Sommerferien

Durch das Dachfenster strömt der ermattete Sommerwind herein und fährt raschelnd durch Arbeitsblätter und Notenlisten und Dankesbriefe. Wieder ist es Sommer geworden, die lässigen Felder tragen goldene Cornrows und der Himmel treibt Wolkenberge in die Langeweile. Heute ist der erste Tag der großen Ferien, ein langes Atemholen, das rasch vorbeigeht. Wie anders waren die honigsüß dahinfließenden Sommer meiner Jugend: Geruch von Gewitterregen, die träge Schwüle eines verglimmenden Abends und vor allem: endlos dahinfließende Zeit, ein Ozean des Müßiggangs! Heute ist mein Sommer nur ein vorweggenommener Herbst, am Horizont Konferenzen und ein schwindendes Halbjahr.

Immer wieder werde ich gefragt: Und, was machen denn Lehrer in den Ferien? Gute Frage! Ich kann sie nicht stellvertretend für andere beantworten. Es kann sein, dass Mathematiker andere Ferien erleben als Sportler. Ich nehme jedoch an, wir erleben in mäßiger Variation dasselbe: Wir können wieder Menschen sein, frei von angemaßten Rollen, frei vom Kümmern und den Kümmernissen eines Daseins für andere. Vielleicht feiern wir die Rückkehr zu uns selbst. Sechs Wochen Sommer! Das klingt erholsam! Das klingt nach Luxus.

Außenstehende haben oft wenig Verständnis für Lehrerklagen. Noch viel weniger, wenn es um Ferien geht: Nach ihrem Gefühl ist der Lehrberuf ein nie enden wollender August mit lästigen Unterrichtspausen. Es sei strapazierender, so meint man, Häuser zu entwerfen, Autos zu reparieren oder Umsätze zu kontrollieren. Sicher, ein Ferienplan verführerisch sieht aus, wenn man die geringe Zahl eigener Urlaubstage voraussetzt. Zieht man Korrekturtage ab, ist man bei Deutsch- und Englischlernen rasch bei 26 Urlaubstagen – die noch dadurch gemindert werden, dass man keinen regulären Achtstundentag voraussetzen darf.

Wer das Bedürfnis verspürt, sich über ewig lamentierende Lehrer aufzuregen, möge sich einem Praxistest unterziehen und selbst unterrichten. Ein paar Praxismonate an einer beliebigen Schule haben schon manchen hellsichtig erkennen lassen, wie sehr die ständig wechselnde Beanspruchung auslaugt. In welchem Beruf sind so viele unterschiedliche Dinge gleichzeitig zu tun? In welchem Beruf ist alltägliches Scheitern so unvermeidlich? Welcher Beruf fordert – immerzu! – ein so hohes Maß an Selbstkontrolle, Flexibilität und Einfühlung? Es ist schön, gefordert zu sein – aber auch anstrengend. Die Arbeitszeit liegt wie bei anderen Tätigkeiten in Belastungsphasen bei etwa 50 Wochenstunden und darüber; auch wochenends wird gearbeitet. Das spürt man nie deutlicher als in den letzten Wochen des Schuljahrs.

Kein Wunder, dass die allerletzten Tage des Schuljahrs in den Kollegien nicht sehr beliebt sind. Die Noten sind gemacht, das ist auch Schülern bewusst, in der Hitze der Sommersonne zerfließen jetzt bewährte Strukturen. Nachmittags lockt euch das Schwimmbad, das süße Nichtstun lächelt euch zu. Nach Monaten in festen Gleisen wollt ihr frei sein, frei von Notendruck und Regelzwang, wollt euch genießen und mit euch die Welt. Zumindest am Vormittag müssen wir es euch verwehren (und auch uns); auch in den letzten Schultagen stehen wir in Amt und Pflicht. Es kann sein, dass der Unterricht nun etwas ausfranst und dünn wird, aber wir halten durch.

Nach dem Zeugnistag ist das erste Gefühl eine schwer zu bestimmende Leere. Aus der Fülle sich widersprechender Pflichten, aus dem Trommelfeuer der An- und Absprachen wird man entlassen in eine zunächst gespenstisch anmutende Freizeit. Nicht wenige Lehrende, gerade Alleinstehende, spüren jetzt in größter Deutlichkeit, wie sehr sie sich und alles andere für die Schule vernachlässigt haben. Es ist kein Zufall, dass Lehrer oft zu Ferienbeginn krank werden.

