Eichhörnchen: Ein Essay für Französischschüler

Frankreich, unmögliches Land: mein Frankreich! Douce France! Austernschlürfen in Savoyen, Opinel im warm duftenden Käse. Lac d’Annecy, blaues Himmelsauge. La Rochelle, Duft vergilbten Tangs auf Muschelfelsen. Chartres, wo man sich im Kirchenschiff selbst gegenübersteht. Zuletzt: Paris! Je ne regrette rien.

Vielleicht sitzt ihr gerade lustlos über der Konjugation des Verbs choisir im subjonctif und fragt euch: Wozu? Vielleicht verspürt ihr schon jene tiefe Abneigung gegen jene arrogante Sprache, deren Blasiertheit euch dazu berechtigt, ihre kleinkarierte Grammatik nicht zu beherrschen. Vermutlich duften eure Cahiers genauso wenig nach Crossaints und Madeleines wie meine, vielleicht heißen eure Schulbuchfranzosen auch längst nicht mehr Pierre, René und Christine. Ich gehe davon aus, es hat sich einiges geändert.

Eines jedoch hat sich nicht geändert. Wenn man Schüler fragt, warum sie Französisch abwählen, können bestürzend viele nur eine diffuse Abneigung benennen. Die Sprache der Grand Nation - das kleinere Übel gegenüber einer anderen, unlängst verstorbenen Sprache. Aus Schülersicht ist Französisch ein Ballett aus absurden Sprüngen und Spreizungen, dessen komplexe Schrittfolge ihnen die Grammatik als strenge Zuchtmeisterin einbläut. Französisch ist eine Sprache, die vollkommen aus Regeln besteht, ein Fischbeinkorsett, das uns den Atem raubt. Französisch sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Pult, zupft sich die Bluse zurecht, sieht dich über schmale Brillengläser hinweg ironisch an. Englisch kommt in Nikes und klatscht mit dir ab.

Als Englischlehrer lässt man nur zu gern und nur zum Spaß den Hundertjährigen Krieg wieder aufflammen. Man hat es leicht dabei: Denn niemand, außer ein paar frankophilen Käselutschern, mag Französisch. Die Zukunft ist Englisch. Und ihr seid passé. Man bindet dich also an, Jeanne, Marianne, und lässt dich genüsslich schmoren auf dem Scheiterhaufen der Globalisierung. Während die Französischlehrer geharnischt in die Sümpfe eurer Lustlosigkeit reiten, federn lässig die Langbögen der Englischkollegen Pfeil um Pfeil ins Herz von Belle France. Und ich bin sicher: Noch ehe der gallische Hahn dreimal kräht, werdet auch die letzten Französischschüler ihn verraten und zu Chicken Wings verarbeitet haben.

Was wir dabei vergessen, ist die Vergangenheit, die furiose Geschichte unserer Amour fou mit dem Schwesterland, das so nah und so fern hinter dem deutschen Rhein beginnt. France, du unverständliches Land der Erregung, der Empörung: Bauern, die der Globalisierung Artischocken vor die Dampfwalze kippen. Indignez-vous! Ecrasez l’infame! J’accuse! Du schlugst deinen Herrschern Köpfe ab, während wir uns rühmten, ihre hochadligen Häupter „kühnlich“ in unsere Schöße zu betten.

Was ich über Frankreichs Literatur weiß, verdanke ich einem Freiherrn von Stackelberg und seiner französischen Literaturgeschichte. Die Verzweiflung Verlaines, und Rimbauds unbändige Wut. Der fette Balzac, kaffeesaufend. Der Boulevard: Nerval mit dem Hummer und Baudelaire, verschrumpelt, mit seiner Schildkröte. Krakeelender, melancholischer Villon, der wie ein Rabe die Galgen umflattert. Frankreich mit der feinen Eleganz seiner Pointen – das war etwas anderes als das dumpfe Dauerrauschen der deutschen Dichterwälder. Das war Mittag, Sonne, die gleißende Rationalität des Siècle de Lumière; das waren Blumen des Bösen, schwarz ummantelt von Nacht.

Lange Jahre dachte auch ich, mein Französisch sei Schnee von gestern. Zu schwer wog meine Unfähigkeit, das „s“ im Anlaut mit größtmöglicher Nonchalance stimmhaft zu sprechen. Ich war überzeugt: Französisch ist keine Sprache die so ’übsch prickelt in meine Bauchnaböll. Französisch ist Zahnweh mit zivilisatorischem Anspruch, Einlauf mit Lavendelöl. Englisch is cool und sexy. Französisch ist rigide, frigide, und irgendwie auch unsolide.

Dann wurde ein männlicher Begleitlehrer für die Drittortbegegnung gesucht. Da der französische Kollege kein Deutsch sprach, blieb mir keine Wahl – ich musste. Und: Es ging! Sieben Jahre waren nicht perdu! Man darf sagen, dass Klippen und Riesenhaie, Schutzbunker und die araignée de mer das schulbedingte Trauma geheilt haben. Zwischen Stechginster und Strandhafer wuchs jene kostbare fleur de lys, deren Duft ein anderes Frankreich wachruft. Eines, das weit weg ist von Lavendelduft und Côte d‘Azur, von Eiffelturm und Promenade. Ein Frankreich, dass in unseren Schulbüchern nicht vorkam. Das Frankreich der Bauern, der Fischer; das Frankreich der Banlieues und der Pieds noirs. Das Frankreich der Gelbwesten und diskreter Eliten, das Frankreich der traumverschwiegenen Loire, der Wölfe im Massif Central; Mélac, Sedan, Oradour-sur-Glane.

Chers élèves! Welch unverschämtes Glück, Französisch zu lernen! Seid stolz drauf. Auch wenn die Gründe, die man euch nennt, oft überholt sind – wenn ihr wollt, ist Französisch immer noch merveilleux. Eine Brücke, auf der man tanzt. Ein Duft nach Je-ne-sais-quoi. Ein Nachtcafé für’s Rendezvous mit der Unsterblichkeit. Und wenn euch doch das Ganze einmal zu viel wird, dann sagt ganz laut und gut vernehmlich:

Eich-hörn-chen!