Anastasius Grün besucht Lenau

Anastasius Grün (d. i. Anton Alexander Graf von Auersperg)

Der anonym erschienene Gedichtband Spaziergänge eines Wiener Poeten von 1831 erregt gehöriges Aufsehen und macht Anton Alexander Graf von Auerspergs Lyrik über Österreichs Grenzen hinaus bekannt. Künftige Werke erscheinen unter Auerspergs Pseudonym Anastasius Grün. Immer wieder stichelt Grün gegen Metternichs Zensur und den Klerikalismus, durch seine Grafschaft Thurn am Hart indessen gut abgesichert. Erst 1838 fliegt der Verfasser der Spaziergänge auf – und Metternich verbietet ihm weiteres Politisieren. In Wiens Kaffeehäusern, wo er die Prominenz der Wiener Literatur kennenlernt, ist der streitbare Adelige nicht nur ein gern gesehener Gast. In Deutschland, wo viele seiner Werke zuerst erschienen sind, wird Grün heute kaum gelesen. Für die slowenische Literatur hatte der gebürtige Laibacher einige Bedeutung, trotz seiner zwiespältigen Haltung zu den Slowenen - durch die Herausgabe der Volkslieder aus Krain, aus dem Slowenischen übersetzt (Leipzig: Weidmann, 1850). Seine Nähe zum Vormärz hat Auersperg politisch nicht geschadet: Ab 1848 vertritt er Laibach im Paulskirchenparlament. Vielfach geehrt, als Literat und Staatsmann, stirbt Auersperg 1876 in Graz.

Bild: Carl Meyer: Anton Alexander von Auersperg, 1835, Lithographie

Zum Text

Winnenthal
 
Welch Wiedersehn! Zerstörung und Entsetzen!
Ein prächt’ger Vollmondhimmel war dein Träumen;
Jetzt prasseln Sterne, fallend, in den Räumen,
Durchras't von Blitzesknäueln, Wolkenfetzen.
 
Ich beb’ – und soll vielleicht dich glücklich schätzen!
Krankheit vielleicht ist höhern Lebens Schäumen.
Wir sehn das schwarze Zauberroß sich bäumen,
Wild reißt es aus, gespornt, in scheuen Sätzen.
 
Ein kühner Reiter ohne Zaum und Decken,
Sprengst du dahin durch ungemessne Weiten
Und wirfst uns zu im Flug gepflückte Sterne.
 
Gelähmt ist die Bewund’rung uns vom Schrecken;
Dem Auge, das noch zagt dich zu begleiten,
Verschwand dein Flug im Nebelgrau der Ferne.

Kontext und Kommentar

Grüns Sonett Winnenthal stammt aus dem nachträglich zusammengestellten Zyklus „An Lenau“ und dürfte kurz nach dem Besuch Grüns bei Lenau in Winnenden entstanden sein. Die Begegnung mit dem Kranken, dessen Zustand auch Bauernfeld wenige Tage zuvor schildert, scheint auch Grün verstört zu haben. In gedrängten Ellipsen bekundet das lyrische Ich „Zerstörung und Entsetzen“ (Z. 1). Spätromantische Dichter- und Melancholiesymbole werden umgedeutet und liefern die Metaphern für Wahn und Raserei: Was eben noch„[e]in prächt’ger Vollmondhimmel“ war, sind nun leere Räume, „[d]urchras’t von Blitzesknäueln, Wolkenfetzen“ (Z. 4). In fünfhebigen Jamben entwirft der Text das Bild eines Besessenen mit krampfartigen Ausbrüchen, dessen unkontrollierte Gedankenflucht noch als genialischer Dichtungsakt gedeutet wird („Und wirfst uns zu im Flug gepflückte Sterne“ (Z. 11). Die Pronomen jedoch verraten, was der Text metaphernreich verhüllt: Der Kranke ist ein vereinzelter Reiter „im Nebelgrau der Ferne“ (Z. 14), den seine Umgebung („Wir“, Z. 11) nicht mehr fassen kann.

Bild: Zimmer, G.: Heilanstalt Winnenthal (Detail), um 1845, Lithographie; Württembergische Landesbibliothek, Signatur: Schef.qt.11274a

