In Verbindung bleiben
Da sitzen wir, lauschen den Reden mit eingezogenen Schultern, nippen am Sekt. Spätestens jetzt, in der rauschenden Ballnacht, wird klar: Die Dinge ändern sich. Aus schlecht gelaunten Schluffis sind Prinzen geworden, wackelköpfige Fünfer stehen vor uns als junge Erwachsene. Horizonte weiten sich: Schiffe liegen bereit, Flugzeuge, die ganze Welt duftet nach Zukunft. Es ist Zeit, Abschied zu nehmen. So stehen wir uns gegenüber, nervös, halten uns fest am Sektkelch, können nichts anfangen mit der veränderten Lage. Weil wir schon etwas beschwipst sind, bieten wir euch die Hand und das Du. Ihr nehmt es an, wie man ein Paar Socken von der Großtante annimmt. Denn für euch ändert sich nichts. Wir bleiben, was wir immer waren: eure Lehrer.
Es ist schon so: Das Du, das ihr euch nun aneignen dürft, passt nicht, fühlt sich an wie der Hochzeitssakko des Vaters, drei Nummern zu groß. Ihr versucht es, wirklich, bemüht euch, aber Holger oder Sabine will euch nicht über die Lippen. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, auf einmal groß zu sein, wenn Oberstudienräte einschrumpfen auf Normalniveau. Ein halbes Leben schaut man auf zu ihnen , jetzt schrumpfen sie ein, werden verschwitzte, freundliche Zivilpersonen.
Wie soll man sich verhalten, wenn man abgeht? Vielen Lehrern wird man keine Träne nachweinen. Man wird sie abstreifen und vergessen. Auch ihr werdet gelöscht. Eure Daten. Eure Noten. Eure Adressen. Viele Lehrer löschen eure Namen. Es gibt keinen Grund, an flachen Erinnerungen festzuhalten. Übrigens: Am Anredepronomen lässt sich das nicht festmachen. Es gibt ein äußerst gefühlvolles Sie.
Manche Lehrer wollt ihr behalten, ganz bestimmt. Vielleicht, weil sie da waren, als ihr gemobbt wurdet. Vielleicht, weil sie euer Come-Out begleitet haben, eure Geheimnisse gewahrt. Vielleicht, weil sie an euch geglaubt haben. Weil sie euch die Schere weggenommen haben, mit der ihr euch geritzt habt. Weil ihr die Arbeit nicht mitschreiben musstet, am Tag, als eure Katze gestorben war. In eurer verletzlichsten Stunde haben sie euch zugehört, euch ernstgenommen, euch ermutigt, eure Gaben gesehen.
Aber wie stellt man das an, Kontakt zu halten? Ist das nicht - cringe? Und warum sollte man es tun? Wenn ich mich daranmache, weisungsgemäß eure Daten zu löschen, habe ich euch vorher eine Nachricht geschickt. „Lieber Kurs!“, steht da, ein letztes Mal. Dann – etwas von Abschied, vom Wunsch, in Verbindung zu bleiben. Ich schlage euch etwas vor in dürren Worten, fast bürokratisch: „Drei Möglichkeiten gibt es. Erstens: Wenn ihr unzufrieden wart mit mir, wenn ich euch verletzt habe, wenn ich euch gleichgültig bin – löscht mich. Ihr müsst nichts weiter tun. Das Leben ist zu kurz für Belanglosigkeiten, für überflüssige Rücksichten. Klare Kante. Das war’s. Tschüss. Wenn euch interessiert, was ich zu sagen habe, dann folgt mir, auf Twitter, auf Instagram, worauf auch immer. Ich folge euch nicht. Euer Leben ist euer Leben. Ich werde euch nicht behelligen. Ihr könnt hereinschauen oder es bleibenlassen. Aber wenn es euch gelingt, im Lehrer den Menschen zu sehen, und wenn euch der Lehrer so viel wert ist wie der Mensch, dann bleiben wir in Verbindung. Dann erlaubt ihr mir, euch regelmäßig zu fragen, wie es vorangeht im Leben - aus gebührendem Abstand.“
Bei ganz wenigen Schülern kann ich mir kaum vorstellen, Kontakt zu halten. Bei einigen wünsche ich es mir sogar. Das aussprechen? Schwierig! Zurückweisung tut weh. Man will auch nicht enttäuscht sein am Ende. Viele Verbindungen reißen ab, irgendwann, man fragt sich, ob es nicht leichter wäre, sich nicht zu binden. Aber einige bleiben – und bleiben auf Dauer. Aus meinem ersten Abiturkurs ist mir eine einzige geblieben. Sie ist Mutter inzwischen und Kollegin. Sie ist nicht mehr ganz dieselbe wie damals, gesättigt vom Leben, nicht mehr ganz so verrückt. Wir schreiben uns noch. Ein verträumtes Achtermädchen von einst macht jetzt ihr Staatsamen. Wir schreiben uns noch. Einer wollte Lehrer werden. Dann hat er hingeschmissen, Wirtschaftsjournalismus. Wir schreiben uns noch. Meine Mediziner und ich, meine Juristinnen, Luftikusse und Lebenskünstler: Wir schreiben uns noch.
