Warum wir kommunale Archive brauchen

Am 23. Juli 1693 verlor eine Stadt ihr Gedächtnis. Winnenden brannte lichterloh, und mit der Stadt brannten Pfarrhaus und Rathaus, bis von 500 Jahren Stadtgeschichte kaum mehr etwas übrig war als Asche. Was wir heute über diese Zeit wissen, verdanken wir kümmerlichen Überresten und den seltenen Fundstücken andernorts.

Winnenden ist kein Einzelfall. Der Rachen der Zeit ist unersättlich, und vieles, was untergeht, ist für immer verloren. Ja, es stimmt: Altes muss weichen, damit wir nicht ersticken im Gerümpel aus alten Tagen. Vergessen ist notwendig, damit Neues seinen Raum findet. Aber seien wir nicht zu voreilig mit dem Entsorgen, Entrümpeln und Entleeren. Es könnte sein, dass nachfolgende Generationen wissen wollen, in welchen Zeiten ihre Zeit wurzelt. Sie brauchen ein Gedächtnis.

Das lebendige Gedächtnis einer Stadt ist ihr Archiv. Am 27. Juli 1987 gab sich Baden-Württemberg ein neues Archivgesetz, der Bund folgte ein Jahr später. Das Archivgesetz fordert zweierlei: Gemeinden sollen Archivgut verwahren und nutzbar machen. Archivgut sind die Akten der Verwaltung, die Hinterlassenschaften öffentlicher Einrichtungen. Seitdem strömt in die Archive eine Flut wichtiger und belangloser Papiere, beschrieben, gedruckt, geheftet, gebunden.

Aber eine Stadt ist mehr als Satzung und Verordnung. Sie ist, was alle Bürger an Wertvollem hervorbringen: Materielles und Immaterielles. Wir können uns nicht damit begnügen, dass Verwaltungsleute verstaubte Akten in die Hände fleißiger Archivare und Archivarinnen legen. Archive dürfen keine Rumpelkammern sein für die Amtsstuben. Das Gedächtnis der Stadt muss sich füllen mit den Erinnerungen ihrer Bürger.

Von größter Bedeutung sind Kulturgüter, die Geistiges in Stoffliches überführen und dabei das Werden der Stadt festhalten: Bücher, Gemälde, Hörspiele, Filme. Von gewisser Bedeutung sind auch Lebenszeugnisse der Bürger: Briefe, Tagebücher und andere Objekte, die vom Leben der Stadt erzählen. Wichtig ist dabei immer die Bindung zum Ort. Für Kunstwerke gibt es öffentliche Museen, für Manuskripte das Deutsche Literaturarchiv.

Dafür muss man die Archive besser ausstatten. Stadtarchivare brauchen eine feste, unbefristete Anstellung und ein ordentliches Gehalt. Stadtarchive sollten nicht ausgelagert werden in düstere Industriegebiete, sie gehören ins Herz der Stadt – immer in Verbindung mit leicht zugänglichen Ausstellungsräumen. Archive bauchen Platz: für die Verwahrung, aber auch für die Benutzung. Für die Digitalisierung ihrer Bestände brauchen sie zusätzliche Arbeitskräfte, zusätzliche Geräte.

Wichtig ist deshalb ein Wandel in der Einstellung zum Archiv – nicht nur in der Verwaltung, sondern bei allen Bewohnern der Stadt. Die Pflege des Archivs ist nicht nur die gesetzliche Aufgabe der Stadtverwaltung, es sollte eine gemeinsame Herzenssache der Bürgerinnen und Bürger sein. Wer etwas Kostbares besitzt, das mehr in sich birgt als persönliche Nostalgie, der sollte den Weg zum Stadtarchiv finden. Das verlangt nicht mehr den Heldenmut jenes Mesners, der 1693 aus der brennenden Stadtkirche die Kirchenbücher hinaustrug – jeder kann das. Oft geht verloren, was jemand als Privatsache betrachtet. Fundstücke aus Kellern und Dachböden sollten nicht im Handel landen oder auf der Halde, sondern im Archiv.

Das erfordert einen Wandel in der Wertschätzung des Archivars, der Archivarin. Ihre Aufgabe ist seit jeher herkulisch: Einlaufendes Archivgut sichten, systematisieren und sichern, tief graben und weit wirken, kommunizieren, recherchieren, publizieren. Wollen wir das Archiv zum lebendigen Gedächtnis der Stadt machen, dann brauchen die Archivare unsere Unterstützung. Als Ehrenamtliche und Zeitzeugen können wir dazu beitragen, Archivare und Archivarinnen zu entlasten. Darüber hinaus haben Archivare unsere Wertschätzung verdient. Sie sind für uns alle da – ihre oft beeindruckende Expertise nutzt uns allen.

Dazu müssen Archivarinnen unabhängig sein, frei, nicht bestimmt von den Weisungen der Stadtverwaltung und nicht dem Zugriff fremder Interessen ausgesetzt. Sie müssen in der Lage sein, dem begehrlichen Drängen der Geschichtsfälscher die Evidenz der Vergangenheit entgegenhalten. Mit dem Rückhalt des Staats und seiner Bürgerschaft müssen Archivare all jenen entgegentreten, die das gemeinsame Erbe an sich reißen und verschachern.

Doch nichts ist schlimmer als Archive, die sich abschotten. Archive sollten genutzt werden, unentgeltlich, von allen Ortsansässigen und den Bildungsträgern andernorts. Archivgut muss zugänglich sein. Es darf nicht in die Hände privater Sammler geraten, die nach Gutdünken darüber entscheiden, wer Zugang erhält. Forschung und Bildung dürfen nicht scheitern daran, dass Archivgüter unter Verschluss bleiben oder exorbitant viel kosten.

Warum sind Archive so wichtig? Haben Politiker im besten Fall die Zukunft im Blick, so erinnern uns Archive an die die Vergangenheit. Archivare sind Hüter der Wahrheit. Sie schützen uns vor Manipulation und Geschichtsfälschung. Sie bewahren Ideen für künftiges Wachstum auf, die unter den Bedingungen ihrer Zeit nicht zur Blüte kommen. Hier ist das Zentrum unserer Identität, hier laufen die Strömungen unserer Zeit und aller Zeiten zusammen. Deshalb sollte die Pflege eines kommunalen Archivs nicht saure Pflicht sein, sondern eine Herzenssache.

Wenn wir heute den Blick in Winnendens Vergangenheit richten, sehen wir unsere Stadt oft durch das Objektiv des Fotohauses Weber. Längst Zerstörtes ersteht vor unseren Augen, längst Verstorbene lächeln uns zu. Fast wären wir erblindet! Die wertvolle Sammlung war nach dem Tod des letzten Photographen in andere Hände gelangt. Eines Tages lagen sie, verstaut in Kartons, auf dem Bürgersteig, bereit für die Müllabfuhr. Einem aufmerksamen Müllwerker haben wir es zu verdanken, dass die Negative ihren Weg ins Archiv gefunden haben. So konnten die Erinnerungen an eine längst verlorene Zeit gerettet werden. Lassen wir es nicht so weit kommen – pflegen wir unser Archiv!