Lyrische Spiele

Abecedarium (nach Quirinus Kuhlmann). Die Versanfänge stehen in der Reihenfolge des Alphabets.

 

Andächtig sei in Gott, alleine Gott zu ehren,

Behutsam in der Red, um Gottes Lob zu mehren,

Christmäßig überall in Worten voller Tat […]

(Quirinus Kuhlmann, Das güldene Lebens-ABC des Freitags)

Anagrammatisches Gedicht (nach Raoul Hausmann). Die Buchstaben eines Worts (Verses) bilden umgestellt das Material für die nächsten Wörter (Verse)

 

lausbumchen

baumschulen

schaumbulen […]

(Raoul Hausmann, Baumschulen)

Anakrostichon (nach Philipp von Zesen). Die Anfangsbuchstaben (-silben, -wörter) ergeben, senkrecht gelesen, einen Namen (ein Wort, einen Vers, einen Satz).

 

Kom / o Sonne meiner seelen /

Auf! Erleuchte muht und sin /

Treib aus meines hertzens hölen

Alle nacht der sünden hin:

Reuet mich doch meine schuld.

Ich / o Gott / will deiner hild.

Nach so vielen gnaden-zeichen /

Ewig! Ewig! dienste reichen.

(Philipp von Zesen)

Anapherngedicht (nach Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau). Das Schlüsselwort des Gedichts wird am Anfang jeden Verses wiederholt.

 

Mund! Der die seelen kann durch lust zusammen hetzen /

Mund! Der viel süsser ist als starcker himmels-wein /

Mund! Der du alikant des lebens schenckest ein / […]

(Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau, Auff den mund)

Chronogramm (nach Harsdörffer). Alle im Vers (Gedicht) vorkommenden römischen Zahlen (I = 1, V, U = 5, X = 10, L = 50, C = 100, D = 500, M = 1000) ergeben in ihrer Summe eine bestimmte Jahreszahl.

 

BeLIebter JUgenD ZVCht 662

Von stehen FleIß gesVCht 161

Trägt Wahrer TVgenD FrVCht 620

TrVtz Langer ZeIten FlVCht. 296

Die Auskunfft ist heurige Jahreszahl 1648.

(Georg Philip Harsdörffer)

Definitionsgedicht, akrostichisches (nach Friedrich von Logau). Die Anfangsbuchstaben eines Begriffs werden senkrecht übereinander gestellt. Jeder Buchstabe leitet einen Vers ein, der den Begriff als Ganzes oder in seinen Teilen bestimmt.

 

F rey.

R edlich.

E ehrlich.

U unverdrossen.

N amhafft.

D emütig.

(Friedrich von Logau, Kennzeichen eines rechten Freundes)

Einmaleins-Gedicht (nach Johann Wolfgang Goethe). Das Einmaleins wird reimerisch aufgearbeitet.

 

Du musst verstehn!

Aus Eins mach Zehn,

Und Zwei laß gehen,

Und drei mach gleich,

So bist du reich. […]

(Johann Wolfgang Goethe, Hexen-Einmaleins)

Einreimgedicht (nach Friedrich von Logau). Das Gedicht besteht ausschließlich aus den Reimen selbst: sie befinden sich in Spannung zum Titel.

 

Hoffahrt

Pracht

Macht

Acht.

(Friedrich von Logau)

Figura-etymologica-Gedicht (nach Friedrich Rückert). Ein Stammelement des Wortes (Basismorphem) wird in möglichst vielen Neubildungen verwendet, die zusammen im Gedicht aufscheinen.

 

Neulich deutschten auf Deutsch vier deutsche Deutschlinge deutschend / Sich überdeutschend am Deutsch, welcher der Deutscheste sey. […]

(Friedrich Rückert, Grammatische Deutschheit)

Figurengedicht (nach Justus Georg Schottelius, Christan Morgenstern u. a.). Die sichtbare Form des Gedichts ist bildhaft; dieses Bild entspricht oder widerspricht der Aussage des Gedichts.

 

Zwei Trichter wandern durch die Nacht.

Durch ihres Rumpfs verengten Schacht

          Fließt weißes Mondlicht

                Still und heiter

                    Auf ihren

                    Waldweg

                       u. s.

                        w.

(Christian Morgenstern)

Fragmenttext (nach Angelika Janz). Ein vorgebener Textauschnitt wird an den Rändern glossiert.