Oft geht es monatsweise hin und her, manchmal wöchentlich. Was habe ich davon? Vielfältige Studien- und Berufswelten öffnen sich mir. Zum einen sehe ich, ob mein Handeln richtig war als Lehrer - oder falsch. Ich verstehe, welcher Stoff, welche Übung, welche Fertigkeit tatsächlich einen Nutzen hat. Ich kann meine eigenen Einschätzungen überprüfen, kann Prognosen bestätigen oder verwerfen. Ich kann Beziehungen schaffen, wenn meine alten Ehemaligen bereit sind, meine jüngeren zu beraten. Zum anderen verstehe ich den Wandel der Welt ein wenig besser – und mich selbst. Manchmal kann ich vorsichtig Weisheitsperlen ausstreuen. Man darf sich nicht überschätzen dabei. Ich bin nicht Salomon, und was gestern richtig war, ist heute vielleicht falsch.
Meistens bin ich es, der die Verbindung am Leben erhält. Dazu gehört das Talent, sich nicht zu entfremden Vergangenes muss man hinter sich lassen, Wachstum ermöglichen und Nähe schaffen. Ich brauche Taktgefühl und Selbstdisziplin. Humor ist wichtig – und Leichtigkeit. Viele Ehemalige sind jung genug, um Telefongespräche zu meiden; nur mit mir haben sie ein Einsehen, und ich bin dankbar, wenn sie für mich eine Ausnahme machen. Ich kündige an, wenn ich anrufe. Aber auch dann lasse ich es nur dreimal klingeln, höchstens viermal. Ich will nicht stören. Aber wenn wir reden, dann geht es nach dem üblichen Geplänkel oft um das Leben selbst. Wir sprechen über Herausforderungen, über Erfahrungen. Über Politik und Zeitgeschichte. Wir sprechen über Heimat, Trauer und Entfremdung. Über Hass – und Liebe.
Manchmal ist Funkstille. Es geht nicht anders. Gefühle. Dann geht es weiter. Manchmal erst nach Jahren. Natürlich kommt es vor, dass jemand gar nicht mehr zurückschreibt. Darf ich nachhaken? Ja! Aber nicht zu oft. Verluste sind unumgänglich. Und es tut weh, wenn man jemanden verliert. Es schmerzt, wenn jemand, den man lange begleitet hat, einfach dicht macht. Ghosting. Aber das muss man hinnehmen. Sonst macht man sich unglücklich. Auch wenn man spürt, dass die Beziehung verflacht, verbleicht und verblasst, muss man nicht daran festhalten.
Es bleibt die Pflicht des Älteren, nicht vorschnell aufzugeben. Wer weit vorangeschritten ist im Dasein, der wird sich erinnern an die Verwirbelungen im eigenen Leben - wie man verloren ging, im Alltag, in Geschäften, zwischen Liebesglut, Meterstab und Wickelkommode. Im Strudel der Geschehnisse, typisch für das frühe Erwachsenenalter, fehlt die Zeit zur Muße – und oft die Entschlossenheit, sein Leben in langen Linien zu denken. Und noch etwas anderes muss man verstehen: dass die Welt stärker im Wandel ist als je zuvor, dass die Möglichkeiten zugenommen haben und die Entscheidungsnot. Dass Orte schneller gewechselt werden als Hemden, wie es bei Brecht heißt.
Auch, wenn sich unsere Wege nicht verlieren in unverwandten Urwäldern, auf roads not taken, wenn sie sich verschlingen und kreuzen, ein ums andre Mal im Gleichlauf sind: Irgendwann werde ich nicht mehr sein. Beerdigung, wohl! Unter den Trauergästen: Ein paar ehemalige Schüler, selbst schon ein wenig grau. Meine Lieben! Ihr braucht mir keine Rosen aufs Grab legen. Ein Strauß weißer Lilien genügt vollkommen. Und denkt dran: Nicht der Tod beendet den Unterricht, sondern das Leben.