Poetik

Reisen in der Literatur

Gattungspoetik

  • Reisebericht und Historiographie. Tomaso Garzoni in seiner Piazza universale (Venedig, 1578) und Jean Bodin in seinem Methodus, ad facilem historiarum cognitionem (Paris, 1566) ordnen Entdeckerberichte der Geschichtsschreibung zu. (Neuber, W.: Zur Gattungspoetik des Reiseberichts. In: Brenner 1989, S. 50 ff.).
  • Reisebericht und schöne Literatur. Nach der Aufwertung des poetischen Gebildes gegen Sachtexte werden Reiseberichte dem darstellenden (expositorischen) Genre zugerechnet. Ist die Richtigkeit eines Reiseberichts überprüfbar, entfällt der Zwang, das Erzählte glaubhaft zu machen; die Aufspaltung in "fiktive" (literarische) und "faktische" (expositorische) Reiseberichte ist vollzogen. Vom Reisebericht im engeren Sinne (Unterstellung, das Geschilderte sei wahr) unterscheiden sich Reisenovelle, Reiseroman und Reisetagebuch (Absehen von der Wahrheit des Geschilderten).
  • Reisebericht und Sprache. Weltbilder sind individuell konstruiert, der fiktionale und der faktische Text bieten gleichermaßen Weltbilder an und sind sprachlich nicht zu unterscheiden - diese Anschauung löst die Gattungsgrenzen auf, "wahr" und "falsch" verschränken sich. Es wird nun nicht mehr zwischen "wahren" und "erfundenen" Dingen und Begebenheiten gefragt, sondern allein nach der Art der Mitteilung dieser Sachverhalte.

Formen selbständiger Reiseschilderungen

  • Reisebericht. Der Erzähler, durchgängig ein Ich- oder Wir-Erzähler, stellt den Verlauf der Reise und die Reiseziele möglichst vollständig, möglichst genau und in zeitlicher Folge dar. Oft unterliegt die Darstellung der Gegenstände einem übergeordneten Beschreibungsziel.
  • Reisetagebuch. Der Erzähler, ein Ich-Erzähler, hält in streng zeitlicher oder freier Folge seine Eindrücke der Reise fest. Er versieht die Aufzeichnungen mit Datum und Ort.
  • Reiseskizzen. Der Erzähler schildert als faktisch verstandene Eindrücke der Reise, ohne auf eine zeitliche Abfolge der Begebenheiten Wert zu legen. Nicht die umfassende Darstellung der Reiseziele steht im Vordergrund, sondern das prägnante Feststellen von Einzelzügen.
  • Reisebilder. Der Erzähler fasst seine Erzählungen als Bilder der Vorstellung. Dargestellt wird also vorrangig das Sichtbare in klar umgrenztem Rahmen.
  • Reisereportage. Der Erzähler berichtet mit deutlichem Leserbezug von den faktischen (vor allem politischen und sozialen) Gegebenheiten vor Ort. In der Regel tritt kein expliziter Ich-Erzähler auf.
  • Reiseerzählung. Der Erzähler erzählt aus dem Verlauf einer Reise. Die Reiseerzählung ist im Vergleich zur Reisenovelle keinem durchgängigen Motiv zugeordnet und im Vergleich zum Roman einsträngig und auf ein zentrales Eregnis bezogen.
  • Reisenovelle. Der Erzähler erzählt aus dem Verlauf einer Reise. Er bezieht sich dabei auf ein durchgehaltenes Motiv, das ein zentrales, oft den Handlungsgang radikal änderndes Ereignis andeutet.
  • Reiseroman. Der Erzähler berichtet in mehrsträngiger, figuren-, motiv- und themenreicher Erzählweise aus dem Verlauf einer Reise.
  • Reisegedicht. Ein Sprecher stellt Eindrücke aus dem Verlauf einer Reise dar. Rhythmik und Bildlichkeit überlagern oder ergänzen die oft auf Einzelbeobachtungen beschränkte Darstellung des Reiseverlaufs.

Die Wahrhaftigkeit des Reiseberichts: Gründe für Zweifel

  • Die ausschmückende Erzählung von Reisen mag dem Bedürfnis der Verfasser entspringen, sich und das Erlebte aus dem Alltäglichen, insbesondere aber aus der Vielzahl anderer Reiseerzählungen deutlich abzuheben.
  • Die Mehrzahl der Leser kann die Angaben eines reisenden Verfassers nicht überprüfen; Zweifel unterliegen dem Pakt, das im Zweifelsfall der Erzähler um der Folgerichtigkeit der Erzählung willen recht behält.
  • Je farbiger, je greller und spannender sich ein Reisebericht liest, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass er ein breites Publikum erreicht, dass er verkauft wird.
  • Fremde Reiseberichte, die ihrerseits teilweise oder gänzlich erlogen sind, werden als Steinbrüche der eigenen Erzählung ausgewertet: diese Spolien (Beutestücke) werden in den Bau der eigenen Erzählung eingefügt.
  • Der Verfasser ist dem Ansturm der fremden Bilder nicht gewachsen und verfällt ins Fabulieren; andererseits kann auch ein ernstgemeinter Deutungsversuch von besser Unterrichteten für eine literarische Lüge gehalten werden.

Chronikalische Struktur des Reiseberichts

Vor der Abreise

Reiseanlass, Beschaffung der Mittel, Reisevorbereitungen, Streckenplanung

Auf der Reise

Reisegesellschaft, Stationen der Reise (Orte und Handlungen)

Nach der Rückkehr

Dokumentation der Ergebnisse, Verarbeitung der Reise