 

                       „Ich

                        persö nlich

                  bin mittel los

                ohne Mein ung

(Angelika Janz, Fragmenttext)

Fremdwortgedicht. Wortmaterial einer Fremdsprache wird ins Gedicht übernommen und der deutschen Lautung angenähert.

 

Reverirte Dame,

Phoenix meiner ame,

Gebt mir audientz: […].

(Anonymus)

Gedicht mit gewaltsamen Reimen (nach Johann Nestroy). Von tatsächlichen Reimen ausgehend werden zunächst nicht reimende Wörter so umgeformt, dass auch sie reimen.

 

O Knute, o Knute!

Die schwingen man tute,

Machst Wirkung sehr gute

Bei frevelndem Mute.

(Johann Nestroy)

Gedicht mit identischem Reim (nach Heinrich Seidel). Das Gedicht verdoppelt den Reimklang entweder schlagreimend am Versende und / oder von Vers zu Vers.

 

Ich kann dir nicht, was andre schenken, schenken

Und nicht die Welt aus den Gelenkenlenken. […]

(Heinrich Seidel: Begnüge dich, Liebste!)

In leisen und im lauten Spiel

Ertöne süß mein Lautenspiel, […]

(Heinrich Seidel: An meine Laute)

Gedicht mit multiplen Leserichtungen. Das Gedicht kann von mehreren Seiten aus beginnen: oft ergeben sich je nachdem, ob es von oben nach unten oder umgekehrt, ob es von rechts nach links oder von links nach rechts gelesen wird, unterschiedliche Lesarten,

 

Ich sage gänzlich ab      Der Römer Lehr und Leben

Luthero bis ins Grab       Will ich mich ganz ergeben

Ich lache und verspott’   die Mess und Ohrenbeicht

Lutheri sein Gebot      ist mir ganz sanft und leicht

Ich hasse mehr und mehr      all, die das Papsttum lieben

Der Lutheraner Lehr       hab’ ich ins Herz geschrieben

Bei mir hat kein Bestand       ein’ römisch Priesterschaft

Was Luther ist verwandt       lob ich mit aller Kraft

Wer Lutherisch verstirbt       das Himmelreich soll erben

In Ewigkeit verdirbt        wer römisch bleibt im Sterben.

Waagrecht gelesen, sagt’s ein Protestant, senkrecht ein Katholik.

(Anonymus)

Gedicht nach vorgegebenen Reimen. Reime werden zuvor ausgehandelt, metrisch stimmige Verse werden ergänzt.

 

Ach feßle mich nur nicht erst – wieder /

Vollkommne görrin / schönstes – kind /

Weil hertz und sinnen / und die – glieder

(Anoynm)

Insertionsgedicht (nach Ernst Jandl). Gegebene Texte werden durch das systematische Hinzunehmen zusätzlicher Konsonanten oder Vokale (oder Silben) verändert.

 

him hanfang war das wort hund das wort war bei

gott hund gott war das wort hist fleisch […]

(Ernst Jandl, fortschreitende räude)

Instrumentengedicht. Das Gedicht versucht das Tönen eines Musikinstruments klanglich nachzubilden.

 

A Herr verscho o o ne mich,

Jesus Maria a a […]

(Anonymus, Trompeterstückchen)

Kenningar-Gedicht (nach Hans Assmann von Abschatz). Die ersten Verse bestehen allein aus Kenningar (Umschreibende Namen für ein Lebewesen oder eine Sache: Wogenross = Schiff), die Pointe wird in üblicher Verssprache dargeboten.

 

Wind-Fänger / Steige-Dach / Teich-Meßer / Enten-Fechter /

Lufft-Springer / Wage-Hals; Grund-Fischer / Flutt-Verächter / […]

Diß war mein wahrer Ruhm; doch werden die mich missen /

Noch mehr von kluger Treu mir nachzusagen wissen. […]

(Hans Assmann von Abschatz, Bellhumor im Garten begraben: gemeint ist ein Hund!)

Kettenreim (nach Catharina Regina von Greiffenberg). Anfangsreim, Mittenreim und Endreim werden nach folgendem Muster verflochten: a b a / c b c / d e d …).

 

Streitet mit dem Laster-Hauff; dapffern Sieger ist bereitet

Ehre nach vollendtem Lauff / die kein Vnglück mehr verstöhre

(Catharina Regina von Greiffenberg)

Kompositionsgedicht (nach Paul Klee). Wortbestandteile werden miteinander komponiert, sodass aus zwei nicht sinnverwandten Wörtern zusammengesetzte Wörter entstehen. 

