Entwickeln einer Deutungshypothese

Eine Deutungshypothese zu einem Text ist der Versuch, auf der Grundlage des Texts und seines Kontexts zu einer schlüssigen Deutung zu kommen. Da Kunstwerke in der Regel offen sind, gibt es meist konkurrierende Deutungen. Eine Interpretation lässt sich nicht abschließend verifizieren (als richtig beweisen) oder falsifizieren (als ungültig beweisen), sie ist aber dennoch nicht beliebig. Letztlich wird sich der Leser für die Hypothese entscheiden, für die es die überzeugendsten Gründe gibt. Folgende Argumente werden üblicherweise verwendet (Erläuterungen zu Günter Kunerts „Zentralbahnhof“):

1. BIOGRAPHISCHE INDIZIEN: Die Hypothese lässt sich aus der Biographie des Autors ableiten.

 

Ein Autor, der selbst erlebt hat, was Diskriminierung bedeutet, wird darüber in aller Regel anders schreiben als ein nicht selbst Betroffener. Es ist zu erwarten, dass sich diese Erfahrungen auf den Text auswirken. Kunert ist 1929 geboren und zudem der Sohn einer jüdischen Mutter –es liegt also nahe, dass sich Kunert auch in „Zentralbahnhof“ mit dem Holocaust befasst. 

2. ZEITGESCHICHTLICHE BELEGE: Sie steht in Einklang mit der allgemeinen Chronologie und der Entstehungszeit des Texts.

 

 

Eisenbahnzüge können nur als Holocaustsymbol (Transport in die Vernichtungslager) gedeutet werden, wenn der Text nach dem historischen Zeitpunkt des ersten Transports verfasst wurde.

3. KEINE WIDERLEGBARKEIT: Der Deutungsansatz ist nicht aus dem Text heraus widerlegbar.

Die Behauptung, es würde Gewalt eingesetzt, damit der „Jedermann“ an den „Zentralbahnhof“ komme, ist fragwürdig. Im Text wird deutlich, dass der Protagonist der Ladung aus freiem Willen folgt.

4. BELEGBARKEIT: Die Hypothese widerspricht sich nicht selbst und kann am Text belegt werden.

Dass die Zahl 18 im Text für die Buchstabenkombination AH steht und damit auf Hitler hindeutet, ist aufgrund weiterer Indizien im Text schlüssiger, als in der Zahl eine Anspielung auf das Ende des Ersten Weltkriegs im Jahre 1918 zu sehen.

5. ÖKONOMIE: Es sind möglichst wenige Zusatzannahmen nötig, um zu dieser These zu kommen.

Die Annahme, der „Jedermann“ sei erschossen worden, bedarf zahlreicher stützender Argumente – etwa des Nachweises, dass es im Text einen Hinweis auf eine Schusswaffe gibt.

6. TEXTSORTENTREUE: Die Interpretationshypothese steht im Einklang mit den Konventionen der Textsorte.

 

Parabolische Kurzgeschichten (zumindest der 50er und 60er des 20. Jh.s) befassen sich auffallend oft mit den Nachwirkungen des Dritten Reichs (vgl. Borchert: Nachts schlafen die Ratten doch).

7. QUELLENBELEG: Sie lässt sich durch Äußerungen des Autor oder seines Kreises belegen.

 

Mögliche Quellen sind Interviews, Tagebücher oder der einschlägige Briefwechsel des Autors. Fraglich ist jedoch, ob der Autor über die Gültigkeit einer bestimmten Deutung zu entscheiden hat.

8. FORSCHUNGSBELEG: Maßgebliche Vertreter der einschlägigen Forschung vertreten dieselbe Meinung.

Eine Expertenmeinung stützt sich in der Regel auf umfassende Textvergleiche und philologische Studien zum Autor, zu seiner Zeit, zur Gattung und zur Epoche.

9. STRUKTURELLE BELEGE: Die Hypothese entspricht der rhetorischen Absicht, die den Text prägt.

Die Zahl „18“ wird im Text dreimal erwähnt. Eine solche Häufung wäre nicht zu erwarten, wenn die Zahl lediglich zur Illustration der Erzählung gedacht wäre.

10. PLAUSIBILITÄT FÜR DAS ZIELPUBLIKUM: Sie stellt die für das Publikum plausibelste Hypothese dar.

Das typische Publikum einer Kurzgeschichte ist mit dem Thema Holocaust befasst und wird einschlägige Signale als Hinweis darauf beziehen. Solche Leser erwarten jedoch keine offene, sondern eine verdeckte Problematisierung.

11. GLOBALE RICHTIGKEIT: Sie erfasst zutreffend den gesamten Text, geht nicht von einzelnen Textstellen aus.

Es ist nicht statthaft, das Wort „Eingabe“ als Schlüssel zu verwenden, um die Handlung des Texts in die DDR zu verlegen. Es mangelt nicht an Textbezügen, die sich nicht in eine DDR-kritische Deutung einfügen lassen.

12. UNMITTELBARE EVIDENZ: Sie stützt sich auf die allgemeine Lebenserfahrung.

Wenn ein Leichnam entsorgt werden soll, ist die übliche Methode das Verbrennen. Steigt im Text also Rauch auf, ist dies als Hinweis auf die Verbrennung des „Jedermann“ zu sehen.

13. TRADITIONSBELEG: Sie fügt sich in eine Deutungstradition ein oder entspricht der Motivik verwandter Texte.

Von Gebäuden aufsteigender Rauch ist nach 1945 ein konventionelles Symbol für die Leichenverbrennung in den Vernichtungslagern, etwa auch bei Paul Celan (Todesfuge: „dann steigt ihr als Rauch in die Luft“, IV, 7).