Bezug zu Winnenden

Auerspergs Bezug zu Winnenden beschränkt sich auf den Kontakt zu Lenau und dessen Umkreis nach Lenaus Erkrankung. Lenau hatte den um vier Jahre jüngeren Auersperg 1823 nach dem Abbruch des Landwirtschaftsstudiums in Wien kennengelernt. Beide verkehren im Kreis der Literaten des „Neuner“, zu denen auch Grillparzer, Bauernfeld und Raimund gehören. Eine innige Freundschaft entwickelt sich. Noch 1850, in Lenaus Todesjahr, widmet Grün ihm den Pfaff vom Kahlenberg. Von Lenaus Erkrankung erfährt Auersperg über drei Ecken. Auersperg, der Lenau dank seiner slowenischen Güter auch finanziell unterstützen kann, ist beunruhigt. Auf der Durchreise ergibt sich 1845 die Möglichkeit zu einem Besuch in Winnenden. Am 13. August 1845, an Lenaus Geburtstag, schreibt Auersperg aus Stuttgart: „Heute vormittags war ich bei dem armen Lenau in Winnenthal“. Der Besuch, den Lenaus Freund in seiner biographischen Skizze zur vierbändigen Werkausgabe zusammenfasst, ließ nicht nur Auersperg ratlos zurück. Der Kranke fällt ihm weinend um den Hals, später improvisiert er auf der Violine, allein, das Spiel mündet jedoch „allmählig in wilde Absprünge“ (Grün, S. 81). Lenau spricht Latein und – ungewöhnlich für ihn – ein Deutsch mit starkem ungarischem Akzent. Man spürt Grüns Entsetzen, wenn er schreibt: „Irrereden, Lärmen und unheimliches Lachen schnitt die Dauer dieser Besuche bald ab“ (Grün, S. 82).

Bald gibt es wieder Anlass zu Hoffnung, die sich jedoch als trügerisch erweist. Am 24.4.1845 erscheint in Cottas „Morgenblatt“, redigiert von Gustav Pfitzer, ein „ganz in Stimmung, Ton und Reimweise Lenau’s gehaltenes Gedicht“. Beflügelt durch die vermeintlichen Aussichten auf Besserung schreibt Auersperg drei Sonette, die er zum Abdruck in den „Sonntagsblättern“ übersendet. Das erste Sonett lenkt zurück zur Erinnerung – es thematisiert den Moment, in dem Grün von Lenaus Erkrankung erfährt. Die Nachricht gleicht einem Blitzschlag, Lenau erscheint als Prometheus am Kaukasus: „Als wettergleich fernher ertönt die Kunde, / Daß du geschmiedet an den Fels der Leiden“. Das zweite Sonett („Es kam der Herbst. Zu jedem Sonnenstrahle“) widmet sich Lenaus Genesung: Die Segnungen der Jahreszeiten lenkt das lyrische Ich auf den erkrankten Freund. Das dritte Sonett („O hört’ ein Lied ich deinem Mund entklingen!“) stellt die Bedeutung der Melancholie für das Dichten heraus. Grün versammelt Symbole für Lenaus Schwermut: Lerchen mit schwarzem Gefieder, dunkle Tannen, der Totenkopffalter, die Passionsblume. Allerdings stellt sich bald heraus, dass es Lenau unverändert schlecht geht. Erst in einem Brief vom 18.12.1854 stellt Pfitzer die Sache richtig, nachdem Grün die Affäre als Irreführung interpretiert hat. Das Sonett stamme, so Pfitzer, von einem gewissen Hermann Eytel, es handle sich um eine bedauerliche Verwechslung.

Im Dezember 1846 erwägt Anastasius Grün einen erneuten Besuch bei Lenau, von dem Zeller jedoch abrät. Bauernfeld zitiert aus einem Brief: „Von Lenau habe ich Nachrichten, leider nur traurige.“ Zeller habe ihm in einem achtseitigen Brief wissen lassen, dass er den Besuch Karl Mayers habe abwarten wollen, der Lenaus Stimmung nur kurz aufgehellt habe. Danach sei Lenau in „tiefe Melancholie“ versunken, „die jetzt sein vorherrschender Zustand“ (Bauernfeld, 381). Zeller macht zwar Hoffnung auf eine Besserung von Lenaus Verfassung, Grün scheint aber wenig überzeugt: „Ich gestehe, daß ich leider keine Hoffnung mehr habe, auch keine mehr hatte, seit ich ihn gesehen.“ Zwischenzeitlich wird Lenau in die Pflegestätte des Dr. Görgen in Oberdöbling bei Wien verlegt. Beim letzten Besuch trifft Grün in Begleitung Bauernfelds auf einen kaum mehr ansprechbaren Lenau, dessen Zustand deutliche Anzeichen der Spätfolgen einer Syphilis-Infektion zeigt.

Bibliographie

  • Nikolaus, Lenau: Sämmtliche Werke, hrsg. v. Anastasius Grün. Stuttgart: Cotta, 1855, 1874 (2. Aufl.), darin insbesondere: Lebengeschichtliche Unmrisse
  • Hochwart-Frankl, Bruno (Hg.): Briefwechsel zwischen Anastasius Grün und Ludwig August Frankl(1845-1876). Berlin, Concordia Deutsche Verlags-Anstalt, 1897
  • Bauernfeld, Eduard: Gesammelte Schriften, Bd. 12: Aus Alt- und Neu-Wien. Wien: Braumüller, 1873