Der erste Schritt ins Freie, zurück ins Leben, ist bei vielen von uns das Saubermachen. In jeder Hinsicht. Viele von uns haben Reinigungsrituale, die sie von Altlasten befreien – von den Schatten unerledigter Aufgaben, die längst hinfällig sind; von den Gewitterresten unvermeidlichen Streits mit Schülern, Eltern, Kolleginnen. Deswegen sehnen sich junge Lehrkräfte und gestandene Kollegen die großen Ferien herbei. Denn jetzt haben auch Lehrende, irgendwann: Urlaub!

In einwöchigen Ferien gelingt es selten, den Alltagsstaub abzuschütteln. Viele von uns arbeiten durch in den Herbst- und Winterferien: Wir korrigieren, bereiten vor, beantworten liegengebliebene Nachrichten. Je nach Klassenstufe und Fach bleibt von sieben Tagen ein kläglicher Rest. An Pfingsten, Ostern und Weihnachten ist es etwas besser, aber auch hier ist viel zu tun. Jetzt aber, im Sommer, ist endlich Zeit: Blätter ordnen, Pläne erstellen, Entschuldigungszettel abheften.

Wer in dieser Zeit das Schulgebäude betritt, das generalgereinigte, ist oft allein auf weitem Flur. Man spürt die Leere, wenn der Schlüssel klirrt, fühlt die Abwesenheit geschäftigen Lebens. Die Korridore liegen behaglich in der Mittagssonne, ein vereinsamtes Staubkorn wirbelt auf. Man hört seine Schritte. Irgendwo schlägt eine Tür, dann: Stille. Draußen, wie von fern, dröhnt ein Rasenmäher. Im Lehrerzimmer knistert die Heizung, eine Maus huscht vorbei, die alten Schulbücher hangen fadenscheinig im Regal. Man fängt zu pfeifen an, dreht den Globus, dann geht man wieder. Mitten im August ist die Schule ein Ort, der für sich sein will.

Darf man Lehrer in den Ferien behelligen? Es kommt ganz darauf an. Manche Lehrkräfte bitten sich Kontakte zu Schülern und Eltern ganz aus. Andere freuen sich über persönliche Nachrichten, zumindest über solche, die ihnen keine Zusatzarbeit aufbürden. Wer aber meint, er müsse den ersten Tag der unterrichtsfreien Zeit dazu nutzen, seine Lehrer nachträglich digital zu belästigen, im Kampf um ein paar Zehntel– dem sei davon abgeraten. Nichts hassen Lehrer mehr als postfinales Notendrama. Unnützer Organisationskram gehört ebenfalls ins nächste Schuljahr. Grundsätzlich sind Ferien aber nicht sakrosankt, längst nicht mehr – letztlich sind sie, bis auf den Urlaub selbst, unterrichtsfreie Zeit. Aus dem Urlaub heraus sollte jedoch niemand berufliche Aufgaben wahrnehmen, auch Lehrende nicht. Wer jetzt Korrespondenz beantwortet oder Projekte plant, betreibt Raubbau an sich selbst.

Verpflichtung und Privileg des Lehrberufs ist fachliche Fortbildung – erst echt in den Ferien. Wer Heranwachsenden in einer Welt des Wandels gerecht werden will, muss laufend mitlernen – Stillstand ist Scheitern. Wer bilden will, sollte bei sich selbst anfangen. Im schnellen Takt der Unterrichtstage bleibt jedoch kaum Zeit für Selbstbildung. Gäbe es nicht die Ferien - in wenigen Jahren wäre das Studium heruntergeschliffen, die Expertise würde dünn, das Wissen veraltet. Mir reichen vier Wochen intensiven Studiums, um die gröbsten Verluste auszugleichen und mich daran zu erinnern, welche Lust es ist zu lernen! Vier Wochen für die Pflege des Methodenrepertoires und der Expertise! Freude am Lernen, Freude am Wachstum – das bedeutet: Freude am Lehren. Man könnte diese Freude als Luxusgut brandmarken – aber wer will freudlose Lehrer?

Spätestens in der letzten Woche der Sommerferien kehrt Leben zurück in die Schulen– zumindest dessen pädagogischer Teil. Lehrkräfte treffen sich zu Absprachen, oft versammelt die Schulleitung das Kollegium zu ersten Dienstbesprechung. Klassenlehrer bereiten sich auf neue Klassen vor, Fachvorstände führen neue Kollegen ein. Man spürt bei den ersten Begegnungen im Lehrerzimmer, dass die Gesichter wieder frischer sind, spürt Vorfreude auf Begegnung und Unterricht. Diese Vorfreude weicht bald einer gewissen Nervosität, oft am Sonntag vor Unterrichtsbeginn: Was erwartet uns – und wer? Werden wir den Erwartungen gerecht? Besonders in den ersten Berufsjahren geht es uns in der Nacht auf den Montag nicht anders als den Schülern: Wir schlafen schlecht.