 

Elephantastisch

Mammutig

Marabulistisch […]

(Paul Klee)

Lapsus-Gedicht. Grammatische Fehler (besonders im Bereich der Partikelverben) werden mutwillig durchgespielt und öffnen den Zugang zu neuen Sinnfeldern vertrauter Wörter.

 

Dann schlagen rat wir mit den Frauen

Wohin wir fahren wall für heut,

So wandelnd lust durch Wies und Auen

Wir winden über stets die Zeit.

(Anonymus, Der Ausländer)

Lautgedicht (nach Christian Morgenstern, Hugo Ball u. a.). Das Gedicht besteht allein aus sinnfreien Silben, die nach klanglichen Gesichtspunkten montiert sind – im Ganzen kann das Gedicht jedoch durchaus auf eine vorstellbare Situation aufbauen.

 

Kar! Kar! Kar!

broxak! broxak!

Kalakaka! Kralkaka!

(Christian Morgenstern, Liebeserklärung des Raben Ralf an die Räbin Louise Broxak)

Letterhäufelung (nach Philip Harsdörffer). Ein Gedicht in frei zu wählender Form soll einen Konsonanten (Vokal) so häufig wie nur möglich enthalten.

 

Es wallt das Fluhtgelall / die schnellen Wellen schwellen

(Georg Philipp Harsdörffer)

Letterngedicht (nach Clemens Brentano). Das Gedicht bietet Vokale und Konsonanten dar und versucht sie mit Wortbelegen auf eine Grundbedeutung zurückzuführen (u = Gruft = Traurigkeit); mitunter gibt auch die Form des Buchstabens den Ausschlag.

 

In dem A den Schall zu suchen,

In dem E der Rede Wonne,

In dem I der Stimme Wurzel,

In dem O des Tones Odem, //

In dem U des Mutes Fluchen, […]

(Clemens Brentano, Aus: IX. Romanze)

Logogryph (nach Friedrich Haug, Adolf Glassbrenner, Karl Kraus u. a.). Kurzgedicht, dessen Lösung in den Versen selbst verborgen liegt und durch aufmerksames Lesen gefunden werden soll.

 

Ihr findet von allen Käsen

Die trefflichsten wohl in mir.

Nur findet ihr in diesen Ihr

Mich ungern, rückwärts gelesen.

(Friedrich Haug, Logogriph: Edam-Made)

Metaplastisches Gedicht (nach Johann Caspar Schade). Die Wortstellung des Gedichts wird in von Vers zu Vers geändert, das Wortmaterial jedoch wird beibehalten (allein die Interpunktion darf ausgetauscht werden).. 

 

GOTT / du bist mein GOTT.

Bistu mein GOtt?

Gott du bist mein.

Du Gott bist mein.

Mein GOTT bist DU.

(Johann Caspar Schade)

Neologismengedicht (nach August Stramm). Bekannte Stammwörter werden durch Derivation (Ableitung) und Affigierung in neue Wortformen überführt. Typisch sind auch ungewohnte Pluralformen, Änderungen des Genus und der Rektion.

 

Tage sargern

Welten Gräbwern

Nächte ragen

Blute bäumen […]

(August Stramm, Schrei)

Paronomasie-Gedicht (nach Harsdörffer). Das Gedicht enthält zahlreiche Wörter, bei denen lediglich die Vokale ausgetauscht werden (Gast – Geist…). Homophone (gleichlautende) Wörter kommen hinzu (Leere – Lehre).

 

Das Lernen ohne Lust / ist eine läreLast /

Dann Lehre wird durch Geist und Lieb ein lieber Gast.

(Georg Philipp Harsdörffer, Lernen)

Phonetisches Gedicht (nach A. de Nora). Das Gedicht enthält überwiegend oder ausschließlich einen Vokal – vergleichbar dem bekannten Kinderlied um die „Drei Chinesen mit dem Kontrabaß“. Eine Variante: das Gedicht verschiebt die Vokale systematisch in eine Richtung (Rundung, Entrundung).

 

Wöhe! Wöh! Der Himmel hörte,

Was man seunem Zöntrim tat!

(A. de Nora, !!Mönö-tökel!!)

Rebus. Wortbestandteile oder ganze Wörter werden durch bildliche Zeichen oder durch Zeichen anderer Codes (Zahlen) ersetzt.

