Schillers Räubern, die er wenige Tage vor der Tat noch zitiert. Doch schon vorher war Wagner literarisch produktiv gewesen. Nach einer Reise in die Schweiz waren ab 1904 einige Dramen entstanden: Der alte Jehovah, Bilder aus dem alten Rom (Ulm, 1906), Nero (Ulm, 1907), Saul (Ulm 1909), Joab und den von Wagner selbst besonders geschätzten Absalom (Neuzner / Brandstetter 1996, S. 60). Alle Werke bis auf den 1919 in Winnenden gedruckten Absalom erschienen unter dem Pseudonym „Walther Ernst“ und wurden im Selbstverlag herausgegeben.

Wagner in Winnenden

Nach Winnenden kommt Wagner, nachdem ihn die Gutachten von Robert Gaupp in Tübingen und Robert Wollenberg für schuldunfähig erklären. Das Landgericht Heilbronn stellt das Strafverfahren ein und überstellt Wagner an die Heilanstalt in Winnnthal. Er erhält seine Beamtenpension, bekommt eine Einzelzelle und empfängt Besuch, darunter den württembergischen Innenminister Eugen Bolz (Neuzner / Brandstätter 1996, S. 63). Auch in seiner Winnender Zeit, als Patient des Tübinger Psychiaters Robert Gaupp, schreibt Wagner weiter, nimmt er an Wettwerben teil und lässt in der Anstaltsdruckerei seine Dramen drucken, diesmal unter seinem Klarnamen, besonders das 1921 vollendete Stück Wahn oder die im Jahr darauf entstandene Landhofmeisterin. 1920 wendet er sich an den Direktor des Mannheimer Nationaltheaters und übersendet ihm einige Werke zur Prüfung. Der Verlag Jessen und Meyer, der mit Wagner in Kontakt getreten war und Interesse an dessen Stücken gezeigt hatte, brach die Verhandlungen jedoch ab. Wenig später erscheint dort Franz Werfels Stück Schweiger, das erfolgreich gespielt wird. Mit einer 68-seitigen Anklageschrift, in der Wagner nachzuweisen versucht, Werfel habe seinen Wahn plagiiert, beginnt eine einseitige Literaturfehde gegen den vermeintlichen Konkurrenten (Ebd. S. 120 ff.). In seinen letzten Jahren sieht sich Ernst Wagner als Vordenker des Nationalsozialismus. Hermann Hesse, der als Jugendlicher am 2.11.1893 selbst in Winnenden untersucht wird, nimmt in seiner Novelle Klein und Wagner Bezug auf Ernst Wagner. Auch Heinar Kipphardt geplant, sich mit dem „Hauptlehrer“ zu befassen – ein Exposé zu Ernst Wagner liegt im Nachlass Kipphardts im Deutschen Literaturarchiv in Marbach (Ebd. S. 299).

Wagner und die Lehrer

Der folgende Abschiedsbrief ist einer von mehreren Abschiedsbriefen, die Wagner hinterlassen hat. Der Text entspricht folgender Ausgabe: Ernst Wagner: Abschiedsbrief: An die Lehrerschaft! In: Neuzner / Brandstätter 1996, S. 43 f

„An die Lehrerschaft!

Schon wieder einer! Und erst was für einer! Man sollte es nicht für möglich halten. Ja, meine lieben Kollegen, es ist sogar wahr. Ich bedaure aufrichtig, wenn durch mich auch nur der letzte von Euch einen Schaden erleiden sollte, und ich hoffe zuversichtlich, die Leute werden so gescheit sein, die Schuld eines Einzigen nicht den ganzen Stand entgelten zu lassen. Damit ihr euch leichter abschütteln könnt, erkläre ich hiermit meinen Austritt aus dem Verein. Ich hätte es gerne schon früher getan, aber ich wollte alles vermeiden, was auffallen konnte. Der Oberschulrat wird mir mein Entlassungsgesuch gerne bewilligen. Größer als mein Bedauern mit der Lehrerschaft ist das Bedauern mit mir selbst. Und ich kann es nicht unterdrücken: Es hat mir manches an Euch auch nicht gepaßt. Erspart Euch, bitte, alle Entrüstung; sie ist nicht ehrlicher als die der andern Leute; zeigt vielmehr ehrliche Schadenfreude. Sollte sich aber der eine und andere ein Gefühl der Trauer über meinen Hingang abgewinnen können, so sei ihm dafür herzlicher Dank gesagt. Eure Tränen kann ich ablehnen wie der Heiland, denn ich bin erlöst. Ihr aber müsset fortfahren, Eure Dummköpfe, Schmutzfinken und Rüpel zu schulen. Der Tröster, den ich Euch hinterlasse, ist der Unteroffizier-Schulmeister. Zum Zeichen, daß ich im Angesucht des Todes auch Eurer freundlich gedacht habe, grüßt zum letztenmal

Der Radelstetter Schulmeister

Ernst Wagner.“

Literatur

  • Hesse, Hermann: Klein und Wagner. In: Klingsors letzter Sommer. Erzählungen. Berlin: Fischer, 1920.
  • Brandstätter, Horst / Neuzner, Bernd: Lehrer Dichter Massenmörder. Samt Hermann Hesses Novelle Klein und Wagner. Frankfurt am Main: Eichborn, 1996
  • Patientenakte Ernst Wagners in Winnenthal, unter: Landesarchiv Baden-Württemberg, F 235 II Bü 10798, URL: http://www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=2-2202931
  • Ernst Wagner: Der Nazarener. Autobiographische Zeugnisse, hrsg. v. Matthias M. Weber, Michael Farin, Wolfgang Burgmair. München: Belleville, 2015
  • Gaupp, Robert: Zur Psychologie des Massenmords. Hauptlehrer Wagner von Degerloch. Eine kriminalpsychologische und psychiatrische Studie nebst einem Gutachten von Geh. Med.-Rat Prof. Dr. R. Wollenberg. Berlin: Julius Springer, 1914 (aus der Reihe Verbrechertypen, hrsg. von H.W. Gruhle und A. Wetzel, I. Band, 3. Heft.