 

Ihr sollt stets 1 sein

Ihr sollt euch nie ent 2 en

Ihr sollt euch stets 3 bleiben […]

(Anonymus) 

Reimsilbengedicht (nach Oswald Wiener). Das Gedicht besteht ausschließlich aus Reimsilben.

 

Buntbuntbuntbunt

Mund

Buntbuntbunt […]

(Oswald Wiener)

Restriktives Gedicht (nach Barthold Heinrich Brockes, Friederike Kempner). Bestimmte Vokale und Konsonanten (häufig <r>) werden im Gedicht vermieden.

 

Wie viel Licht im Sonnenball,

Wie viel Staub im Weltenall,

Wie viel Staub und wie viel Sand

Gibt’s nicht schon im Heimatland! […]

(Friederike Kempner, Gedichte ohne r)

Rondel (nach Georg Trakl). Gedichtform, bei der sich das Gedicht an einem mittleren Vers spiegelt, nach dem Reimschema a-b-b-b-a.

 

Verflossen ist das Gold der Tage,

Des Abends braun und blaue Farben:

Des Hirten sanfte Flöten starben

Des Abends blau und braune Farben

Verflossen ist das Gold der Tage.

(Georg Trakl, Rondel)

Schlagreimgedicht (nach Friedrich von Logau). Die letzten Worte jedes Verses reimen sich mit dem vorherigen Wort desselben Verses und mit dem letzten Wort des folgenden Verses. Dabei sind Reimwort und Binnenreim jeweils getauscht.

 

Vormals ward auß pflügenkriegen;

Nunmehr wird auß kriegenpflügen.

(Friedrich von Logau, Enderung der Zeit)

SpatialesGedicht (nach Daniel Czepko von Reigersfeld). Die Wörter eines Gedichts sind so verteilt, dass mehrere Leserichtungen möglich sind.

 

                            α und ω

                     Anfang        Ende

                                 im

                     Ende           Anfang

(Daniel Czepko von Reigersfeld, Sexcenta monodistichum sapientum)

Spiegelgedicht (nach Friederike Kempner). Ein (oft zweistrophiges Gedicht) wird an einer waagrechten Achse gespiegelt, sodass sich die Verse in umgekehrter Reihenfolge wiederholen.

 

Die Nachtigall schlägt,

Der Frühling ist da,

Das Herz ist bewegt,

Die Freude ist nah!

Die Freude ist nah,

Das Herz ist bewegt,

Der Frühling ist da,

Die Nachtigall schlägt.

(Friederike Kempner, Die Nachtigall schlägt)

Sprichwortgedicht (nach Hans Reimann). Sprichwörter werden umgeformt und neu interpretiert.

 

Heiterkeit ist ein gut Ding.

Gut Ding will Weile haben. […]

Weile will keine Eile haben.

(Hans Reimann, Betrachtung)

Stabreimgedicht (nach Angelika von Marquardt). Jedes Wort des Gedichts (der Strophe, des Verses) beginnt mit dem gleichen Anlaut.

 

Trau, treue Trine, trüglich trüben Träumen nicht,

treib trotzig triumphierend weg das Traumgesicht,

trockne die Tränen tragischen Trübsals tröpfelnd auf,

trink trauten Traubentrankes Trostestropfen drauf.

(Angelika von Marquardt)

Typographisches Gedicht (nach Sigrid Behrens). Das Gedicht erscheint je nachdem, welche Typen (kursiv, dick, Schriftgröße) man berücksichtigt, in unterschiedlichen Lesarten.

 

Und jetzt all dies sammeln

          versammeln all das und

Ein Hut füllen als […]

(Sigrid Behrens, Plakatgedicht)

Wechselsatz (nach Harsdörffer). Bis auf das erste Wort und den Reim sind alle Wörter des Kurzgedichts versetzbar.

 

Auf Angst / Noht / Leid / Haß / Schmach / Spott / Krieg / Sturm / Furcht / Streit / Müh’ / und Fleiß

folgt Lust / Raht / Trost / Gunst / Ruhm / Lob / Sieg / Ruh / Mut / Nutz / Lohn / und Preiß.

(Georg Philip Harsdörffer)

Zweifachreimgedicht (nach Philipp von Zesen). Endreim und Anfangsreim sind in Kurzversen kombiniert.

 

Glimmert ihr sterne /

Schimmert von ferne /

(Philipp von Zesen, Meien-lied)